Zukunft Forschung 01/2017
Das Forschungsmagazin der Universität Innsbruck
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SLAWISTIK
wissenschaft, Grund genug, der Frage
nachzugehen, welche Auswirkungen die
Oktoberrevolution auf die Gesellschaft
und Kultur hatte und wie diese Veränderungen
aus heutiger Sicht einzuschätzen
sind. Die Forscherinnen organisierten
dafür in Innsbruck eine international
besetzte Vortragsreihe, wichtig sei ihnen
dabei gewesen, betonen Birzer und
Binder, dass neben Experten aus dem
deutschsprachigen Raum auch russische
Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen:
„Es sollte kein reines ‚Wir reden über sie‘
werden.“ (Russischkenntnisse waren bei
den Vorträgen übrigens keine nötig, sie
wurden von Studierenden des Instituts
für Translationswissenschaft simultan
gedolmetscht.)
Neue Formen
Ein Ziel sei für die zwei Slawistinnen
gewesen, mangelndes Wissen über das
damalige, durchaus blutige Geschehen
zu schließen, und zu zeigen, dass es
auf solche Ereignisse keine einfachen
Antworten gebe. So könne man aus
sprach- und kulturwissenschaftlicher
„Vieles, was nach der Revolution
passiert ist, hat seinen Ursprung
in den Jahren zuvor.“ Sandra Birzer
MÄRZ 1917: In Petrograd kommt
es zu Demonstrationen (Bild) und
Zusammenstößen zwischen streikenden
Arbeitern und dem Militär, die
Streiks weiten sich zum Generalstreik
aus | Die Duma verweigert ihre von
Zar Nikolaus II. verfügte Auflösung |
Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten
| Abdankung des Zaren | Die
Duma proklamiert die Bildung einer
bürgerlichen Regierung | Die Zarenfamilie
wird verhaftet
APRIL 1917: Lenin erreicht von der
Schweiz kommend Petrograd | In
seinen „Aprilthesen“ fordert Lenin eine
sozialistische Revolution zur Ablösung
der bürgerlichen Regierung
MAI 1917: Eine neue Regierung unter
Beteiligung von Sozialdemokraten
wird gebildet
JULI 1917: In Petrograd wird ein
bewaffneter Massenaufstand gegen
die Regierung niedergeschlagen |
Alexander Kerenski wird Ministerpräsident
| Nach dem gescheiterten Putsch
flieht Lenin
SEPTEMBER 1917: Kerenski proklamiert
die Republik | Der Petrograder
Arbeiter- und Soldatenrat wählt ein
bolschewistisches Präsidium unter
Leitung von Trotzki
OKTOBER 1917: Auflösung der
Duma | Boykott des Vorparlaments
durch die Bolschewiki | Lenin beschließt
den bewaffneten Aufstand
gegen die Regierung
NOVEMBER 1917: Besetzung
strategisch wichtiger Punkte in Petrograd
durch die Roten Garden | Die
Bolschewiki stürmen den Winterpalast
| Flucht Kerenskis | Der allrussische Rätekongress
billigt die bolschewistische
Machtübernahme | Bildung einer
Regierung der Volkskommissare unter
dem Vorsitz von Lenin
Sicht nicht sagen, dass die Revolution
der alleinige Auslöser für Neuerungen
und avantgardistische Strömungen gewesen
sei. „Vieles, was nach der Revolution
passiert ist, hat seinen Ursprung
in den Jahren zuvor“, erläutert Birzer.
Zum Beispiel verabschiedete der Rat
der Volkskommissare im Oktober 1918 –
im Sinne der neuen Gesellschaft – eine
neue Rechtschreibung, die das moderne
russische Alphabet mit 33 Buchstaben
und eine Vereinfachung der Orthografie
mit sich brachte, den Startschuss für die
Rechtschreibreform hatte die Russische
Akademie der Wissenschaften aber
schon im Jahr 1904 gesetzt. Birzer: „Auch
heute noch schreibt man nach diesen Regeln.“
Die Akademie war es auch, die sich in
den 1920er Jahren mit der Verschriftlichung
zahlreicher Sprachen beschäftigte.
Im Vielvölkerstaat Russland hatten viele
kleine Völker in Sibirien keine Schrifttradition,
mit neu kreierten Schriftsprachen
– anfangs sogar im lateinischen Alphabet
– wurde das kulturelle Erbe dieser
Völker erstmals aufgezeichnet und für
die Nachwelt erhalten, für die Sprachwissenschaftlerin
Sandra Birzer auch
heute noch „eine Riesenleistung“.
Wirklich neu in der postrevolutionären
Zeit war der Film, Künstler wie Sergei Eisenstein
(Panzerkreuzer Potemkin, 1925)
oder Wsewolod Pudowkin (Die Mutter,
1926) erregten internationale Aufmerksamkeit,
Literatur, Musik, Theater und
Malerei hingegen konnten auf Vorarbeiten
aufbauen. „Avantgardistische
Strömungen gab es in Russland ab den
1910er Jahren, Kasimir Malewitsch etwa
malt das berühmte ‚Schwarze Quadrat
auf weißem Grund‘ im Jahr 1915“, sagt
Binder. Überhaupt wäre Russland ab
1890 in den Bereichen Wirtschaft und
„In den 1920er Jahren wurden
neue Kinderbücher geschrieben,
sie beeinflussten die Generation,
die in den 1950er Jahren
künstlerisch aktiv wurde.“ Eva Binder
Kultur ein sehr dynamischer Staat gewesen,
„der Historiker Karl Schlögel nennt
das damalige Petersburg ein Laboratorium
der Moderne“. Mit der Revolution
kam für Binder ein weiteres dynamisches
Moment dazu, „aber unter anderen Vorzeichen“.
Ab 1927 wird in die künstlerische
Vielfältigkeit von politischer Seite
eingegriffen, formale Experimente sind
verpönt, deren Anhänger werden des
Formalismus bezichtigt und müssen öffentlich
Selbstkritik üben. 1934 wird der
sozialistische Realismus offizielle Kulturdoktrin,
die Zeit der Avantgarde ist vorbei,
sie hat aber ihre Spuren hinterlassen
– auch in Kinderbüchern.
„In den 1920er Jahren wurden viele
neue Kinderbücher geschrieben, auch
von bekannten Autoren wie Ossip Mandelstam
oder Daniil Charms. Diese Kinderbücher
waren in den russischen
Haushalten sehr präsent und beeinflussten
die Generation, die in den 1950er
Jahren künstlerisch aktiv wurde“, erzählt
Eva Binder. Es ist die Tauwetter-
Periode, „in der man sich bewusst der
Avantgarde besinnt“. Die Phase währte
nur wenige Jahre, mit der Entmachtung
Nikita Chruschtschows durch Leonid
Breschnew im Oktober 1964 endete die
Tauwetter-Periode. ah
zukunft forschung 01/17 31