Blogtexte2022_1-Halbjahr
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Orbit
Apr 1, 2022
Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit
haben ihre eigene Wahrheit. Die Wahrheit
der Vergangenheit ist Gegenstand von
Ermittlungen und führt gegebenenfalls zum
Gerichtsprozess. Dort wird die Wahrheitsfindung
nach den Regeln der juristischen Kunst
betrieben. Das Wort sagt es schon, man muss
suchen und diskutieren für ein stimmiges
Bild. Im Zweifel für den Angeklagten, ist
die Leitlinie im ordentlichen Verfahren. Die
Wahrheit der Gegenwart ist unmittelbar zu
spüren. Druck und Gegendruck durch die
Schwerkraft sind unsere Wahrheit, niemand
schwebt herum, die Erde bindet uns an. Daraus
resultiert einiges, wenn nicht alles an
Aktivitäten. Niemand ignoriert die Schwerkraft,
ist eine grundsätzliche Wahrheit,
weil das die Basis unseres Lebens ist. Dazu
kommen etliche, individuelle Motive unserer
Bewegung, denn auf die Gegenwart folgt
sofort das Erreichen einer speziellen Zukunft
für den Einzelnen. So können wir durch
unsere jetziges Geschehen auf die Zukunft
Einfluss nehmen und im Nachhinein erinnern,
wie es eben gewesen ist. Die Wahrheit
einer Ereigniskette ist also eine Bewegung
in der Schwerkraft durch die Zeit. Diese Betrachtung
schließt unabdingbar mit ein, dass
etwas im Raum ist, zum Beispiel ein Auto
fährt, ein Mensch läuft wohin; ohne ein Ding
macht Bewegung keinen Sinn. „Das Auto fuhr
schnell in die Kurve und krachte gegen den
Baum“, könnte eine Schilderung lauten.
Damit wäre dies eine (wahre) Geschichte des
Unfalls, dem ich mit einem Satz zitiert ein
Bild gebe. Jeder stellt sich was drunter vor.
War das eine Linkskurve? Da beginnt bereits
die Frage meiner Perspektive, die entscheidend
sein kann, denn was ist links? Befinden
wir uns nun am Steuer des Fahrzeuges, und
das Geschehen läuft aktuell ab, lenken wir
ein Fahrzeug durch die Wahrheit unserer
Gegenwart, gestalten die unserer Zukunft,
welche an diesem Baum ein Ende findet –
oder eben nicht.
Was werde ich heute tun? Für manche stellt
sich die Frage weniger, denn sie wissen, was
zu tun ist. Menschen im Arbeitsverhältnis
sind an viele Verpflichtungen gewöhnt. Sie
gehen etwa ganz automatisch zur Bushaltestelle,
nachdem sie ein alltägliches Frühstück
hatten, um zur Arbeit zu fahren.
Als ich noch am Anfang meines Illustratorenlebens
stand, gleich nach dem Studium,
war in Wedel bereits der neue S-Bahnhof
fertig geworden. Dort schauen Wohnungen
direkt auf die Gleise mit dem Bahnsteig. Ich
malte mir aus, ein Kinderbuch zu machen.
Vermutlich würden mit den jeweiligen Morgenzügen
alle zehn Minuten Tag für Tag die
selben Leute fahren. Ich begann mit Skizzen,
konnte nicht in diese Position gelangen, es
genauso zu sehen und fand eine Stelle im
Ärztehaus auf der anderen Seite. Dort schaut
man vom Treppenhaus hin.
Vor kurzem wurde mir eine Wohnung zum
Kauf als Geldanlage angeboten, diese nun
wiederum im Ausfahrtsbereich gegenüber.
Von der kleinen Terrasse aus schauten wir
direkt zum Bahnsteig. Der Abstand zu den
Wartenden ist gering, ein Zuruf dürfte gehört
werden, und es besteht Blickkontakt bis
hinein in das Wohnzimmer. Da erinnerte ich
mich wieder an diese Geschichte, das Buch
zu machen.
Mal davon abgesehen, dass daraus nie etwas
geworden ist, bleibt doch diese Erkenntnis,
dass ein Bild grundsätzlich ein Stück der
Wahrheit sein kann. Besonders in einer
realistischen Malerei versucht man ja, diese
Illusion von Wirklichkeit hinzubekommen.
Heute, am ersten April, wird gern mit der
Wahrheit gescherzt. Aber es gibt auch
bittere Wahrheiten, wie den Krieg in der Ukraine.
Gestern kam in den Nachrichten, dass
Gil Ofarim sich verantworten muss. Viele
werden den Fall erinnern. Der Sänger hatte
Hotelmitarbeiter beschuldigt und steht
nun überraschend selbst vor Gericht wegen
Verleumdung.
An diesem Morgen finde ich auf einem Portal
auch die Schilderung einer Begegnung
mit William Shatner aus der Sicht eines
Schauspielkollegen. Darin schildert der, wie
er als junger Mann am Set auf sein großes
Vorbild getroffen ist. Bei diesem ersten
Gespräch hätte der Berühmte herablassend
und abwertend reagiert, erst später versöhnte
man sich. Der junge Mann solle sich nicht
grämen, tröstete seinerzeit eine Maskenbildnerin.
Alle wüssten, Shatner sei „ein Idiot“.
Später gewann die Beziehung an Freundlichkeit,
schreibt der heute selbst bekannte
Darsteller und schließt die Episode mit den
Worten ab, eine wahre Geschichte, die gut
sei, müsse erzählt werden.
# Wil Wheaton erinnert sich, Monate später
habe er Shatner gefragt: „Sind wir cool, oder
was? Ich dachte immer, du magst mich nicht,
aber ich habe die Zeit mit dir bei ,Weakest
Link‘ genossen. Also sind wir cool oder war
das nur eine Spielstrategie?“ Shatner habe
geantwortet: „Wir sind so cool, wir sind mehr
als cool. Wir sind im Orbit, Mann.“ In den
vergangenen Jahren habe er viel Zeit mit
Shatner, den er „Bill“ nennt, verbracht. Er sei
„jedes Mal freundlich“ gewesen, „nie gemein
oder abweisend“. Sie seien „keine Freunde,
aber freundlich zueinander“. Er habe sich
dennoch dazu entschieden, die Geschichte
zu veröffentlichen, da sie „eine gute
Geschichte“ sei, die „unterhaltsam, wahr und
lustig zu erzählen ist“. (Yahoo, April 2022).
Direkt aus dem Orbit und wahr.
Unten in Schenefeld passiert ja auch so einiges,
denke ich – und hoffe, heute am Boden
geblieben, weiter auf morgen.
:)
Apr 1, 2022 - Orbit 56 [Seite 56 bis 56 ]