Blogtexte2022_1-Halbjahr

22.06.2022 Aufrufe

Was hast du schondavon?Apr 16, 2022Im Keller war einBuch mit jüdischenWitzen. Das müsstevon meinem Opagewesen sein. Bei derEntrümpelung kam esvermutlich mit anderenSachen in den Müll und ist inzwischenverloren gegangen. Ich erinnere dies: EinSohn klagt seinem Vater, nur mit Fräulein S.könne er glücklich werden. Der aber antwortet:„Glück, was hast du schon davon?“ Vielleichtirre ich mich, und es war keine Zoteaus Großvaters Sammlung. Gut möglich, dassdieser Witz in einem Buch von Watzlawickzitiert wird und ich die Geschichte daherkenne. Manches erinnert man ungefähr.Genauso eine Anekdote von einem Lehrer,der Schülern zu Aufgabe macht, Texte aufdas Wesentliche zusammenzukürzen. Dakann es sein, dass ich das bei Böll gelesenhabe oder wiederum mein Opa es selbsterlebte. Dann wäre es eine wahre Geschichteund steht nicht irgendwo im Roman. DerLehrer gab ihnen Hitler-Reden, die musstensie straffen, um das Kürzen von Texten zulernen. Wenig blieb nach, wenn der Gröfazschrie. Inhaltlich dürr ist möglicherweiseauch „Mein Kampf“; deswegen fand ichunten gleich zwei Exemplare? Meine Elternhatten ausgemusterte Bücher in verschiedenenRegalen untergebracht. Neben denbeiden Hitlerbüchern stand die dicke Bibelvon Oma Lina (in altdeutscher Schrift). Diewirkte womöglich ausgleichend auf denNazischeiß. Alles wurde weggeworfen. UnserHaus ist verkauft. Keine Ahnung, wie dieseRäume heute genutzt werden.Der Witz macht Sinn. Nicht, weil hierangedeutet würde, den Juden ginge es umsGeld. Es geht auch nichtjüdischen Elterndarum, Einfluss auszuüben, wenn die Kindererwachsen werden. Wir dürften selbstkritischbemerken, dass die Wahl, jemanden zu lieben,nur scheinbar eine freie Entscheidungist. Dazu kommt, dass erst etwas daraus wird,wenn beide einander lieben und das Ganzekein Luftschloss ist; die nicht erwiderteAnbetung. Manche haben es leicht. EinigeMenschen werden stärker begehrt als andereund können wählen. Viele wählen nicht.Sie nehmen, was übrig bleibt und reden dieVerbindung schön. Nicht wenige Menschenbleiben schon deswegen zusammen, weilihnen klar ist, nach einer Trennung alleinbleiben zu müssen. Sie haben keinerlei Vertrauenin ihre Ausstrahlung, glauben nichtdaran, sich neu verlieben zu können odernoch einmal ein Gegenüber zu treffen, dassie attraktiv findet und umgekehrt die glücklichegemeinsame Zukunft bedeuten könnte.Diese Menschen haben wenig Auswahl, ihrGlück zu gestalten und stehen sich womöglichselbst im Weg, ohne davon zu wissen.Anderen die Attraktivität zu neiden oder derGedanke, jetzt sei es zuspät für einen Neuanfang,könnte verbreitetesGrübeln sein.Das Verlieben beginntzur Schulzeit. Im Alterder Pubertät denkt manweniger in Ewigkeiten.Wenn sich Dreißigjährigeverlieben, schon. EineEwigkeit heißt die Dauerdes Zusammenseins mitHochzeit, Kind und Hauszu füllen und zu wissen,dass es Großeltern gebenwird, schließlich derenAbleben geschieht undwir selbst alte Leute werden.Glücklich zusammenbis zum Tod irgendwann.Und die ganze Zeit passieren diese Dingewie Familie, Karriere, das Zusammenhaltenin guten und schlechten Zeiten. Das ist eintypischer Wunsch des zivilisierten Zeitgenossenund seiner Liebsten, die symmetrischempfinden möge.Die Menschen lassen sich nicht beirren,an diesem Traum festzuhalten, obwohlderartige Dinge nur selten wahr werden.Viele gehen die Hochzeit im mittleren Alterbeherzt mit einer großen Feier an. Rechtjunge Leute heiraten nicht so oft. Wir probierendas Leben erst einmal aus. Eine guteSache, ganz bestimmt ein gesellschaftlicherFortschritt. Grundsätzliche Probleme sindaber geblieben. Ich meine die Fehleinschätzung,worauf wir uns einlassen – nicht nurdie Schwierigkeit, eine kleine Ewigkeit wieim Märchen hinzubekommen – sondern denfalschen Partner zu lieben. Nach einiger Zeitwerden ziemliche Macken deutlich, die sonicht absehbar gewesen sind. Das wurmtauch diejenigen, die oft genug verschmähtwurden, wenn diese Mädels, die sie damalsabgewiesen haben, einen Idioten heiraten.Sieht man doch gleich. Liebe macht blind, naklar. Aber warum wurde ich nicht gesehenals der entwicklungsfähige, kreativeSupermann, der ich heute bin? Ich schließemich da mit ein: Klageruf eines verschmähtenKünstlers. Das meine ichso ernst nicht und habe eineAntwort darauf. Es hat langgedauert einzusehen, dass ichmich selbst, wäre ich einesdieser Mädchen gewesen, auchnicht genommen bzw. geliebthätte. Selbstreflexion bleibt einLernfeld.Es ist ganz einfach. Nur wersich selbst mag, strahlt auchAttraktivität aus. Ich habe michtagtäglich fertig gemacht. Dasmerken alle, nur man selbstspürt es gar nicht. Daran sindeindeutig die Eltern schuld.Unreife und dabei leistungsorientierteMenschen zerstören unwissentlichihre Kinder. Dafür, dass Eltern so dämlichsind, können sie nichts. Ihre eigenen Elternoder der Zweite Weltkrieg sind der Grund.Schuld ist eine Ahnenkette. Sich mit derLösung, den anderen alles in die Schuhe zuschieben, herumzuschlagen ist gut; aber daskorrekte Ergebnis, dass es so ist, hilft wenig.Das wird einem nicht gedankt. Ein aktuellesBeispiel? Gerade musste „dieser Zahnarzt“ins Gefängnis. In einer beispiellosen Attackehatte er die Ex und weitere Menschen getötet.Die wären schuld an seinen Problemen,argumentierte der Mann im Prozess. DerZahnarzt aus Schleswig-Holstein stellte esjedenfalls so dar. Er war unzufrieden mit derEhe gewesen und fremdgegangen. Die Ehefrauhatte es gemerkt und ihn verlassen. Dakam es zum Gewaltexzess, denn nun war derGehörnte der Auffassung, einer Kränkung dieentsprechende Bestrafung folgen lassen zumüssen. Schuld am neuen Problem wäre derneue Lover. So ähnlich erinnere ich einenBericht. Ich habe das nur überflogen. Brutalund bescheuert (der Eindruck bleibt) wardiese isolierte Borniertheit. Er geht fremd,die Frau verlässt ihn deswegen. Und damitist sie selbst schuld, getötet zu werden; daswird niemand verstehen.Warum ging der Mann fremd? Ganz offensichtlichwurde er nicht genügend geliebtoder nicht auf die Weise, die er erwartethatte. Bis zu diesem Moment ist die Sachenoch einigermaßen normal. In vielen Ehengehen Partner irgendwann fremd. Natürlichhat ein psychiatrischer Gutachter feststellenmüssen, inwieweit der Mann schuldfähigwäre. Dabei kam meines Wissens heraus,dass die Tat als überlegt eingestuft wurde.Er war mit Waffen ausgerüstet losgefahren.Seine Behauptung eines spontanenGeschehens vor Ort konnte der Täter nichtglaubwürdig darstellen, und insgesamt gingdas Gericht von einer Wahnsinnstat aus,aber nicht von einem Kranken, der im Wahnagierte. Demzufolge verpasste man demDoktor Lebenslänglich.Das ist unter den Umständen die unumgänglicheAntwort eines Staates, dessenVerantwortung bei einer so eindeutigenGewalttat darin liegt, die Gesetze anzuwenden.Besser schafft es keine Gesellschaft derWelt, als mit Gefängnis oder sogar dem Todzu strafen, wenn einzelne die Regeln massivverletzen. Schon mit den zehn Gebotenlernen wir bis heute die Grundregeln sozialerGemeinschaft kennen. Ob nun Gott dasschrieb oder Moses selbst die Zeilen eigenhändigin den Stein hämmerte, was machtdas schon? Es ist Ostern; genauso Jesus. Obder Allmächtige tatsächlich den Tod überwandoder Helfer ihnrechtzeitig abgeborgenhaben vom Kreuz,ist für einen stabilenGlauben vollkommenunwichtig.Aber es gibt Menschen,die glaubennicht oder könnendem Gesetz nicht folgen,das alle kennen.Zehn einfache Faktenbis heute, nicht töten,ehebrechen, klauen;allein drei Gesetzefallen jedem sofortein, und die machenApr 16, 2022 - Was hast du schon davon? 64 [Seite 64 bis 65 ]

wohl überall Sinn. Diese Idee, ob jemandkrank wäre und deswegen eine Regel bricht,ist modern. Da schwingt gleich das Problemmit, warum überhaupt jemand Mist baut?Die Antwort ist scheinbar einfach. Wirfragen uns, ob eine Tat nützlich sein könnte,wenn sie nicht aufgeklärt würde, der Täteralso zum eigenen Vorteil handelte? DieGesellschaft nimmt eine Krankheit an, wenndas nicht der Fall ist, und so entstehen dieGrenzfälle, wo ein Gutachter die Entscheidungerleichtert. Eine wirkliche Antwortist es nicht, egal wie das Urteil ausfällt. Beihäufig vorbestraften Gelegenheitstäternscheint es so, dass diese ihr Leben nicht imGriff haben. Da darf man schon fragen, worindenn der Vorteil besteht, wenn diese Menschenso weitermachen und immer wiederin kleineren Delikten schuldig gesprochenwerden, ob das nicht doch eine krankhafteStörung ihres normalen Funktionierens ineiner gesunden Gesellschaft ist? Handelt essich um kapitale Räuber, die buchstäblichauch bereit sind, über Leichen zu gehen, findetman es leichter, von Schuld zu sprechen.Ganz offensichtlich gibt es Kriminelle, dieihr Leben bewusst auf diese Weise gestaltenkönnen. Der Vorteil besteht für sie darin, dieRegeln zu brechen und die Tat geschickt zuverbergen. Die Grenze zum erfolgreichenGeschäftsmann verwischt schon. Damit wirddeutlich, wie schwierig ein Leben sein dürfte,das vollkommen redlich ist. Ein Mensch, derüberhaupt keine Regel bricht und dennocheine individuelle Persönlichkeit ist, dürfterecht selten sein.Unser Augenmerk müsste alsodarauf liegen, warum Menschenbescheuert werden und gegensich selbst handeln. Da könntenwir leicht bemerken, dass derRahmen unserer Regeln vielefertig macht, die unreif sind.Kindern gewähren wir dasRecht auf Unselbständigkeit.Das Problem ist bei denen, diequasi nicht erwachsen werden,obschon man keine Krankheiterkennt. Das sind viele. Einigevon diesen Menschen erkrankenspäter tatsächlich. Ihre unrealistischeEinschätzung vom Drumherum bringt siedazu, zu viel zu essen, zu viel zu leisten oderauf eine verstörende Weise psychisch zukollabieren. Man muss nicht alles aufzählen.Aus dieser Not, das moderne Problem in denGriff zu bekommen, wurde die psychosomatischeSparte der Medizin definiert. Würdenwir den Anteil der Attraktiven in der Pubertäterhöhen, bräuchten wir weniger Medizinund könnten unsere Gefängnisse kleinerhalten. Wir probieren weiter, höhere Leistungund bessere Schulnoten bei mehr Kindernzu erzielen. Das ist der falsche Weg, solangedabei übersehen wird, wie viele Menschennaturgemäß nicht mithalten können undes immer Bessere geben wird. Attraktivitätzu erhöhen, bedeutet nicht, die Leistung zuverbessern, sondern Menschen zu helfen,sich selbst anzunehmen. Einige werden immerhöher springen, schneller laufen, besserrechnen oder geistreicher denken.Bei uns in Deutschland und anderen Zivilgesellschaftenvoller Wohlstand, im Vergleichzu den armen Ländern des Planeten, ist dasProblem nicht, allen Zugang zu angemessenerAusbildung zu gewähren wie es immerheißt, sondern Menschen heranzubilden, dieüberhaupt lernen können. Eine emotionalgefestigte Basis ist die Voraussetzung einerguten Entwicklung. Wir haben zu viele Erwachsene,die glauben, dass alles, was ihnenzur Verfügung steht, aufgrund ihrer persönlichenLeistung in ihrem Einflussbereichliegt. Viele leben in der irrigen Annahme, siehätten die Karriere selbst allein geschafft.Das stimmt schon deswegen nicht, weil siezu einer bestimmten Zeit an einem individuellenOrt zur Welt gekommen sind. Diezahlenmäßig eher kleinere Gruppe von Menschen,die erst nach einer Flucht aus demHeimatland sesshaft wurden, kann schoneher für sich in Anspruch nehmen, Dinge fürsich getan zu haben als welche, die in einerguten Umgebung gestartet sind.Man muss es nicht detailreich beschreiben,um diesem Gedanken eine Basis zuverleihen, dass wir immer Abhängige sindund bleiben werden. Wir können nur lernen,die Beziehungen zu wechseln, zu anderen,die besser zu uns passen. Wir tun nichtsallein, sondern stets aus dem Umfeld heraus,in dem wir uns befinden und getragen vonunserer eigenen Geschichte, die uns dorthinführte, wo wir heute agieren. Da verwundertes, dass viele aus einer gerade mal stabilenHöhe auf andere Menschen hinabsehen, siewären eben ganz allein schuld am eigenenProblem und sich das auch noch zu Nutzemachen, diese zu gängeln. Niemand tutsich einen Gefallen damit. Der Ärger kommtdann, wenn sich die Dinge anders entwickelnals gedacht und der vermeintlicheIdiot sich wandeltwie das Chamäleon,fälschlichals farblos oderfeige übersehen,schließlich dochobenauf brilliertoder geschicktunsichtbar wirdin der Natur unduns verarscht.Genauso derhässliche Frosch,der als verzauberterKönigssohnaus sich zu unsherausspringt. Daran sollte man immerdenken, wenn es leicht scheint, eine lästigeKröte zu beseitigen, einen unnötigen Kriegzu beginnen. Chancen werden zerstört, vondenen alle profitieren könnten. Ich gebees zu, diese Kröte gewesen sein zu wollenund sehe auf den Staat als eine böse Macht,Mitglieder der Gesellschaft abzustempeln,statt diesen zu einer guten Entwicklung zuverhelfen.Soziale Institutionen und Ordnungskräftenutzen die intellektuellen Schubladen, dieder Mensch sich als Struktur geschaffenhat, ohne aus diesen Kisten eine Treppemit Geländer zu zimmern. So werden nichtwenige zu Gefangenen. Das sind die Denkweiseneiner Gesellschaft insgesamt. Wersich diese zu eigen macht, muss erst lernen,Mauern zu überwinden, die für andere mitlangen Beinen der Weg nach oben sind. Fürunsereinen bedeuten sie nicht abgesenkteKantsteine, die unseren Rollstuhl stoppen.Die Beine wurden uns früh so nebenbeiabgeschlagen. Ohne Gehhilfe im Gehirnkommt der Mensch, dem es schwer fällt, sichim Wohlstand zurechtzufinden, nicht weit.Das jemanden erklären wollen, scheint einDing der Unmöglichkeit. „Was hast du denn?Dir geht es doch gut“, wird unser Gegenübersagen. Menschen sind Blinde. Sie sehenBeine voller Muskeln wie ihre eigenen,wo tatsächlich nur eine Hose mit Fantasiegefüllt wurde, damit zu gehen. Zeigen wiranderen, dass es nur ein Trick ist, verstehenwelche, die einfach so herumspazieren, esnie. Einem Marsmenschen zu erklären, wiewir atmen und warum es nötig sei, dürfteähnlich sein.Darum bleiben (wir) Künstler immer allein,selbst in der Gesellschaft der anderen. Läuftes nicht so gut mit dem Erklären unsererDarstellungen, stoßen wir dermaßen an dieGrenzen der Masse, dass wir von ihnen eineZelle bekommen, deren Mauern unüberwindbarsind. „Red Bull verleiht Flügel“, ruftder Knacki im Film und startet in die Freiheit?Nähme ich die Flügel der Morgenröteund baute mir eine Wohnung am äußerstenMeer! Einsam ist der freie Mensch, weil dieanderen so borniert sind und sich den Käfigsuchen und verstärken, wenn sie bereitsdarin sind, viele überreden mitzumachenund alles mit Brettern vernageln. So kommtes mir vor.# Meine kleine WeltUm im Bild zu bleiben: Für einen (erwachsenen)Künstler ist es nötig, einen Käfigdabeizuhaben, den die anderen nicht sehenkönnen. „Wenn die anderen zuschauen, kannich es nicht“, mag ein Kind sagen, das geradeein Kunststück erlernt. Auf die Einleitungzum „West End Blues“ angesprochen, sagtTrompeter Norbert: „Im Keller zuhause gehtes.“ Ich erinnere mich an frühere Zustände,die leider bis heute Teil meiner Gegenwartsind und mit dem Wort Störung nur unzureichendbeschrieben sind; es ist, wenn michDinge ärgern. Gegenstände scheinen einEigenleben zu entwickeln an manchen Tagenoder stundenweise. „Das war nicht ich!“,sage ich dann wie ein Kind, und manchmalschreie ich das vor Wut. Die Kunst bestehtdarin, diese Zeiten irriger Realitätsumkehr zuakzeptieren, ihre Dauer aber zu beherrschenund normales Verhalten darauf folgen zulassen und entspannt zu schaffen.:)Apr 16, 2022 - Was hast du schon davon? 65 [Seite 64 bis 65 ]

Was hast du schon

davon?

Apr 16, 2022

Im Keller war ein

Buch mit jüdischen

Witzen. Das müsste

von meinem Opa

gewesen sein. Bei der

Entrümpelung kam es

vermutlich mit anderen

Sachen in den Müll und ist inzwischen

verloren gegangen. Ich erinnere dies: Ein

Sohn klagt seinem Vater, nur mit Fräulein S.

könne er glücklich werden. Der aber antwortet:

„Glück, was hast du schon davon?“ Vielleicht

irre ich mich, und es war keine Zote

aus Großvaters Sammlung. Gut möglich, dass

dieser Witz in einem Buch von Watzlawick

zitiert wird und ich die Geschichte daher

kenne. Manches erinnert man ungefähr.

Genauso eine Anekdote von einem Lehrer,

der Schülern zu Aufgabe macht, Texte auf

das Wesentliche zusammenzukürzen. Da

kann es sein, dass ich das bei Böll gelesen

habe oder wiederum mein Opa es selbst

erlebte. Dann wäre es eine wahre Geschichte

und steht nicht irgendwo im Roman. Der

Lehrer gab ihnen Hitler-Reden, die mussten

sie straffen, um das Kürzen von Texten zu

lernen. Wenig blieb nach, wenn der Gröfaz

schrie. Inhaltlich dürr ist möglicherweise

auch „Mein Kampf“; deswegen fand ich

unten gleich zwei Exemplare? Meine Eltern

hatten ausgemusterte Bücher in verschiedenen

Regalen untergebracht. Neben den

beiden Hitlerbüchern stand die dicke Bibel

von Oma Lina (in altdeutscher Schrift). Die

wirkte womöglich ausgleichend auf den

Nazischeiß. Alles wurde weggeworfen. Unser

Haus ist verkauft. Keine Ahnung, wie diese

Räume heute genutzt werden.

Der Witz macht Sinn. Nicht, weil hier

angedeutet würde, den Juden ginge es ums

Geld. Es geht auch nichtjüdischen Eltern

darum, Einfluss auszuüben, wenn die Kinder

erwachsen werden. Wir dürften selbstkritisch

bemerken, dass die Wahl, jemanden zu lieben,

nur scheinbar eine freie Entscheidung

ist. Dazu kommt, dass erst etwas daraus wird,

wenn beide einander lieben und das Ganze

kein Luftschloss ist; die nicht erwiderte

Anbetung. Manche haben es leicht. Einige

Menschen werden stärker begehrt als andere

und können wählen. Viele wählen nicht.

Sie nehmen, was übrig bleibt und reden die

Verbindung schön. Nicht wenige Menschen

bleiben schon deswegen zusammen, weil

ihnen klar ist, nach einer Trennung allein

bleiben zu müssen. Sie haben keinerlei Vertrauen

in ihre Ausstrahlung, glauben nicht

daran, sich neu verlieben zu können oder

noch einmal ein Gegenüber zu treffen, das

sie attraktiv findet und umgekehrt die glückliche

gemeinsame Zukunft bedeuten könnte.

Diese Menschen haben wenig Auswahl, ihr

Glück zu gestalten und stehen sich womöglich

selbst im Weg, ohne davon zu wissen.

Anderen die Attraktivität zu neiden oder der

Gedanke, jetzt sei es zu

spät für einen Neuanfang,

könnte verbreitetes

Grübeln sein.

Das Verlieben beginnt

zur Schulzeit. Im Alter

der Pubertät denkt man

weniger in Ewigkeiten.

Wenn sich Dreißigjährige

verlieben, schon. Eine

Ewigkeit heißt die Dauer

des Zusammenseins mit

Hochzeit, Kind und Haus

zu füllen und zu wissen,

dass es Großeltern geben

wird, schließlich deren

Ableben geschieht und

wir selbst alte Leute werden.

Glücklich zusammen

bis zum Tod irgendwann.

Und die ganze Zeit passieren diese Dinge

wie Familie, Karriere, das Zusammenhalten

in guten und schlechten Zeiten. Das ist ein

typischer Wunsch des zivilisierten Zeitgenossen

und seiner Liebsten, die symmetrisch

empfinden möge.

Die Menschen lassen sich nicht beirren,

an diesem Traum festzuhalten, obwohl

derartige Dinge nur selten wahr werden.

Viele gehen die Hochzeit im mittleren Alter

beherzt mit einer großen Feier an. Recht

junge Leute heiraten nicht so oft. Wir probieren

das Leben erst einmal aus. Eine gute

Sache, ganz bestimmt ein gesellschaftlicher

Fortschritt. Grundsätzliche Probleme sind

aber geblieben. Ich meine die Fehleinschätzung,

worauf wir uns einlassen – nicht nur

die Schwierigkeit, eine kleine Ewigkeit wie

im Märchen hinzubekommen – sondern den

falschen Partner zu lieben. Nach einiger Zeit

werden ziemliche Macken deutlich, die so

nicht absehbar gewesen sind. Das wurmt

auch diejenigen, die oft genug verschmäht

wurden, wenn diese Mädels, die sie damals

abgewiesen haben, einen Idioten heiraten.

Sieht man doch gleich. Liebe macht blind, na

klar. Aber warum wurde ich nicht gesehen

als der entwicklungsfähige, kreative

Supermann, der ich heute bin? Ich schließe

mich da mit ein: Klageruf eines verschmähten

Künstlers. Das meine ich

so ernst nicht und habe eine

Antwort darauf. Es hat lang

gedauert einzusehen, dass ich

mich selbst, wäre ich eines

dieser Mädchen gewesen, auch

nicht genommen bzw. geliebt

hätte. Selbstreflexion bleibt ein

Lernfeld.

Es ist ganz einfach. Nur wer

sich selbst mag, strahlt auch

Attraktivität aus. Ich habe mich

tagtäglich fertig gemacht. Das

merken alle, nur man selbst

spürt es gar nicht. Daran sind

eindeutig die Eltern schuld.

Unreife und dabei leistungsorientierte

Menschen zerstören unwissentlich

ihre Kinder. Dafür, dass Eltern so dämlich

sind, können sie nichts. Ihre eigenen Eltern

oder der Zweite Weltkrieg sind der Grund.

Schuld ist eine Ahnenkette. Sich mit der

Lösung, den anderen alles in die Schuhe zu

schieben, herumzuschlagen ist gut; aber das

korrekte Ergebnis, dass es so ist, hilft wenig.

Das wird einem nicht gedankt. Ein aktuelles

Beispiel? Gerade musste „dieser Zahnarzt“

ins Gefängnis. In einer beispiellosen Attacke

hatte er die Ex und weitere Menschen getötet.

Die wären schuld an seinen Problemen,

argumentierte der Mann im Prozess. Der

Zahnarzt aus Schleswig-Holstein stellte es

jedenfalls so dar. Er war unzufrieden mit der

Ehe gewesen und fremdgegangen. Die Ehefrau

hatte es gemerkt und ihn verlassen. Da

kam es zum Gewaltexzess, denn nun war der

Gehörnte der Auffassung, einer Kränkung die

entsprechende Bestrafung folgen lassen zu

müssen. Schuld am neuen Problem wäre der

neue Lover. So ähnlich erinnere ich einen

Bericht. Ich habe das nur überflogen. Brutal

und bescheuert (der Eindruck bleibt) war

diese isolierte Borniertheit. Er geht fremd,

die Frau verlässt ihn deswegen. Und damit

ist sie selbst schuld, getötet zu werden; das

wird niemand verstehen.

Warum ging der Mann fremd? Ganz offensichtlich

wurde er nicht genügend geliebt

oder nicht auf die Weise, die er erwartet

hatte. Bis zu diesem Moment ist die Sache

noch einigermaßen normal. In vielen Ehen

gehen Partner irgendwann fremd. Natürlich

hat ein psychiatrischer Gutachter feststellen

müssen, inwieweit der Mann schuldfähig

wäre. Dabei kam meines Wissens heraus,

dass die Tat als überlegt eingestuft wurde.

Er war mit Waffen ausgerüstet losgefahren.

Seine Behauptung eines spontanen

Geschehens vor Ort konnte der Täter nicht

glaubwürdig darstellen, und insgesamt ging

das Gericht von einer Wahnsinnstat aus,

aber nicht von einem Kranken, der im Wahn

agierte. Demzufolge verpasste man dem

Doktor Lebenslänglich.

Das ist unter den Umständen die unumgängliche

Antwort eines Staates, dessen

Verantwortung bei einer so eindeutigen

Gewalttat darin liegt, die Gesetze anzuwenden.

Besser schafft es keine Gesellschaft der

Welt, als mit Gefängnis oder sogar dem Tod

zu strafen, wenn einzelne die Regeln massiv

verletzen. Schon mit den zehn Geboten

lernen wir bis heute die Grundregeln sozialer

Gemeinschaft kennen. Ob nun Gott das

schrieb oder Moses selbst die Zeilen eigenhändig

in den Stein hämmerte, was macht

das schon? Es ist Ostern; genauso Jesus. Ob

der Allmächtige tatsächlich den Tod überwand

oder Helfer ihn

rechtzeitig abgeborgen

haben vom Kreuz,

ist für einen stabilen

Glauben vollkommen

unwichtig.

Aber es gibt Menschen,

die glauben

nicht oder können

dem Gesetz nicht folgen,

das alle kennen.

Zehn einfache Fakten

bis heute, nicht töten,

ehebrechen, klauen;

allein drei Gesetze

fallen jedem sofort

ein, und die machen

Apr 16, 2022 - Was hast du schon davon? 64 [Seite 64 bis 65 ]

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