FINE Das Weinmagazin, 57. Ausgabe - 02/2022
ASSMANNSHÄUSER HÖLLENBERG ZEITREISE MIT SPÄTBURGUNDERN Das Hauptthema dieser Ausgabe ist: WEIN & ZEIT Der Assmannshäuser Höllenberg TASTING Höllenberg-Spätburgunder ab 1882 Weitere Themen dieser Ausgabe: EDITORIAL Von Geschmack und Perspektiven CHARTA Die FINE-Weinbewertung TOSKANA Loto: Der Traum des Ingenieurs BORDEAUX Tertre Roteboeuf: Feinste Aromenmusik TASTING Bordeaux des Jahrgangs 1970 SAUTERNES Château Rieussec: Umbruch in Sauternes TASTING Château de Lamarque im Haut-Médoc DIE PIGOTT-KOLUMNE Châteauneuf-du-Pape und Côtes du Rhône CHAMPAGNE Die 100 wichtigsten Champagner, Teil 5 WEIN & SPEISEN Jürgen Dollase im »Atelier« in München WHISKY Glenmorangie: Im Zeichen der Giraffe KATALONIEN Torres, Teil 5: Priorat – Klasse aus der Einöde INNOVATION Willkommen im Metaversum! NEUE REBSORTEN Piwi-Rebsorten: Wehrhafte Weinstöcke WORTWECHSEL Alkoholfreie Weine? Nun ja ... DAS GROSSE DUTZEND Gereifte Rosés TASTING Schätze der Bischöflichen Weingüter Trier GENIESSEN Hefe im Wein: Ungeklärte Verhältnisse OBSTBRAND Ziegler: Frucht ohne Verfallsdatum RHEINHESSEN Weingut Wittmann: Triumph des Charakters ABGANG Die Kraft der Visionen
ASSMANNSHÄUSER HÖLLENBERG
ZEITREISE MIT SPÄTBURGUNDERN
Das Hauptthema dieser Ausgabe ist:
WEIN & ZEIT Der Assmannshäuser Höllenberg
TASTING Höllenberg-Spätburgunder ab 1882
Weitere Themen dieser Ausgabe:
EDITORIAL Von Geschmack und Perspektiven
CHARTA Die FINE-Weinbewertung
TOSKANA Loto: Der Traum des Ingenieurs
BORDEAUX Tertre Roteboeuf: Feinste Aromenmusik
TASTING Bordeaux des Jahrgangs 1970
SAUTERNES Château Rieussec: Umbruch in Sauternes
TASTING Château de Lamarque im Haut-Médoc
DIE PIGOTT-KOLUMNE Châteauneuf-du-Pape und Côtes du Rhône
CHAMPAGNE Die 100 wichtigsten Champagner, Teil 5
WEIN & SPEISEN Jürgen Dollase im »Atelier« in München
WHISKY Glenmorangie: Im Zeichen der Giraffe
KATALONIEN Torres, Teil 5: Priorat – Klasse aus der Einöde
INNOVATION Willkommen im Metaversum!
NEUE REBSORTEN Piwi-Rebsorten: Wehrhafte Weinstöcke
WORTWECHSEL Alkoholfreie Weine? Nun ja ...
DAS GROSSE DUTZEND Gereifte Rosés
TASTING Schätze der Bischöflichen Weingüter Trier
GENIESSEN Hefe im Wein: Ungeklärte Verhältnisse
OBSTBRAND Ziegler: Frucht ohne Verfallsdatum
RHEINHESSEN Weingut Wittmann: Triumph des Charakters
ABGANG Die Kraft der Visionen
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2| 2<strong>02</strong>2 Deutschland € 20 Österreich € 21,00 Italien € 24,50 Schweiz chf 35,00 Benelux € 22,90<br />
4 197772 520006 <strong>02</strong><br />
ASSMANNSHÄUSER HÖLLENBERG<br />
ZEITREISE MIT SPÄTBURGUNDERN<br />
Toskana Bordeaux-Probe Rheinhessen Spirituosen Saint-Émilion<br />
Wolfgang Reitzle Der unterschätzte Philipp Wittmanns Obstbrände Auf Tertre Roteboeuf<br />
und sein Loto Jahrgang 1970 große Rieslinge von Ziegler gelten eigene Regeln
DAS WEINMAGAZIN 2|2<strong>02</strong>2<br />
VILLA SANTO STEFANO 14<br />
BORDEAUX 1970 58<br />
CHÂTEAU DE LAMARQUE 70<br />
ASSMANNSHÄUSER HÖLLENBERG 32<br />
11 <strong>FINE</strong> EDITORIAL _________________ Von Geschmack und Perspektiven<br />
13 <strong>FINE</strong> CHARTA ____________________ Die <strong>FINE</strong>-Weinbewertung<br />
14 <strong>FINE</strong> TOSKANA __________________ Loto: Der Traum des Ingenieurs<br />
26 <strong>FINE</strong> WEIN & ZEIT ________________ Der Assmannshäuser Höllenberg<br />
32 <strong>FINE</strong> TASTING ____________________ Höllenberg-Spätburgunder ab 1882<br />
50 <strong>FINE</strong> BORDEAUX _________________ Tertre Roteboeuf: Feinste Aromenmusik<br />
58 <strong>FINE</strong> TASTING ____________________ Bordeaux des Jahrgangs 1970<br />
64 <strong>FINE</strong> SAUTERNES ________________ Château Rieussec: Umbruch im Traditionshaus<br />
70 <strong>FINE</strong> TASTING ____________________ Château de Lamarque im Haut-Médoc<br />
74 <strong>FINE</strong> DIE PIGOTT-KOLUMNE _____ Châteauneuf-du-Pape und Côtes du Rhône<br />
78 <strong>FINE</strong> CHAMPAGNE _______________ Die 100 wichtigsten Champagner, Teil 5<br />
84 <strong>FINE</strong> WEIN & SPEISEN ___________ Jürgen Dollase im »Atelier« in München<br />
90 <strong>FINE</strong> WHISKY ____________________ Glenmorangie: Im Zeichen der Giraffe<br />
96 <strong>FINE</strong> KATALONIEN _______________ Torres, Teil 5: Priorat – Klasse aus der Einöde<br />
1<strong>02</strong> <strong>FINE</strong> INNOVATION _______________ Willkommen im Metaversum!<br />
106 <strong>FINE</strong> NEUE REBSORTEN _________ Piwi-Züchtungen: Wehrhafte Weinstöcke<br />
110 <strong>FINE</strong> WORTWECHSEL ____________ Alkoholfreie Weine? Nun ja …<br />
112 <strong>FINE</strong> DAS GROSSE DUTZEND ___ Gereifte Rosés<br />
120 <strong>FINE</strong> TASTING ____________________ Schätze der Bischöflichen Weingüter Trier<br />
126 <strong>FINE</strong> GENIESSEN ________________ Hefe im Wein: Ungeklärte Verhältnisse<br />
128 <strong>FINE</strong> OBSTBRAND _______________ Ziegler: Frucht ohne Verfallsdatum<br />
136 <strong>FINE</strong> RHEINHESSEN _____________ Weingut Wittmann: Triumph des Charakters<br />
146 <strong>FINE</strong> ABGANG ___________________ Die Kraft der Visionen<br />
INHALT<br />
<strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 9
LIEBE LESERINNEN,<br />
LIEBE LESER,<br />
außergewöhnliche Anlässe erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Eine Weinprobe wie die<br />
mit 91 Jahrgängen vom Assmannshäuser Höllenberg bis zurück ins Jahr 1882 dürfte kaum mehr<br />
zu wiederholen sein, und vielen der dabei ausgeschenkten Rheingauer Spätburgunder werden Sie<br />
wahrscheinlich niemals selber begegnen. Damit Sie dennoch möglichst intensiv an diesem Ereignis<br />
teilhaben können, haben wir statt wie üblich einen Autor gleich zwei erfahrene Kollegen ihre<br />
Eindrücke schildern lassen, und zusätzlich widmet sich Daniel Deckers ausführlich der Geschichte<br />
dieser berühmten Lage.<br />
Beim Lesen der Verkostungsnotizen könnte Ihnen auffallen, dass Stuart Pigott und Stephan<br />
Reinhardt die Höllenberg-Weine nicht nur mit jeweils individuellem Blick und eigenen Schwerpunkten<br />
beschreiben, sondern in der Regel auch beide strenger über die Qualität urteilen als der<br />
Rest der Verkosterrunde. <strong>Das</strong> zeugt nicht etwa von Willkür oder schlechter Laune, sondern von<br />
verschiedenen, dabei gleichermaßen berechtigten Perspektiven. Die eine ist die des Kritikers –<br />
sachlich, manchmal auch überschwänglich, doch stets ganz auf das konzentriert, was in Glas und<br />
Mund wahrzunehmen ist. Dies in Worte und Punkte zu übersetzen, gehört zu unserem Job, zeigt<br />
in diesem Fall aber nur einen Teil der Wahrheit. Denn was da aus der Schatzkammer von Kloster<br />
Eberbach hervorgeholt wurde, hat über Farbe, Duft und Geschmack hinaus einen unschätzbaren<br />
Wert als kulturhistorisches Zeugnis, nicht bloß, weil Assmannshausen zum Welterbe Oberes Mittelrheintal<br />
gehört. Wer das mitempfindet, kann schon einmal zu höheren Punktzahlen kommen, als<br />
das rein sinnliche Erlebnis hergäbe. Umso schöner, wenn sich dann beim ältesten Wein der Probe<br />
doch alle bei der Gewissheit treffen: Ein Spätburgunder aus Charles Darwins Todesjahr kann noch<br />
heute nicht bloß trink-, sondern sogar im besten Sinn genießbar sein.<br />
Kaum weniger eindrucksvoll war unsere Probe bei den Bischöflichen Weingütern Trier, selbst<br />
wenn deren Parade von Riesling-Meisterwerken statt 14 nur gut sieben Jahrzehnte zurückreichte.<br />
Dafür bot sie ein breites Panorama jener Spitzenlagen an Mosel, Saar und Ruwer, für die das<br />
Portfolio des Betriebs berühmt ist, und das Niveau der besten vorgestellten Weine war über jeglichen<br />
Zweifel erhaben – solch einhellige Begeisterung wie bei der 1949er Beerenauslese vom Trittenheimer<br />
Laurentiusberg und dem 1988er Eiswein vom Kaseler Nies’chen hatte Michael Schmidt<br />
in über 40 Jahren Jury-Erfahrung noch nie erlebt. Ähnlich beglückt war Dirk Notheis bei seinem<br />
Bordeaux-Rundblick vom Château Petrus als dem nicht einmal einsamen Gipfel von 1970. Vielen<br />
Weinen dieses herausragenden, aber im Vergleich mit 1961 und 1982 oft unterschätzten Jahrgangs<br />
sagt er noch immer ein längeres erfülltes Leben voraus.<br />
Selbst das Große Dutzend von Rosés ist stärker gereift als bei diesem Weintyp üblich, aber den<br />
Verdacht, diese <strong>FINE</strong>-<strong>Ausgabe</strong> sei womöglich eher rückwärtsgewandt ausgefallen, zerstreuen zum<br />
Beispiel Berichte über sehr gegenwärtige französische Güter und aktuelle Trends. Einen echten<br />
Neustart gab es im Münchner Top-Restaurant »Atelier«, dessen kürzlich runderneuertes Team in<br />
Küche und Keller von Jürgen Dollase auf die Probe gestellt wurde, ebenso wie nach dem Wechsel des<br />
Investors beim renommierten fränkischen Obstbrenner Ziegler, wo es neben Klassikern bereits erste<br />
Ergebnisse origineller Experimente zu kosten gibt. Besonders weite Perspektiven eröffnen schließlich<br />
die Porträts von Philipp Wittmann, der im rheinhessischen Westhofen die Entwicklung eines<br />
der wichtigsten Güter Deutschlands vorantreibt, und von Wolfgang Reitzle, in dessen Villa Santo<br />
Stefano der Loto als eine Art Supertoskaner 2.0 entsteht – beiden gemeinsam ist der kompromisslose<br />
Wille zu Stil und höchster Klasse. Spätestens hier sind wir nach den Reisen in die große Vergangenheit<br />
bei spannenden Blicken in eine nicht minder große Zukunft angelangt.<br />
Ihre Chefredaktion<br />
EDITORIAL <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 11
DER TRAUM<br />
DES INGENIEURS<br />
WAS WOLFGANG REITZLE ANFÄNGT, DAS TUT ER<br />
GRÜNDLICH. DER AUTOBAUER UND MANAGER<br />
MACHT IN SEINER VILLA SANTO STEFANO SCHON<br />
DEN BESTEN WEIN AUS DER GEGEND VON LUCCA.<br />
JETZT SOLLEN REBBERGE IN DER MAREMMA<br />
SEINEN LOTO NACH GANZ OBEN BRINGEN<br />
Von RAINER SCHÄFER<br />
Fotos ANDREAS HANTSCHKE<br />
14 <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 TOSKANA
TOSKANA<br />
<strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 15
DANIEL DECKERS<br />
Foto: Hessische Staatsweingüter Kloster Eberbach<br />
RHEINWEIN AUS<br />
BURGUNDERTRAUBEN?<br />
ROTER BURGUNDER<br />
VOM RHEIN?<br />
DER ASSMANNSHÄUSER HÖLLENBERG<br />
IM STREIT DER MEINUNGEN<br />
Es gibt nicht viele Weinberge in Deutschland, deren Namen einen fast mythischen Klang haben. Eines ist ihnen<br />
bei allen Unterschieden gemein: Sie bieten dem spät reifenden Riesling ideale Bedingungen. Ob Steinberger oder<br />
Marcobrunner, ob Scharzhofberger, Bernkasteler Doctor oder Forster Ungeheuer – es waren ausnahmslos Weißweine,<br />
die im 19. Jahrhundert den Ruf der »Hocks« und »Moselles« begründeten. Sowohl die Amerikaner Tom Marvel und<br />
Frank Schoonmaker in ihrem »Complete Wine Book« von 1935 als auch anderthalb Jahrzehnte später der gebürtige<br />
Franzose André Simon, Mitbegründer der Wine and Food Society, sahen deutsche Weißweine an der Weltspitze.<br />
26 <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 WEIN & ZEIT
Abbildung: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden<br />
Hiesigen Rotwein hingegen erwähnte<br />
Simon gar nicht erst, und auch Marvel<br />
und Schoonmaker fanden keine allzu<br />
freundlichen Worte dafür: Ihnen sei in Deutschland<br />
kein Roter von Rang aufgefallen, obwohl die<br />
besseren Weine aus der »aristokratischen« Pinot-<br />
Traube gekeltert und nach dem Stand der (weltweit<br />
bewunderten) Wissenschaft vinifiziert würden.<br />
Doch das reiche bestenfalls für »dünne, instabile und<br />
damit im Grunde uninteressante« Weine. Welch<br />
ein Kontrast zu dem Lob, das Rudolf Gareis, seit<br />
1918 Direktor der Preußischen Staatsdomänen im<br />
Rheingau, wenige Jahre zuvor für »seine« roten<br />
Assmannshäuser Spätburgunder übrig gehabt hatte:<br />
»Je nach dem Reifezustand der Traube liefert sie einen<br />
feurig-roten bis dunkelgranatroten, gut gedeckten<br />
Edelrotwein mit einem leichten charakteristischen<br />
Mandelgeschmack von samtig milder, feiner Herbe<br />
und vollendet harmonischer Abrundung.«<br />
Die so gepriesenen Weine hatten im 19. Jahrhundert<br />
im Angebot keines Grandhotels in Berlin,<br />
Baden-Baden oder Bad Ems fehlen dürfen. Gleich<br />
drei Assmannshäuser standen 1904 auf der legendär<br />
voluminösen Weinkarte im Wiesbadener Kurhaus:<br />
eine Originalabfüllung des herausragenden Jahrgangs<br />
1893 aus der Königlich-Preußischen Domäne zum<br />
Preis von neun Mark, eine Auslese von 1890 aus der<br />
Lage Hinterkirch (»Blume von Assmannshausen«)<br />
zu sieben und ein 1897er aus der Domäne zu<br />
fünf Mark – alles freilich deutlich günstiger als<br />
Riesling-Auslesen aus dem Rheingau oder von Mosel,<br />
Saar und Ruwer. Auch mit »echten« Burgundern<br />
konnten die Assmannshäuser »Edelrotweine« nicht<br />
mithalten. Sonst hätte Wilhelm Ruthe, der Pächter<br />
der Restaurationsbetriebe des von Kaiser Wilhelm<br />
II. hochgeschätzten Kurhauses, wohl kaum Spitzenweine<br />
aus Burgund zu entschieden höheren Preisen<br />
auf die Karte gesetzt, zum Beispiel einen 1897er<br />
Chambertin für zehn Mark oder einen La Tâche für<br />
13 Mark. Die Preise für Schlossabzüge stiegen gar<br />
bis in schwindelerregende Höhen von 50 Mark und<br />
mehr. Damals stand der Assmannshäuser selbst in<br />
Deutschland nicht in einem solchen Ruf, dass man<br />
für Weine aus den besten Fässern der besten Jahrgänge<br />
so viel Geld hätte anlegen müssen wie für<br />
französische vins fins.<br />
Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel Schoonmakers<br />
Urteil über deutsche Rotweine nicht günstiger aus.<br />
Sie glichen doch eher französischen Landweinen,<br />
hielt er 1957 in seinem erfahrungsgesättigten Buch<br />
»German Wines« fest. Sogar die Spätburgunder von<br />
der Ahr und aus der hochgelobten Staatsdomäne in<br />
Assmannshausen entsprächen selbst in den besten<br />
Fällen ziemlich leichten und gewöhnlichen Weinen<br />
aus den weniger berühmten Ecken der Côte d’Or<br />
oder guten Burgundern eines schwächeren Jahrgangs.<br />
Nun mag man den Vergleich zwischen Weinen<br />
aus einem kleinen Seitental des Rheins nördlich<br />
von Rüdesheim und der viel südlicher gelegenen<br />
1886 wurde die fiskalische Übersichtskarte der<br />
Assmannshäuser Weinberge erstellt. Die Luftaufnahme<br />
des Gebietes entstand nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
WEIN & ZEIT XLIII<br />
Côte d’Or für unpassend halten, zumal aus dem<br />
Mund eines Amerikaners. Doch Schoonmaker<br />
war kein Außenseiter. Aus der Innensicht des<br />
Weinhändlers Fritz Hallgarten, im Rheingau als<br />
Sohn eines jüdischen Weinkommissionärs aufgewachsen<br />
und 1933 nach London emigriert, war<br />
der regionalen Assmannshausen-Propaganda ebenfalls<br />
nicht zu trauen. Was da oft als bester deutscher<br />
Rotwein bejubelt werde, stellte der Exilant 1951<br />
in seinem Buch »Rhineland – Wineland« ganz<br />
unsentimental fest, sei halt kein Burgunder, auch<br />
wenn er von Burgunderreben stamme. Es sei vielmehr<br />
ein Rheinwein, der einige burgundische Qualitäten<br />
besitze. Den Unterschied mache der Boden:<br />
Was das Rheinische Schiefergebirge hervorbringe,<br />
sei weniger fein als die französischen Burgunder, aber<br />
vielleicht aus denselben Gründen zugleich kräftiger.<br />
Wenn aber keiner dieser Blicke von außen<br />
sonderlich vorteilhaft ausfiel: Führt die »deutsche«<br />
Sicht auf den Assmannshäuser möglicherweise noch<br />
immer zu einem Selbstbetrug – angefangen mit<br />
der Legende, die Deutschen hätten den »roten«<br />
Burgundern damit wenigstens in guten Jahren die<br />
Stirn bieten können?<br />
Ob schon die Zisterzienser rote<br />
Trauben angebaut haben, ist unklar<br />
Zunächst ist die weit verbreitete Ansicht ins Reich<br />
der Fabel zu verweisen, die Zisterzienser hätten im<br />
12. Jahrhundert die Pinot-Trauben von Burgund an<br />
den Rhein geholt und Assmannshausen zu einem<br />
Rotwein-Dorado gemacht. Von dem Problem<br />
abgesehen, für Mittelalter und frühe Neuzeit rückblickend<br />
Rebsorten zu bestimmen (die Ampelografie<br />
ist ein Kind des 19. Jahrhunderts): In einer<br />
Preisliste der Staatsdomäne von 1968 hieß es in aller<br />
Nüchternheit, zwar sei Weinbau in Assmannshausen<br />
schon im Jahr 1108 und damit vor der Ankunft der<br />
Zisterzienser urkundlich belegt, der »Anbau von<br />
Rotweinsorten« lasse sich jedoch erst ab 1740<br />
nachweisen. Tatsächlich fehlt bis heute ein Nachweis,<br />
dass sich unter den Spitzenweinen der Abtei<br />
(rote) Weine aus Assmannshausen befunden hätten.<br />
Gewiss ist hingegen, dass die Eberbacher Zisterzienser<br />
mit einer zusammenhängenden Fläche von<br />
17 (nassauischen?) Morgen imstande gewesen wären,<br />
ähnlich wie im Steinberg und in anderen herausragenden<br />
Rheingauer Lagen Qualitäts weinbau zu<br />
treiben und »Cabinet-Weine« zu erzeugen.<br />
1806 kam dann Friedrich August von Nassau-<br />
Usingen als Oberhaupt des neuen, von den Franzosen<br />
errichteten Herzogtums Nassau in der Rechtsnachfolge<br />
der Abtei über Nacht zu Weinbergsbesitz in<br />
Assmannshausen. Aber als Grundbesitzer war er<br />
nur einer von vielen: Eine wohl erheblich größere<br />
Rebfläche hatte sich vor der Säkularisierung in den<br />
Händen des Mainzer Domkapitels und des Zisterzienserinnenklosters<br />
Marienhausen im nahen<br />
Aulhausen befunden, und auch andere Adlige waren<br />
in Assmannshausen reich begütert. Als Graf Hugo<br />
von Waldbott-Bassenheim, offenkundig in Geldnöten,<br />
dem nassauischen Fiskus neben anderen<br />
Rebbergen 35 mit »rothem Wein« bepflanzte<br />
Morgen in Assmannshausen verkaufte, stieg der<br />
WEIN & ZEIT <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 27
ZEITREISE MIT<br />
EIN JAHRHUNDERTEREIGNIS: DIE<br />
VERKOSTUNG VON 91 JAHRGÄNGEN<br />
VOM ASSMANNSHÄUSER HÖLLENBERG<br />
ERLAUBTE EINEN BLICK ZURÜCK<br />
IN DIE WEINGESCHICHTE BIS 1882<br />
SPÄT<br />
Fotos ARNE LANDWEHR<br />
32 <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 TASTING
BURGUNDER<br />
Höllenberg – was für ein Name! Doch mit dem Inferno hat die berühmte Lage<br />
oberhalb von Assmannshausen am Ostufer des Mittelrheins zum Glück überhaupt<br />
nichts zu tun, weder in der Qualität der Weine, die sie hervorbringt, noch<br />
sprachhistorisch: Vermutlich ist die Bezeichnung mit dem Wort »Halde« verwandt<br />
und verweist auf den Steilhang mit seinen bis zu 65 Prozent Neigung.<br />
Da der Höllenberg überdies nach Süden bis Südwesten ausgerichtet ist und<br />
der Phyllitschiefer in seinem Boden die Sonnenwärme hervorragend speichert,<br />
reiften und reifen hier mitten im Rheingauer Riesling-Land außergewöhnliche<br />
Spätburgunder heran.<br />
Dem besonderen Rang dieser auch im Ausland geschätzten deutschen Rotweinlage entsprechend<br />
hat <strong>FINE</strong> schon mehrfach Höllenberg-Verkostungen durchgeführt, noch nie<br />
aber eine solche Punktbohrung wie jetzt am 25. und 26. April: Ging es bei früheren Gelegenheiten<br />
auch um den Vergleich verschiedener an diesem Hang vertretener Güter, konzentrierte<br />
sich diese Probe ganz auf die kaum fassbare Jahrgangstiefe, die in den Kellern des Weinguts<br />
Kloster Eberbach zu finden ist. Gewissermaßen als Aperitif gab es im barocken Wiesbadener<br />
Schloss Biebrich zunächst einen Flight vom Rüdesheimer Berg Schlossberg, danach bekamen<br />
die versammelten internationalen Experten 91 Jahrgänge Assmannshäuser Höllenberg mit<br />
unterschiedlichstem Charakter auf den Tisch. Große Gewächse aus jüngerer Zeit standen da<br />
neben den Spätlesen, Auslesen oder Eisweinen, die – vielfach als Weißherbst – in den 1970erbis<br />
90er-Jahren entstanden sind, aber auch verblüffend gut erhaltene historische Beispiele der<br />
1920er- bis 60er-Jahre, eine Edelbeerenauslese aus John F. Kennedys Geburtsjahr 1917 (die dem<br />
Präsidenten selbst 1963 serviert wurde) sowie schließlich ein nach Ehrfurcht erweckenden<br />
140 Jahren noch immer fruchtig-vitaler 1882er.<br />
Für <strong>FINE</strong> waren auf Schloss Biebrich neben dem Herausgeber Ralf Frenzel die erprobten<br />
Verkoster Stuart Pigott und Stephan Reinhardt dabei. Ihre Eindrücke und durchaus verschiedenen<br />
Blickwinkel sind auf den folgenden Seiten zusammengefasst.<br />
TASTING<br />
<strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 33
DIRIGENT<br />
DER<br />
AROMENMUSIK<br />
BEI TERTRE ROTEBOEUF IN SAINT-ÉMILION GELTEN EIGENE<br />
GESETZE – ANGEFANGEN DAMIT, DASS DER WINZERPHILOSOPH<br />
FRANÇOIS MITJAVILE SEIN MITTLERWEILE LEGENDÄRES GUT<br />
NICHT ALS »CHÂTEAU« BEZEICHNEN MAG<br />
Von RAINER SCHÄFER<br />
Fotos JOHANNES GRAU<br />
François Mitjavile gilt als ein Philosoph unter den Winzern, der mit enzyklopädischem Wissen, ungewöhnlichen<br />
Gedankenspielen und Zusammenhängen überrascht; wegen seines ausgeprägten Sendungsbewusstseins<br />
wurde er auch schon Apostel und Prediger genannt. Er kann zu langwierigen Monologen ansetzen und<br />
Gesprächspartner in die Verzweiflung treiben, weil seine Ideenschleifen weiter und weiter mäandern und<br />
er sich fortwährend wegzubewegen scheint vom eigentlichen Thema. Einfache oder gar banale Antworten<br />
bekommt man von ihm nie. Aber der wortgewaltige Feingeist aus Saint-Émilion versichert: »Ich komme<br />
auf das Eigentliche zurück, auch wenn es nicht danach aussieht.«<br />
Der Besitzer des Guts Tertre Roteboeuf ist eine der<br />
profiliertesten Persönlichkeiten im Bordelais und längst<br />
eine lebende Legende der internationalen Weinwelt.<br />
Es gibt nur wenige Winzer, die sich über die Reben und ihre<br />
Früchte so viele Gedanken gemacht haben, kaum jemand kann<br />
die Kurven der Vegetationsverläufe und die Auswirkungen der<br />
Wetterkomponenten auf den Wein so exakt analysieren wie<br />
François Mitjavile. Es braucht Winzer wie ihn, die laufend den<br />
Status quo infrage stellen und sich immer neue Ziele stecken.<br />
»Ich arbeite immer an der Grenze des Möglichen«, sagt der<br />
73-Jährige, »ich kenne es gar nicht anders.« Mitjavile hat eine<br />
treue, über die ganze Welt verstreute Fangemeinde, die ihn und<br />
seine Weine verehrt – Tertre Roteboeuf kann es sich leisten,<br />
vieles anders anzugehen.<br />
Im Südosten der Appellation liegt das Weingut, in Nachbarschaft<br />
der Châteaux Ausone, Pavie und Troplong Mondot,<br />
dessen grobklotziger Wasserturm zwangsläufig die Blicke<br />
auf sich lenkt. Tertre Roteboeuf ist ein eher bescheidenes<br />
Anwesen aus dem frühen 18. Jahrhundert, ein Landhaus im<br />
traditionellen Stil und keiner der üblichen Protzbauten. Zum<br />
50 <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 BORDEAUX
BORDEAUX<br />
<strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 51
BORDEAUX<br />
VERKOSTUNG EINES UNTERSCHÄTZTEN GROSSEN JAHRGANGS<br />
Abseits des Bordelais war 1970 ein ereignisreiches Jahr. Andreas Baaders spektakuläre<br />
Flucht aus der Berliner Haft wurde zur Geburtsstunde der RAF, die Beatles gaben unter<br />
den Tränen ihrer Fans ihre endgültige Trennung bekannt, der tschechoslowakische<br />
Ministerpräsident Oldřich Černík verlor als letzter Vertreter des Prager Frühlings sein<br />
Amt, und Willy Brandt leitete mit seinem Warschauer Kniefall symbolhaft die neue Ostpolitik<br />
ein. In den Rebzeilen rechts wie links der Gironde hingegen reifte bei geradezu<br />
perfekten Bedingungen in aller Ruhe ein wahrhaft großer Jahrgang heran. Die Witterung<br />
in der Region Bordeaux wurde sowohl im Sommer als auch während der Lese von viel<br />
Sonne und nur gelegentlichen milden Niederschlägen geprägt. <strong>Das</strong>s die Winzer zudem<br />
in jenem Jahr von Frost wie von schweren Regenfällen verschont blieben, ergab eine der<br />
gesündesten und größten Ernten ihrer Zeit.<br />
Noch als Tourist und Gast im Bordelais unterwegs<br />
war damals ein junger Amerikaner, der<br />
später die Weinwelt revolutionieren und ihr<br />
seinen gutachterlichen Stempel aufdrücken sollte.<br />
Im Jahr darauf kehrte Robert Parker Jr. zurück und<br />
verkostete entzückt zum ersten Mal einen Jahrgang<br />
vom Fass – es war der 1970er. Der Legende nach<br />
soll dieses Erweckungserlebnis Parkers besondere<br />
Bordeaux-Liebe begründet haben, auf jeden Fall aber<br />
markiert der Jahrgang den Beginn einer Zeitenwende<br />
in der globalen Aufmerksamkeit für die Weine der<br />
Region, die bis heute nachwirkt.<br />
Eine Auswahl von 21 der wichtigsten Bordeaux<br />
von 1970 zu einer Verkostung zusammenzustellen,<br />
erlaubt sowohl eine analytisch-holistische Rückschau<br />
als auch eine Bewertung der Einzelleistungen<br />
58 <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 TASTING
1970<br />
Von DIRK NOTHEIS<br />
Fotos GUIDO BITTNER<br />
der Châteaux aus heutiger Genussperspektive. Nach<br />
mehr als einem halben Jahrhundert ist die Qualität<br />
dabei durchweg konsistent, und der Reifezustand<br />
der Weine, von denen manche immer noch Entwicklungspotential<br />
zeigen, überrascht doch sehr<br />
positiv. Selbst Zweitweine wie Château Latour Les<br />
Forts de Latour beeindrucken durch Präsenz und<br />
Frische. Alle Appellationen des Bordelais haben<br />
1970 Spitzenweine hervorgebracht, und auch vermeintlich<br />
kleinere, heute weniger beachtete Güter<br />
haben Herausragendes geliefert. So zählte Château<br />
Giscours aus Margaux, für Kenner nicht völlig überraschend,<br />
sogar zur absoluten Spitze der Verkostung.<br />
Im horizontalen Vergleich trinken sich die<br />
Weine des rechten Ufers aktuell mit leichtem Vorteil<br />
gegenüber ihren vom Cabernet Sauvignon geprägten<br />
linksseitigen Brüdern. Wer den Merlot zum richtigen<br />
Zeitpunkt ernten und dann schonend verarbeiten<br />
konnte, steuerte zu den 70ern neben dem eh vorhandenen<br />
robusten und für Langlebigkeit bürgenden<br />
Tanningerüst noch ein Plus an Frucht, Fülle und<br />
Fleischigkeit bei. <strong>Das</strong> zeigt nicht nur der Petrus,<br />
ein reiner Merlot und zugleich der beste Wein der<br />
Verkostung, sondern etwa auch die herausragende<br />
Leistung von Château Pichon Comtesse de Lalande<br />
aus dem nördlichen Médoc: Die Comtesse mit ihrem<br />
etwas größeren Merlot-Anteil stellte jetzt auf hohem<br />
Niveau alle benachbarten Premier-Grand-Cru-Güter<br />
aus Pauillac in den Schatten. Aber auch der Cabernet<br />
erreichte 1970 annähernd perfekte Qualität, was<br />
im durchgängig hohen Niveau der Verkostung zum<br />
Ausdruck kam.<br />
Insgesamt wird der Jahrgang 1970 in Vertikalverkostungen<br />
oft zu wenig gewürdigt und damit aus<br />
Kritikerperspektive unter Wert gehandelt. Dies gilt<br />
vor allem im direkten Vergleich mit den Jahrgängen<br />
1945, 1947, 1959, 1961 oder den großen Weinen<br />
der 1980er-Jahre. Dabei war 1970 im Bordelais<br />
zweifelsfrei ein großes Jahr, das Weine von langer<br />
Lebensdauer und Kraft hervorgebracht hat – aus<br />
heutiger Sicht für die gesamte Region der Höhepunkt<br />
zwischen den beiden Jahrhundertjahrgängen 1961<br />
und 1982. Viele Weine haben im Übrigen immer<br />
noch ein längeres Leben vor sich und können bei<br />
guter Lagerung weiter reifen. Die eine oder andere<br />
selektive Anschaffung lohnt sich daher für Kenner<br />
durchaus, falls sich die seltene Gelegenheit dazu<br />
ergeben sollte.<br />
TASTING<br />
<strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 59
BRUCH MIT<br />
DEN CODES<br />
VON<br />
SAUTERNES<br />
SÜSS, ALKOHOLREICH, VOLUMINÖS: DIESE EIGENSCHAFTEN<br />
LIEGEN NICHT GERADE IM TREND. DAZU SIND DIE WEINE<br />
KONSERVATIV IM AUFTRITT, KAPRIZIÖS IN DER ERZEUGUNG UND<br />
STEHEN UNTER STARKEM DRUCK DURCH DIE ERDERWÄRMUNG –<br />
VON EINER KRISE DES SAUTERNES ZU SPRECHEN, IST DA<br />
BEINAHE SCHON EINE UNTERTREIBUNG. AUF CHÂTEAU RIEUSSEC<br />
ANTWORTET MAN DARAUF MIT EINER OFFENSIVE<br />
Von STEFAN PEGATZKY<br />
Fotos GUIDO BITTNER und MARCO GRUNDT<br />
So manche Revolution ereignet sich im Hinterzimmer. Auf Château Rieussec findet sie in<br />
einem kleinen Nebenraum statt. Auf dem Programm steht der zweite Teil der Flaschenabfüllung<br />
des 2019er-Jahrgangs, konkret: Etikettierung, Verkapselung und Verpackung.<br />
Dabei stellt eine Mitarbeiterin die frisch abgefüllten und verkorkten Flaschen auf ein<br />
Förderband, das diese zu einer automatischen Kombi-Anlage aus Laserkodierer, Kapselaufsetzer<br />
und Etikettierer bringt. Am Ende der Strecke nimmt eine Kollegin die Flaschen<br />
in Empfang und packt sie schließlich in handliche Kartons.<br />
So weit, so normal. Doch die Flaschen sind<br />
nicht wie einst klar und schlank, sondern<br />
dunkelgrün und gedrungen, die Etiketten<br />
nicht vornehm in Weiß und Gold gehalten, sondern<br />
knallgelb, und aus den vertrauten Sechser-Holzkisten<br />
sind Viererkartons geworden. Bei so viel Wandel<br />
fragt man sich unwillkürlich: Und was ist mit dem<br />
Wein? Rieussec ist immerhin seit 1855 ein Premier<br />
Grand Cru Classé, Nachbar des legendären Château<br />
d’Yquem und selbst einer der großen Süßweine dieser<br />
Welt. Schmeckt Rieussec noch nach Rieussec?<br />
Tatsächlich war die Verblüffung groß, als Saskia<br />
de Rothschild im Oktober 2<strong>02</strong>1 die neue Verpackung<br />
für den jüngsten Jahrgang präsentierte. »Wir mussten<br />
mit den Codes des Sauternes brechen«, diktierte die<br />
junge Präsidentin der Domaines Barons de Rothschild<br />
(Lafite), zu der Rieussec gehört, in die Mikrofone<br />
der Journalisten, »weil seine Aura verblasst<br />
und sein Konsum selten geworden ist und sich auf<br />
die Feierlichkeiten zum Jahresende beschränkt.«<br />
Der Wein habe es sich, so de Rothschild weiter, »in<br />
der Tradition, der Folklore und der Konvention<br />
bequem gemacht, ohne sich um die übrige Welt<br />
zu kümmern« – ein Wein für einen »Klassizismus«<br />
von gestern, der weder in der Lebensart noch in der<br />
Gastronomie von heute angekommen sei.<br />
Also hat ihr Team den Auftritt von Rieussec neu<br />
definiert, indem es ihn zum einen verjüngt und zum<br />
anderen konsequent in Richtung Nachhaltigkeit ausgerichtet<br />
hat. Wie auf diesem Niveau üblich, gab man<br />
sich nicht mit halben Sachen zufrieden. Weil sich<br />
64 <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 SAUTERNES
SAUTERNES <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 65
VON DER BURG<br />
Vor rund 950 Jahren setzte man am linken Gironde-Ufer andere Prioritäten als heute: Als damals das ursprüngliche<br />
Château de Lamarque errichtet wurde, diente es nicht etwa dem Weinbau, sondern als Festung gegen<br />
die Wikinger. Es folgte eine bewegte Historie, in deren Verlauf im 15. Jahrhundert auch mal der englische<br />
Herzog von Gloucester zum Schlossherrn wurde. Nach der Französischen Revolution erwarb wieder ein Mitglied<br />
der Gründerfamilie das Château, und so kann der heutige Besitzer Pierre-Gilles Gromand d’Evry, der<br />
das Gut gemeinsam mit seiner Frau Marie-Hélène betreibt, seinen Stammbaum in nicht ganz gerader Linie<br />
25 Generationen weit bis zum Erbauer zurückverfolgen.<br />
70 <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 TASTING
ZUM GRAND CRU<br />
Auch wenn Lamarque wegen dieser Geschichte<br />
als ältestes Château der Region gelten kann,<br />
wurde der Weinbau auf seinen Ländereien<br />
bis zu den 1960er-Jahren lange vernachlässigt.<br />
Inzwischen aber wird das Haut-Médoc-Gut seinem<br />
Anspruch als Mitglied der Union des Grands Crus<br />
de Bordeaux voll gerecht und steht durchaus auf<br />
Augenhöhe mit den Grands Crus Classés. Dank einer<br />
parzellengenauen Kartierung der verschiedenen<br />
Schwemmkiesböden mit Lehm und Sandstein im<br />
Untergrund werden die insgesamt 35 Hektar Weinberge<br />
optimal genutzt, die mit 45 Prozent Cabernet<br />
Sauvignon, 35 Prozent Merlot, 15 Prozent Cabernet<br />
Franc und fünf Prozent Petit Verdot bepflanzt sind.<br />
Im Keller arbeitet Pierre-Gilles Gromand d’Evry mit<br />
dem Önologen Eric Boissenot zusammen, der auch<br />
so berühmte Châteaux wie Lafite, Latour, Margaux<br />
und Mouton Rothschild berät.<br />
Der Grand Vin, von dem das Gut pro Jahrgang<br />
im Schnitt 180 000 Flaschen abfüllt, besteht in der<br />
Regel gut zur Hälfte aus Cabernet Sauvignon von<br />
etwa 40-jährigen Rebstöcken, ergänzt durch Merlot<br />
und etwas Petit Verdot, dessen Bedeutung zuletzt<br />
deutlich gewachsen ist. Der Anteil von Cabernet<br />
Franc hingegen ist seit 1998 immer weiter verringert<br />
worden; die Sorte geht mittlerweile größtenteils in<br />
den Zweitwein Donjon de Lamarque ein, der von<br />
bis zu 60 Prozent Merlot dominiert wird.<br />
TASTING<br />
<strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 71
JÜRGEN DOLLASE<br />
NEU DABEI UND<br />
SCHON VOLL DA<br />
JÜRGEN DOLLASE ISST BEI ANTON GSCHWENDTNER<br />
IM MÜNCHNER »ATELIER«<br />
Fotos GUIDO BITTNER<br />
Als Anton Gschwendtner im vorigen August<br />
die Küche des Münchner »Ateliers« übernahm,<br />
lag die Latte dort hoch, schließlich<br />
war das Restaurant im Hotel »Bayerischer Hof« in<br />
den letzten Jahren vom kometenhaften Aufstieg<br />
seines Vorgängers Jan Hartwig geprägt worden.<br />
Der war bis 2014 Sven Elverfelds Souschef im<br />
Wolfsburger »Aqua« gewesen und hatte dann in<br />
München schon 2015 den zweiten und 2017 den<br />
dritten Michelin-Stern erhalten. <strong>Das</strong>s er mit einer<br />
solchen Auszeichnung das »Atelier« 2<strong>02</strong>1 aus<br />
freien Stücken wieder verließ, um demnächst in<br />
München ein eigenes Restaurant zu eröffnen, ist<br />
auch international ein seltener Vorgang und löste<br />
wie üblich allerlei Spekulationen aus, zumal deutlich<br />
wurde, dass die Hotelchefin Innegrit Volkhardt<br />
auf hohem Niveau weitermachen wollte. Dem entsprach<br />
dann Anton Gschwendtner als Nachfolger, der<br />
im Stuttgarter »Olivo« bereits mit zwei Michelin-<br />
Sternen ausgezeichnet worden war. Was viele<br />
Beobachter nicht wissen: Neben Hartwig hatte in<br />
den schwierigen Corona- und Lockdown-Zeiten<br />
fast die gesamte Küchen- und Servicebrigade das<br />
»Atelier« verlassen, darunter der Sommelier Jochen<br />
Benz und die Restaurantleiterin Barbara Engelbrecht.<br />
Trotz dieses radikalen Umbruchs sitzt das<br />
derzeitige Team schon wenige Monate nach der<br />
Wiedereröffnung im November 2<strong>02</strong>1 fest im Sattel<br />
und hat gleich vom Start weg im Guide Michelin<br />
erneut zwei Sterne bekommen.<br />
Der 37-jährige ANTON GSCHWENDTNER<br />
(im Foto links) stammt aus Freising und hat im<br />
»Forsthaus am See« in Possenhofen gelernt. Sein<br />
Weg führte ganz klar in Richtung Spitzenküche,<br />
mit Stationen im »Bareiss« in Baiersbronn, im<br />
»Acquarello« in München, in »Johann Lafers Stromburg«,<br />
in »Petermann’s Kunststuben« in Küssnacht<br />
und schon einmal von 2006 bis 2014 (also vor der<br />
Hartwig-Zeit) im »Atelier« im »Bayerischen Hof«,<br />
zuletzt als Souschef. Chef de Cuisine war er danach<br />
im Münchner »Délice La Brasserie«, im Wiener<br />
»<strong>Das</strong> Loft« und von 2018 bis 2<strong>02</strong>1 im Stuttgarter<br />
»Olivo«, ehe er als Küchenchef ins »Atelier« zurückkehrte.<br />
Gschwendtner verfügt über sehr gute handwerkliche<br />
Grundlagen und hat sich vor allem auf<br />
den virtuosen Umgang mit Aromen aus aller Welt<br />
spezialisiert, die er in oft komplexen und kreativen<br />
Gerichten zusammenführt.<br />
Neuer Sommelier im »Atelier« ist seit Januar<br />
dieses Jahres der 1987 geborene SHAHZAD<br />
TALUKDER (rechts im Bild). Er ist erst durch<br />
Studentenjobs auf diesen Beruf gekommen, hat dann<br />
aber konsequent und vielseitig interessiert an seiner<br />
Ausbildung gearbeitet: Noch vor dem Abschluss<br />
als Sommelier legte er eine Tea-Master-Prüfung<br />
ab, und vor Kurzem gewann er eine Auszeichnung<br />
beim Sake-Pairing-Contest der japanischen Sake<br />
and Shochu Makers Association. Seine Stationen<br />
waren das Hotel »The Chedi« im schweizerischen<br />
Andermatt, das »Falkenstein Grand Kempinski«<br />
in Königstein im Taunus, das Dresdner »Bean &<br />
Beluga« und zuletzt das Restaurant »Léa Linster«<br />
im luxemburgischen Frisange.<br />
84 <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 WEIN & SPEISEN
WEIN & SPEISEN<br />
WEIN & SPEISEN <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 85
KLASSE<br />
AUS DER<br />
EINSAMKEIT<br />
ALS SPÄTSTARTER UNTER SPANIENS GROSSEN WEINREGIONEN<br />
HAT SICH DAS PRIORAT AB 1989 IN KÜRZESTER ZEIT EINEN<br />
BEINAH MYTHISCHEN RUF ERWORBEN. FAMILIA TORRES HATTE<br />
HIER SCHON VOR GUT 100 JAHREN WEIN ERZEUGT, BEVOR<br />
BÜRGERKRIEG UND DIKTATUR SIE AUS DER ABGELEGENEN<br />
GEGEND AM FUSSE DES MONTSANT-MASSIVS VERTRIEBEN.<br />
INZWISCHEN IST TORRES ZURÜCKGEKEHRT UND PRODUZIERT<br />
HIER DEN EXKLUSIVEN MAS DE LA ROSA<br />
Von STEFAN PEGATZKY<br />
Fotos JOHANNES GRAU<br />
Wie ein Tigerfell schimmert das Gestein in der Sonne mit seinen Streifen von Orange,<br />
Gold und Schwarz. »Llicorella« nennen die Katalanen den quarzhaltigen Schiefer, der<br />
hier in der Gemarkung von Porrera im Osten des Priorats besonders hart und durch etwas<br />
Eisenanteil auch rötlich ausfallen kann. Es ist ein Sediment vom Boden des Urmeeres<br />
Thetys, das bei der Entstehung der Pyrenäen durch die Kollision von Afrikanischer und<br />
Eurasischer Erdplatte nach oben gefaltet und nach Jahrmillionen der Erosion schließlich<br />
nahezu blank an der Erdoberfläche freigelegt wurde – die ältesten Steinschichten in<br />
Katalonien. Den Weinreben liegt der Schiefer, weil er Sonnenwärme speichert und nachts<br />
wieder abgibt, so wie an Mosel und Ahr oder im portugiesischen Duoro. Llicorella-Böden<br />
finden sich vereinzelt auch im Penedès, mit Lehm vermengt zudem in der benachbarten<br />
Appellation Montsant, in dieser Dichte aber einzig im Priorat.<br />
Miguel Torres Maczassek liebt dieses<br />
spektakulär unwirtliche Land und seine<br />
Böden, das schon vor gut 100 Jahren<br />
zur Geschichte des Familienweinguts gehörte.<br />
<strong>Das</strong> belegen Flaschen aus den 1920er-Jahren im<br />
Firmenarchiv, etwa ein Coronas Priorato Superior<br />
Abocado (also halbtrocken) 1923 oder ein vermutlich<br />
trockener Tres Torres Priorato Superior 1928. <strong>Das</strong><br />
war nicht selbstverständlich, lagen doch gut 100 Kilometer<br />
(und wegen der schwierigen Straßenverhältnisse<br />
eine stundenlange Reise) zwischen dem Torres-<br />
Hauptsitz Vilafranca del Penedès und Escaladei,<br />
dem Ursprungsort der Weinproduktion im Priorat.<br />
Doch was der von den Römern begonnene und von<br />
Kartäusermönchen im 12. Jahrhundert wiederbelebte<br />
Weinbau hervorbrachte, hatte sich bereits<br />
96 <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 KATALONIEN
WILLKOMMEN IM<br />
METAVERSUM!<br />
KRYPTOWÄHRUNG, BLOCKCHAIN, NFTS – SOLCHE BEGRIFFE<br />
AUS DER DIGITALEN WELT FALLEN IMMER ÖFTER AUCH DANN,<br />
WENN ES UM WEIN GEHT. ABER WIE SOLLEN DAS SINNLICHE<br />
GETRÄNK UND DIE VIRTUELLE SPHÄRE DES INTERNETS<br />
ZUSAMMENKOMMEN? VIELLEICHT UNGEFÄHR SO WIE IN<br />
UNSEREM KLEINEN SZENARIO AUS DEM JAHR 2<strong>02</strong>5<br />
Von STEFAN PEGATZKY<br />
Gleich war es neun Uhr, Eva wartete<br />
sicher schon. Adam kam aus dem Bad<br />
und lockerte den Hemdkragen. Gerade<br />
ging die Sonne unter, und das adaptive Fensterglas<br />
passte seine Durchlässigkeit an den orange<br />
glühenden Himmel an. »Hey Siri, intim«, flüsterte<br />
Adam in Richtung HomePod, und kurz darauf entsprachen<br />
Hintergrundmusik und Beleuchtung<br />
seinem Wunsch. Auf dem Tisch stand eine Flasche<br />
Wein, die Adam bereits vor einer Stunde geöffnet<br />
hatte. Auch ihre Echtheit hatte er geprüft, obwohl<br />
sein Händler zu den renommiertesten in der City<br />
gehörte. Aber es machte ihm einfach Spaß, mit<br />
der App die Blockchain-Einträge zu durchstöbern.<br />
Nun scannte Adam den QR-Code auf dem Rückenetikett<br />
mit seinem Amazon-Fire-Stick und stellte<br />
dann sein Smartphone auf einen schmalen Ständer<br />
vor der Flasche, direkt auf das Label mit dem Porträt<br />
einer jungen Frau gerichtet. »Mal sehen …«, murmelte<br />
er, schaltete den Flachbildschirm an der Wand an und<br />
öffnete dann das Kameramenü seines Handys. Jetzt<br />
war endlich der Moment für sein Romance-Token<br />
gekommen, das er vor drei Jahren beim Kauf erhalten<br />
hatte − einer der kleinen Boni zu seiner nicht ganz<br />
unerheblichen Bestellung. Wie fast alle ihrer Freunde<br />
lebten Adam und Eva in einer »LDR«, einer »longdistance<br />
relationship«, und viele Weingüter hatten<br />
sich mit speziellen Angeboten darauf eingestellt.<br />
Eine kleine pulsierende LED in der Statusanzeige<br />
seines Handys signalisierte Adam, dass<br />
auch Eva sich online eingeloggt hatte. Nur wenige<br />
Augenblicke später erschien sie auf dem Bildschirm,<br />
und das Porträt auf der Flasche nahm ihre Züge an.<br />
1<strong>02</strong> <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 INNOVATION
MEHR ALS NUR EIN<br />
ROSÉ ENTWICKELT SICH<br />
112 <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 DAS GROSSE DUTZEND
TREND:<br />
ZUM NEUEN CHAMPAGNER<br />
DAS GROSSE DUTZEND <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 113
OBST OHNE<br />
VERFALLSDATUM<br />
DIE FRUCHT INS GLAS ZU BRINGEN, IST LAUT BRENNMEISTER<br />
PAUL MAIER DAS ZIEL DER EDELBRENNEREI ZIEGLER. DER<br />
TRADITIONSBETRIEB ERREICHT ES SO ZUVERLÄSSIG, DASS<br />
SELBST BEI DEN FAST HUNDERTJÄHRIGEN RARITÄTEN AUS<br />
SEINEM KELLER DIE ZWETSCHGEN NOCH PRÄSENT SIND<br />
Von UWE KAUSS<br />
Fotos ARNE LANDWEHR<br />
128 <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 OBSTBRAND
Eine halbe Stunde östlich von Frankfurt beginnt ein unbekanntes Genießerland. Der Spessart entlang des<br />
Mains bildet ein über Jahrhunderte zusammengefügtes Patchwork mit Obstwiesen und Feldern, Orten voll<br />
von barockem Fachwerk und Rebzeilen in den Weinbergen am Fluss. Hier scheinen die Uhren in einem etwas<br />
ruhigeren Takt als woanders zu schlagen. <strong>Das</strong> Dreiländereck von Baden-Württemberg, Hessen und Bayern<br />
ist vor allem eine Geschmacksregion: In Klingenberg hebt der frühere Sternekoch Ingo Holland mit seinem<br />
»Alten Gewürzamt« das Würzen von Speisen auf ein neues Niveau, nebenan in Bürgstadt hat das fränkische<br />
VDP-Spitzenweingut Rudolf Fürst seinen Sitz, und noch ein paar Kilometer weiter den Fluss hinauf wird in<br />
der Edelbrennerei Ziegler seit Generationen der Obstbrand gepflegt.<br />
Die feinen Destillate entstehen zwischen Mainufer, Hauptstraße<br />
und Waldrand in Freudenberg, am nördlichsten<br />
Zipfel Baden-Württembergs. 1865 von Gustav Joseph<br />
Ziegler als Brauerei mit Brennrecht gegründet, produziert der<br />
Betrieb seit 1985 Deutschlands wohl bekanntesten Edelbrand:<br />
Der »No. 1 Wildkirsch« hat in der Spitzengastronomie den<br />
Standard gesetzt. Paul Maier ist heute einer der ältesten Mitarbeiter<br />
von Ziegler, aber mit seinen erst 32 Jahren zugleich der<br />
jüngste Destillateurmeister Deutschlands. Der Bartträger mit<br />
T-Shirt über der Arbeitshose schaut hoch zur Bergkuppe, wo<br />
die Mauern der Burg Freudenberg die Baumwipfel überragen,<br />
Fahnen flattern. Dem Buntsandstein haben die verschiedenen<br />
Eigner der Brennerei im Laufe der vergangenen 157 Jahre immer<br />
mehr Raum abgetrotzt.<br />
Paul Maier zeigt aufs Dach der in den Berg gebauten Lagerhalle<br />
hinter dem ehemaligen Brauerei-Gasthaus. Dort warten<br />
26 große Gärtanks mit eingebauten Rührwerken auf das Obst<br />
des nächsten Sommers. »Wir produzieren zwischen 130 000<br />
und 140 000 Flaschen pro Jahr und verarbeiten dabei etwa<br />
800 Tonnen Obst«, erzählt Maier und blinzelt in die Frühlingssonne:<br />
»Unser Konzept ist, die Frucht ins Glas zu bringen.« Damit<br />
dies so intensiv wie möglich gelinge, werde bei der Gärung durch<br />
OBSTBRAND <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 129
CHARAKTER<br />
SIEGT ÜBER DIE<br />
GEFÄLLIGKEIT<br />
PHILIPP WITTMANN IST SEIT ZWEI JAHRZEHNTEN EINE PRÄGENDE<br />
KRAFT DER DEUTSCHEN RIESLING-KULTUR. DER RHEINHESSE HAT MIT<br />
WEITSICHT UND DER RÜCKENDECKUNG SEINER FAMILIE MASSSTÄBE<br />
DAFÜR GESETZT, WIE DIE REBSORTE SCHMECKEN KANN UND SOLL –<br />
NICHT ZULETZT, INDEM ER SICH SELBSTBEWUSST GEGEN SCHEINBAR<br />
ÜBERMÄCHTIGE STILDIKTATE AUS ÜBERSEE ZUR WEHR SETZTE<br />
Von STUART PIGOTT<br />
Fotos CHRISTOF HERDT<br />
Ein geschichtsträchtiger Moment steht mir noch quicklebendig<br />
vor Augen: Berlin am 2. Oktober 1990, der Vorabend<br />
der deutschen Wiedervereinigung. Die friedliche<br />
Menschenmenge wird von der Polizei auf fast eine Million<br />
Personen geschätzt. Bei heiterem Herbstwetter herrscht Hochstimmung,<br />
als ich mich mit Tausenden Menschen vom Brandenburger<br />
Tor in Richtung Fernsehturm bewege. Eine Reihe von<br />
Bühnen ist entlang der Straße Unter den Linden aufgebaut,<br />
und auf jeder davon spielen Musiker etwas ganz anderes als<br />
ihre Nachbarn – im Vorbeilaufen mischen sich die unterschiedlichsten<br />
Klänge auf wunderbare und witzige Weise. Dann stehe<br />
ich auf dem Bebelplatz und traue meinen Augen kaum: Einen<br />
der kleinen Stände dort betreibt das Weingut Wittmann aus<br />
dem rheinhessischen Westhofen.<br />
»<strong>Das</strong> ist ja eine schöne Überraschung!«, ruft Elisabeth<br />
Wittmann hinter dem Tresen und stellt mir ihren 16-jährigen<br />
Sohn Philipp vor, der ihr am Stand hilft. Sie hat recht! Fast zwölf<br />
Stunden bin ich heute von Bernkastel an der Mosel nach Berlin<br />
gefahren, nachdem ich sehr früh am Morgen das Nötigste in<br />
meine Taschen geworfen hatte – und etwas Unnötiges: meine<br />
letzte Flasche Krug 1975 Vintage-Champagner. Ähnlich bunt<br />
ist die Mischung von Gedanken in meinem Kopf, darunter<br />
auch Erinnerungen an meinen ersten Besuch bei Wittmanns<br />
vor wenigen Wochen. Die trockene 1989er Riesling-Spätlese<br />
aus der Lage Morstein, die Elisabeth und ihr Mann Günter mir<br />
eingeschenkt haben, hat sich mir eingeprägt, ein richtig guter<br />
Wein für die damals noch ziemlich unbekannte Ecke von Rheinhessen.<br />
Er bleibt jedoch deutlich hinter den besten Gewächsen<br />
136 <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 RHEINHESSEN
RHEINHESSEN <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2 137
<strong>FINE</strong> DAS WEINMAGAZIN 3|2<strong>02</strong>2 erscheint<br />
im September 2<strong>02</strong>2<br />
… voraussichtlich mit diesen Themen: ÖSTERREICH Schloss Gobelsburg im Kamptal<br />
BORDEAUX Château Cheval Blanc und Château Duhart-Milon in Pomerol, Château<br />
Beauregard in Saint-Émilion KATALONIEN <strong>Das</strong> Wein- und Olivengut Purgatori der<br />
Familie Torres in den Costers del Segre NAHE Dönnhoff – Spitzenriesling in vierter<br />
Generation VERKOSTUNGEN 49 Jahrgänge L’Église Clinet aus Pomerol sowie Edles<br />
vom Adel – frucht- und edelsüße Rieslinge der Jahrgänge 1971 bis 1990 von Rheingauer<br />
Domänen WEIN & SPEISEN mit Jürgen Dollase DAS GROSSE DUTZEND •<br />
WEIN & ZEIT <strong>Das</strong> »deutsche Weinwunder« in Rot WEINHAMMER Die Auktionen von<br />
2<strong>02</strong>1 KOLUMNEN von Ursula Heinzelmann, Stuart Pigott sowie den Kombattanten<br />
Uwe Kauss und Dirk Würtz<br />
144 <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2
<strong>FINE</strong>ABGANG<br />
DIE KRAFT<br />
DER VISIONEN<br />
Es gibt ja erfreulich viele Winzer, die Jahr für Jahr eine hohe, teils auch<br />
großartige Qualität auf die Flasche bringen. Manchmal aber triff man in<br />
der Branche auf einzelne Menschen, die durch ihre Persönlichkeit noch<br />
besonders herausragen. Sie werden getrieben von einem inneren Bild dessen, was<br />
werden könnte, und von ihrer Leidenschaft, Dinge zu entwickeln – auf diese Art<br />
hat Robert Mondavi einst das Napa Valley wiederbelebt und Kalifornien zurück<br />
auf die Weinkarten gebracht. Ein solcher Visionär kann aus einer traditionsreichen<br />
Winzerfamilie stammen, deren Arbeit er plötzlich auf eine neue Stufe hebt und<br />
das Image der ganzen Region gleich mit, so wie das Lamberto Frescobaldi in der<br />
Toskana, Erwin Sabathi in der Steiermark oder Wilhelm Weil im Rheingau getan<br />
haben. Ebenso gut jedoch taugen Quereinsteiger für diese Rolle, das beweisen<br />
etwa Michael Moosbrugger mit dem Kamptaler Schloss Gobelsburg und Georg<br />
Weber mit seinem südtoskanischen Monteverro.<br />
In Zukunft, davon bin ich überzeugt, wird man auch Wolfgang Reitzle zu<br />
diesem illustren Kreis zählen können – was er auf seinem Gut Villa Santo Stefano<br />
leistet, das wir ab Seite 14 vorstellen, beobachte ich seit den Anfängen vor zwei<br />
Jahrzehnten mit großer Freude. Zwar wirkt der Weg zum Weinbau für den Ingenieur<br />
und Manager noch weiter als für den Hotelierssohn Moosbrugger oder den<br />
Gartenmarkt-Unternehmer Weber. Aber wie der Perfektionist Reitzle danach<br />
strebt, den besten Wein Italiens zu machen, das ist einfach beeindruckend. In<br />
den Hügeln von Lucca ist ihm schon sehr viel gelungen, und mit der jüngsten<br />
Expansion in die Maremma könnte er das Ziel tatsächlich erreichen. Vorerst ist<br />
sein Loto immerhin schon das Beste, was die Region hergibt, so wie auf seinem<br />
Gebiet das Olivenöl der Villa.<br />
Ihr Ralf Frenzel<br />
Herausgeber und Verleger<br />
146 <strong>FINE</strong> 2 | 2<strong>02</strong>2
POLNISCHER ROGGEN<br />
REINES WASSER<br />
ÜBER FEUER DESTILLIERT<br />
Belvedere empfiehlt massvoll-geniessen.de