LERNEN MIT ZUKUNFT Juni 22
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information & gesellschaft<br />
Abenteuer Müllplatz:<br />
Das echte Wien<br />
ABFALL IST DAS, WAS IM EINZELNEN ABFÄLLT UND DANN<br />
IN RAUEN MENGEN ANFÄLLT (Brigitte Fuchs)<br />
Patrick Rusch, MA<br />
Familienvater, Angestellter<br />
Milizoffizier aD<br />
der Schweizer Armee<br />
Lebt in Wien<br />
infos<br />
über den autor<br />
Patrick Rusch, geboren 1967 in<br />
Luzern (Schweiz). Familienvater,<br />
Angestellter, bekennender<br />
Kästnerianer. Unabhängig,<br />
kritisch, gut gelaunt. Studium<br />
an der Universität Bern<br />
(Rechtswissenschaften) und<br />
an der Fachhochschule Wiener<br />
Neustadt (Entrepreneurship &<br />
Applied Management). Seine<br />
Passionen sind seine Familie,<br />
gute Bücher, Geschichte und<br />
klassischer Jazz.<br />
Wo lernt man das echte Wien<br />
am authentischsten kennen?<br />
Wenn man in der Staatsoper<br />
eine Vorstellung besucht, bei<br />
einem Spaziergang auf dem Graben, in<br />
einem Kaffeehaus im Ersten Bezirk?<br />
Als ich selbst vor 16 Jahren in Wien<br />
Wohnsitz nahm und zu arbeiten begann,<br />
lernte ich viel über Wien und die Wiener<br />
in den einschlägigen Kaffeehäusern im<br />
Ersten Bezirk. Wie jeder Gast eine Figur<br />
verkörpert und in der gerade laufenden<br />
Vorstellung «Das Kaffeehaus» spielt.<br />
Die mitunter doppelbödige Freundlichkeit<br />
von Kellnern, die möglicherweise<br />
gerade den am meisten auf die Schippe<br />
nehmen, den sie jetzt am freundlichsten<br />
servicieren. Einige dieser Kaffeehäuser,<br />
besuche ich heute nicht mehr, weil ich<br />
sie inzwischen als zu touristisch besetzt<br />
wahrnehme. Was vermutlich, Hand aufs<br />
Herz, ein vollkommen ungerechtfertigtes<br />
Vorurteil ist. Wie ich kürzlich zufällig<br />
selbst erleben durfte, strahlen auch die<br />
touristischsten Kaffeehäuser Wiens einen<br />
tollen Charme aus. Die Kellner bieten<br />
einen ausgezeichneten Service und die<br />
Speisen und Getränke sind von hoher<br />
Qualität zu einem fairen Preis.<br />
Besuche von kulturellen Veranstaltungen<br />
bieten gute Zugänge zu Wien und den<br />
Wienern. Dabei ist es unerheblich, vielleicht<br />
sogar eher nachteilig, für Kultur<br />
ausschliesslich ihre obersten Repräsentanten<br />
zu konsultieren. An einer eher<br />
versteckten Veranstaltung lernte ich<br />
zum Beispiel meine Frau und inzwischen<br />
Mutter meiner Kinder kennen. Wenn ich<br />
an diesem Abend im Burgtheater und<br />
nicht ebendort, wo ich sie singen hörte,<br />
gewesen wäre, säße ich heute vielleicht<br />
nicht mehr in Wien, sondern wieder in<br />
Zürich oder Bern.<br />
Authentisches Wien lässt sich zur Sommerszeit<br />
in einem der zahlreichen Bäder<br />
der Stadt erleben. Mitunter ist das,<br />
was man dort sieht, nicht jedermanns<br />
Geschmack. Tattoos sind offenbar vor<br />
allem eine Frage der Quantität. Allerdings<br />
macht es den besonderen Reiz<br />
Wiens aus, dass an Orten wie diesem,<br />
jeder nach seiner Façon glücklich werden<br />
kann.<br />
Kürzlich kam mir die Erleuchtung, dass<br />
der leibhaftigste Ort, Wien und die<br />
Wiener in purer Essenz kennenzulernen,<br />
der Müllplatz ist. An einem Samstagmorgen<br />
lautete die Mission, zwei gefüllte<br />
WÖLIs zum nahegelegenen Müllplatz zu<br />
bringen und gegen zwei neue WÖLIs einzutauschen.<br />
Die Ouvertüre des Besuchs<br />
eines Müllplatzes ist der Eingangsbereich.<br />
Hier werden Sie von einem qualifizierten<br />
Mitarbeiter empfangen, dem Sie<br />
zu benennen haben, was für Müll Sie zu<br />
entsorgen wünschen. Der kompetente<br />
Mitarbeiter vor Ort berät Sie, wo Sie<br />
den mitgeführten Müll idealer Weise<br />
(– gefälligst –) zu platzieren haben. Der<br />
Empfang erscheint ihnen möglicherweise<br />
leicht raunzig. Tatsächlich ist er immer<br />
kompetent und wenn Sie sich bereits auf<br />
Wiener Schmäh verstehen, wird es Ihnen<br />
leichtfallen, ihn auch bei der Ansprache<br />
durch die Eingangskontrolle eines Wie-<br />
20 | JUNI 20<strong>22</strong>