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Blogtexte2022_1-Halbjahr

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Die Windmühle

am Weinberg

des Herrn

Apr 3, 2022

Als ich klein

war, bastelte

ich viele

Jahre an meiner

Modelleisenbahn

im Keller

herum. Später

wurde aus der

Fläche eine

große Werkbank

mit unserem

Schraubstock

vorn an der

Ecke. Im Regal

darüber fanden

sich Gläser

randvoll mit

Nägeln, Muttern

und Schrauben.

Die hatte mein Vater aus dem Laden

genommen und zweckentfremdet. Kapern

waren drin gewesen. Ausgestattet mit einem

soliden, roten Deckel, ursprünglich zum

Verkauf für Lebensmittel auf dem Großmarkt

hergestellt, taugt ihre stabile Qualität für

eine Ewigkeit zur Lagerung. Ich verwende

sie noch heute. Handwerksgerät hing nun an

der Wand, wo mein Gemälde mit blauduftigen

Bergen den Hintergrund der Bahn

gebildet hatte. Die Lokomotiven und Wagen

verkaufte ich im Geschäft meiner Eltern. Der

Erlös verstärkte Konfirmationsgeschenke,

floss in die Summe ein, die nötig war, mein

erstes Boot zu bezahlen.

Einige Schienenstränge der Erinnerung, Bahnen

von Menschen im jeweiligen Lebenswägelchen

skizziert: Das aktuelle Bild auf der

Staffelei regt dazu an. Leben beschreibt eine

Spur durch die Zeit, ist aber typischerweise

keine Eisenbahngeschichte. Unser Dasein

kennt nur eine Richtung, bindet uns an die

Zeitschiene. Wir können nicht umdrehen,

nicht einmal zurücksetzen. Selbst wenn es

uns manchmal so vorkommt, ein neues Leben

zu beginnen, nach einem Umzug, einer

durchgestandenen Erkrankung oder wenn

die größte Liebe anklopft.

# Die gebahnte Schiene

verlassen und eigene

Wege einschlagen

Mit dem Verkauf der Anlage

endete für mich eine

Form von Kindheit. Wann

ein Kind zu sein aufhört,

man sich zum Jugendlichen

wandelt, schließlich

erwachsen ist, bestimmen

wir nur zum Teil selbst.

Einige scheinen ihre

Kindheit vergessen zu

wollen, manche verklären ihre Jugend, und

wieder andere scheinen gar nicht erwachsen

zu werden. Genau das ist ein ums andere

Mal mein Thema. Ein Hamsterrad zu treten,

bedeutet darin gefangen zu sein. Freiwillig

dieselbe Aufgabe anzugehen, die andere

nur müde belächeln, scheint ähnlich. Man

kommt nicht weg, obschon man läuft. Ein

Sturm weht, treibt das Schiff im Kreis. Die

Windmühle dreht sich, schleudert mich

täglich weiter nach vorn. Die Erinnerung an

früher gibt mir den Tritt in meine Zukunft.

Immer kindlich zu bleiben, ist das

böse Verharren in einer Angst,

deren Wurzeln Betroffene nicht

spüren. Einige Menschen gelangen

infantil bis ins Alter und zahlen

spät den üblicherweise zu entrichtenden

Preis, um in die Welt der

aktiv gestaltenden Erwachsenen zu

gelangen. Das Geld bestimmt den

Wert des Menschen scheinbar. Es

kann ein Irrgarten sein. Wege, die

Risikobereitschaft verlangen und

enge Kanäle, die kein Links oder

Rechts zulassen, bilden unsere

Wirklichkeit, die ihre eigenen

Lohngesetze kennt und entsprechend

dem gegebenen Einsatz

verzinst. Das allerspäteste Begreifen,

nicht gehandelt zu haben als

die Zeit dafür war, geschieht wohl

am Tag, an dem wir sterben.

Wedel ist Geschichte, das Haus

verkauft. Wer nur bewahren

möchte, ohne eine Veränderung zuzulassen,

wird auch das verlieren, was er verteidigen

möchte; und so ist es mir geschehen. Unfähig

zu einer progressiven Gestaltung, bin ich

definitiv gescheitert. Ich erkenne nur Intrige

und versage mir jegliche Einsicht in die

notwendige Lösung. Es zeichnete sich kein

Weg zu teilen, wie gleichermaßen das Erbe

zu bewahren ab. Die eigene Familie zu hassen,

ist zur alltäglichen und unvermeidbaren

Beschäftigung geworden. Der Keller, wo

einmal diese kleine Eisenbahn fuhr, später

gewerkelt wurde, ist nicht mehr auffindbar,

den Schraubstock habe ich nach Schenefeld

mitgenommen.

Die brutale Zertrümmerung

der Arbeitsplatte

und überhaupt alles da

unten, was Habibi mit

wuchtigen Hammerschlägen

zerlegt –

während seine schöne

Freundin leichten

Schrott die Treppe

hochschafft, die Männer

und ich schwere Teile,

unsere Waschmaschine

zum Anhänger schleppen

– unvergesslich.

# Viele sind zum

Glaube zu feige, zum

Atheismus zu dumm,

bleiben unsicher

dazwischen

Einen Strich unter

die Vergangenheit

ziehen, bedeutet

fertig zu sein mit

etwas. Das Begreifen,

ein Ziel erreicht

zu haben oder die

Unmöglichkeit einsehen, noch ankommen

zu können heißt das. Einen Lebensabschnitt

ad acta legen, kann sogar enttäuschen, auch

wenn das anvisierte Ziel gemeistert wurde.

Mit dem roten Pinsel erledigt: Ein solcher

Strich bleibt eine Linie, ist insofern Teil einer

abstrakten Zeichnung, nur die Definition,

aber nicht unsere gelebte Realität und

ändert nie, was war. Es ist nur eine intellektuelle

Übung. Manchmal hilft das, und an

schlechten Tagen nützt es weniger.

In den Achtzigerjahren hatte ich eine

unternehmungslustige Freundin. Dank ihrer

Initiative kam einiges zustande. Es blieb

eine beste Freundin, aber heute ist der Kontakt

abgerissen. Sie lebt inzwischen in den

Vereinigten Staaten und ist amerikanische

Staatsbürgererin; ein Prozess mit Hindernissen,

das schließlich zu schaffen. An dem

Tag, wo die letzten Formalitäten nach einer

andauernden Episode der bloßen Duldung

ihr Ende fanden, und zwar in Deutschland

bei einer Behörde, fuhren wir zusammen mit

der S-Bahn hier in Hamburg und sprachen

ausführlich darüber. Unvergesslich ist dieser

Tag auch für mich, weil sie so verdattert war,

nicht glücklich zu sein.

Das Loch, welches sich auftut, wenn nach

heftigen Anstrengungen keine weitere Not

dafür besteht und die bekannten Ängste und

Handlungen, die eine lange Zeit den Alltag

bestimmten, keinen Sinn mehr machen, trübt

die Freude angekommen zu sein. So war das

bei ihr. Ein weiterer Fall kommt mir in den

Sinn, mein Vater fand problematisch, frühzeitig

nicht mehr arbeiten zu müssen, weil

meine Eltern genug erwirtschaftet hatten

und meinten, es ginge nun mittels Geldanlage

und von Vermietung zu leben. Auch bei

diesem emotionalen Konstrukt war der Gedanke,

alles würde gut, nachdem geschafft

worden wäre anzukommen. Ich gehe mal

davon aus, dass meine Freundin nicht lange

überrascht blieb, sich nicht freuen zu können

mit dem endgültigen Dokument in Händen

und zufrieden in der neuen Welt lebt. Wir

haben uns seltener gesehen, die Beschreibungen

ihres Dortseins gelangen über

Verwandte zu mir, die ich gelegentlich treffe.

Mein Vater fand nur schwer ins Rentnerglück

und wurde zunächst depressiv.

Eine Behandlung

war unumgänglich. Der

Neurologe gestaltete den

Begriff Rentnerloch dafür,

in das Erich gefallen

sei; offenbar ist es ein

bekanntes Problem. Die

Therapie verfolgte das

Ziel, den Rentner aus

diesem Loch zu holen,

zurück zum alten Leben

zu finden. Mein Vater hat

daran geglaubt.

Apr 3, 2022 - Die Windmühle am Weinberg des Herrn 57 [Seite 57 bis 59 ]

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