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Casjen Griesel & Tina Pahnke (Hrsg.) | Mond, Sterne und dazwischen wir

Sky und Lua bekommen Besuch von einem anderen Stern. Anna sieht einen Prinzen mit Schreibproblemen. Mehtap ist für Lena das mutigste Mädchen der Welt. Alex freut sich über ein »Pass doch auf, Junge!« Io rettet geflüchtete Erdlinge. Marek muss seinen Kakao ohne seine Mutter trinken. Sumire fühlt sich fremd in ihrer neuen Klasse. Leon erweist sich als echter Freund. Ferdinand macht seinen dementen Opa glücklich und Romina weiß alles über Sternschnuppen. 18 Autor:innen erzählen über Kinder, die Freundschaft und Verbundenheit erleben. Aber auch Mobbing, Krankheit, Flucht, Armut und Rassismus. Über Kinder, die Liebe und Angenommensein erfahren. Aber auch Verlust und Ausgrenzung, Tod, Trauer und Angst. Über Kinder, die queer sind, und solche, die sich quer stellen. Geschichten voller Leben von Nadine Buch, Hanne Benden, Jenny Cazzola, Susanne Maria Emka, Melanie Gerber, Agnes Gerstenberg, Alexandra Gutzke, Christin Habermann, Margarita Kinstner, Miou Sascha Hilgenböcker, Jona Manow, Petra Ottkowski, A. Scharmin Shakoor, Katharina Spengler, Dennis Stephan, T. B. VoThi, Heike Westendorf, Marcel Weyers.

Sky und Lua bekommen Besuch von einem anderen Stern. Anna sieht einen Prinzen mit Schreibproblemen. Mehtap ist für Lena das mutigste Mädchen der Welt. Alex freut sich über ein »Pass doch auf, Junge!« Io rettet geflüchtete Erdlinge. Marek muss seinen Kakao ohne seine Mutter trinken. Sumire fühlt sich fremd in ihrer neuen Klasse. Leon erweist sich als echter Freund. Ferdinand macht seinen dementen Opa glücklich und Romina weiß alles über Sternschnuppen.

18 Autor:innen erzählen über Kinder, die Freundschaft und Verbundenheit erleben. Aber auch Mobbing, Krankheit, Flucht, Armut und Rassismus. Über Kinder, die Liebe und Angenommensein erfahren. Aber auch Verlust und Ausgrenzung, Tod, Trauer und Angst. Über Kinder, die queer sind, und solche, die sich quer stellen. Geschichten voller Leben von Nadine Buch, Hanne Benden, Jenny Cazzola, Susanne Maria Emka, Melanie Gerber, Agnes Gerstenberg, Alexandra Gutzke, Christin Habermann, Margarita Kinstner, Miou Sascha Hilgenböcker, Jona Manow, Petra Ottkowski, A. Scharmin Shakoor, Katharina Spengler, Dennis Stephan, T. B. VoThi, Heike Westendorf, Marcel Weyers.

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z<br />

<strong>Mond</strong>, <strong>Sterne</strong><br />

<strong>und</strong><br />

]<br />

<strong>dazwischen</strong> <strong>wir</strong>


Geschichten<br />

voller Leben<br />

SKY <strong>und</strong> LUA bekommen Besuch von einem<br />

anderen Stern. ANNA sieht einen Prinzen mit<br />

Schreibproblemen. MEHTAP ist für LENA das<br />

mutigste Mädchen der Welt. ALEX freut sich über<br />

ein »Pass doch auf, Junge!« IO rettet geflüchtete<br />

Erdlinge. MAREK muss seinen Kakao ohne seine<br />

Mutter trinken. SUMIRE fühlt sich fremd in ihrer<br />

neuen Klasse. LEON erweist sich als echter Fre<strong>und</strong>.<br />

FERDINAND macht seinen dementen Opa glücklich<br />

<strong>und</strong> ROMINA weiß alles über Sternschnuppen.<br />

Diese <strong>und</strong> noch viele andere Geschichten erzählen<br />

Hanne Benden, Nadine Buch, Jenny Cazzola,<br />

Susanne Maria Emka, Melanie Gerber, Agnes<br />

Gerstenberg, Alexandra Gutzke, Christin<br />

Habermann, Miou Sascha Hilgenböcker, Margarita<br />

Kinstner, Jona Manow, Petra Ottkowski, A. Scharmin<br />

Shakoor, Katharina Spengler, Dennis Stephan, T. B.<br />

VoThi, Heike Westendorf <strong>und</strong> Marcel Weyers.<br />

ISBN 978-3-947066-03-2


<strong>Casjen</strong> <strong>Griesel</strong> & <strong>Tina</strong> <strong>Pahnke</strong> (<strong>Hrsg</strong>)<br />

Geschichten aus unserem<br />

bunten Universum<br />

von<br />

Hanne Benden, Nadine Buch, Jenny Cazzola, Susanne Maria Emka,<br />

Melanie Gerber, Agnes Gerstenberg, Alexandra Gutzke, Christin<br />

Habermann, Miou Sascha Hilgenböcker, Margarita Kinstner, Jona<br />

Manow, Petra Ottkowski, A. Scharmin Shakoor, Katharina Spengler,<br />

Dennis Stephan, T. B. VoThi, Heike Westendorf <strong>und</strong> Marcel Weyers.


Leseprobe:<br />

von jeder Geschichte<br />

die ersten beiden Seiten<br />

www.verlag-monikafuchs.de<br />

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation<br />

in der Deutschen Nationalbibliografie;<br />

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<br />

http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

ISBN 978-3-947066-03-2<br />

auch als eBook erhältlich<br />

© 2022 by Verlag Monika Fuchs | Hildesheim<br />

Layout <strong>und</strong> Satz: Die Bücherfüxin | www.buecherfuexin.de | Hildesheim<br />

Cover-/Umschlaggestaltung: Buchgewand Coverdesign | www.buch-gewand.de<br />

Bildnachweis: Cover grandfailure – stock.adobe.com; Mikhail Doroshenko; Elymas<br />

– beide shutterstock.com | Innenteil S. 7: vectorfusionart/ Yaruta/Mogli;<br />

S. 20: Vitalina_G; S. 30: Koraysa; S. 39: tan4ikk; S. 50: gorsh13; S. 61: sokor ;<br />

S. 69: Alexandrumusuc; S. 77: pixelaway; S. 84: hdmphoto; S. 94: arthurhidden;<br />

S. 105: lightsource; S. 115: pongans68@gmail.com; S. 124: Hackman;<br />

S. 135: JohanSwanepoel; S. 147: Maximusdn; S. 157: info.jens-hertel.de; S. 169: Vejaa;<br />

S. 179: r8vfanDP – alle depositphotos.com<br />

Printed in EU 2022


z<br />

Unsere<br />

Geschichten<br />

]<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Wer wissen möchte, worum es in den Geschichten geht, findet<br />

auf S. 191 einige Stichworte. Wer sich überraschen lassen<br />

möchte, liest einfach los!<br />

Miou Sascha Hilgenböcker<br />

Das Blaue W<strong>und</strong>er 7<br />

Heike Westendorf<br />

Das Lied der Weltraumwale 20<br />

Christin Habermann<br />

Mehtap rennt 30<br />

Agnes Gerstenberg<br />

Ein Schwert für Anna 39<br />

Dennis Stephan<br />

Hühner götter 50<br />

Alexandra Gutzke<br />

Toni <strong>und</strong> die perfekte Marie 61<br />

Marcel Weyers<br />

Besuch von den <strong>Sterne</strong>n 69<br />

llllllllllllllll<br />

5 b


Inhaltsverzeichnis<br />

qllllllllllllllll<br />

Katharina Spengler<br />

Meine Brüder 77<br />

Melanie Gerber<br />

Tage mit Sternschnuppen 84<br />

Hanne Benden<br />

Einfach Alex 94<br />

T. B. VoThi<br />

Der Spielplatz auf dem <strong>Mond</strong> 105<br />

Nadine Buch<br />

Sirius – fernes Leuchten 115<br />

Jenny Cazzola<br />

Ich bin nicht störde! 124<br />

Jona Manow<br />

Das Rätsel der Schleimspur 135<br />

A. Scharmin Shakoor<br />

Namin fliegt aus der Bahn 147<br />

Petra Ottkowski<br />

Pommesbunker 157<br />

Margarita Kinstner<br />

Ein echter Fre<strong>und</strong> 169<br />

Susanne Maria Emka<br />

In Opas Universum 179<br />

a 6<br />

Die Autor:innen stellen sich vor 187<br />

Themen <strong>und</strong> Stichworte 191<br />

llllllllllllllll


z<br />

Das Blaue<br />

W<strong>und</strong>er<br />

]<br />

Miou Sascha Hilgenböcker<br />

D<br />

ie Abenddämmerung legte sich über die Küstenstadt. Lua,<br />

Sky <strong>und</strong> Bo schauten erwartungsvoll aus dem obersten<br />

Fenster des roten Backsteinhauses, in dem Lua gemeinsam<br />

mit ihrer Mutter lebte. Da erschien endlich der erste Stern am<br />

dunkelblauen Himmel.<br />

»Der Abendstern!«, rief Sky.<br />

»Der Morgenstern«, grinste Lua.<br />

Vor einigen Wochen hatten sie einen ganzen Nachmittag<br />

lang darüber diskutiert, bis sie feststellten, dass beide Recht<br />

gehabt hatten. Denn die Venus, die heller strahlt als jeder andere<br />

Stern oder Planet, leuchtet mal als Morgen- <strong>und</strong> mal als<br />

Abendstern vom Himmel.<br />

»Der <strong>Sterne</strong>nfänger ist startklar!«, meldete Sky nach einem<br />

letzten prüfenden Blick.<br />

Bo bellte <strong>und</strong> wedelte aufgeregt mit dem zotteligen Schwanz,<br />

so als würde er rufen: »Endlich geht es los!«<br />

llllllllllllllll<br />

7 b


Miou Sascha Hilgenböcker<br />

qllllllllllllllll<br />

»Möchtest du anfangen, Lua?«, fragte Sky. Schließlich war<br />

sie heute das Geburtstagskind. Die beiden tauschten die Plätze.<br />

Lua strich sich ihre Locken aus dem Gesicht <strong>und</strong> blickte<br />

gespannt durch die Linse des <strong>Sterne</strong>nfängers.<br />

a 8<br />

<strong>Sterne</strong>nfänger, so nannten sie das Teleskop, das Lua von ihrer<br />

Mutter zum siebten Geburtstag geschenkt bekommen hatte.<br />

Es war der erste Geburtstag, den Lua an der norddeutschen<br />

Küste verbracht hatte. Damals war sie oft traurig, ihr strahlendes<br />

Lachen war kaum noch zu sehen gewesen. Sie vermisste<br />

Salvador, ihre Heimatstadt im Nordosten Brasiliens. Sobald<br />

sie an die Kinder aus ihrer früheren Nachbarschaft dachte,<br />

mit denen sie so gern gespielt hatte, spürte sie einen schmerzhaften<br />

Stich im Herzen. Ihr fehlten die Straßen <strong>und</strong> Plätze Salvadors,<br />

die immer voller Leben waren. Sie sehnte sich nach<br />

den warmen Lichtern, nach all den vertrauten Klängen <strong>und</strong><br />

Worten. Und sie vermisste den würzigen Geschmack von Acarajé,<br />

ihrem Lieblingsessen. Viele tausend Kilometer trennten<br />

sie nun von ihrem früheren Zuhause: Der ganze Atlantische<br />

Ozean lag <strong>dazwischen</strong>!<br />

»Weißt du, was mir hilft, wenn ich Heimweh habe?«, Luas<br />

Mutter hatte ihr liebevoll übers Haar gestrichen. »Ich schaue<br />

in die Ferne, soweit es nur geht. Und wenn ich spüre, wie endlos<br />

groß das Universum ist, dann kommt mir alles hier auf der<br />

Erde wieder ganz nah <strong>und</strong> vertraut vor.«<br />

Der <strong>Sterne</strong>nfänger war jedoch nicht die einzige Überraschung<br />

zu Luas siebtem Geburtstag gewesen. An jenem Tag war auch<br />

Bo bei ihnen eingezogen: Bo, der große, zerzauste H<strong>und</strong> mit<br />

den lieben Augen <strong>und</strong> den lustig flatternden Ohren, der jedes<br />

Wort zu verstehen schien.<br />

llllllllllllllll


z<br />

Das Lied der<br />

Weltraumwale<br />

]<br />

Heike Westendorf<br />

a 20<br />

D<br />

as weite All war still <strong>und</strong> voller <strong>Sterne</strong>. Mitten hindurch glitt<br />

lautlos ein Raumschiff. Io, die Tochter des Kapitäns, blickte<br />

angestrengt durch ein Fenster auf der Suche nach Weltraumwalen,<br />

aber es ließ sich keiner blicken. In der Ferne sah sie<br />

die blaue Erde – noch nie war Io so weit draußen im Weltall<br />

gewesen, noch nie so weit entfernt von Neptun, ihrem Heimatplaneten.<br />

Aber die Wale wurden immer seltener <strong>und</strong> zogen<br />

immer weiter fort, sodass Io <strong>und</strong> ihr Vater gezwungen waren,<br />

ihnen tief ins All zu folgen. Sie vermisste ihre Fre<strong>und</strong>innen<br />

<strong>und</strong> ihr Zuhause, aber es war schwierig, auf Neptun Geld zu<br />

verdienen, <strong>und</strong> ihr Vater sagte immer zu ihr: <strong>Sterne</strong>nstaubsammeln<br />

ist zwar hart, mein Komet, aber wenigstens ehrliche<br />

Arbeit.<br />

Doch nun hatten sie schon seit einem ganzen <strong>Mond</strong>zyklus<br />

keinen Wal mehr gesehen <strong>und</strong> ihre Vorräte wurden langsam<br />

knapp. Io hatte die Hoffnung schon aufgegeben, dass sie heu-<br />

llllllllllllllll


q<br />

llllllllllllllll<br />

Das Lied der Weltraumwale<br />

te Glück haben würden, da leuchtete plötzlich die Signallampe<br />

auf.<br />

Zwei Weltraumwale an Steuerbord!, hörte sie die Stimme ihres<br />

Vaters in ihrem Kopf. Mach dich bereit zum Außeneinsatz.<br />

Wie alle zivilisierten Völker kommunizierten auch die Neptunianer<br />

nur über ihre Gedanken miteinander – jedes Geräusch<br />

war ihnen ein Graus.<br />

Schon unterwegs, gab sie zurück <strong>und</strong> streifte mit ihren vier<br />

Armen den Raumanzug über. Jetzt musste es schnell gehen.<br />

Sie befestigte den Helm, dann stieg sie in die Schleuse <strong>und</strong> beobachtete<br />

aus dem Bullauge, wie ihr Vater das Schiff behutsam<br />

an die Weltraumwale heranlenkte, um sie nicht zu erschrecken.<br />

Io stellte ihr Visier auf Fernsicht. Sie hatten Glück!<br />

Die Haut der Weltraumsäuger war voller <strong>Sterne</strong>nstaub, der<br />

sich in den tiefen Falten der Giganten festsetzte. Io musste ihn<br />

nur mit einem Meißel abklopfen <strong>und</strong> in ihrem Behälter zurück<br />

zum Schiff bringen. Eigentlich gar nicht so schwer, aber die<br />

Wale hielten nie still. Sie wussten schließlich nicht, wie wertvoll<br />

der <strong>Sterne</strong>nstaub für Io <strong>und</strong> ihren Vater war – allein der<br />

Ertrag dieser beiden würde ihnen auf Neptun genug Geld für<br />

mindestens drei <strong>Mond</strong>zyklen einbringen. Und sie konnten<br />

endlich ein paar dringend notwendige Reparaturen am Schiff<br />

durchführen. Ihr Vater hatte ihr neulich erklärt, dass sie das<br />

Schiff verkaufen mussten, wenn sie nicht bald einen guten<br />

Fang machten. Und dann waren sie verloren – ohne sein Schiff<br />

war ein <strong>Sterne</strong>nstaubsammler wie ihr Vater schließlich kein<br />

<strong>Sterne</strong>nstaubsammler.<br />

Io wollte gerade nach dem Behälter greifen, als sie aus dem<br />

Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Bevor sie reagieren<br />

konnte, ging die Erde in einer Flammenwolke auf.<br />

llllllllllllllll<br />

21 b


z<br />

Mehtap<br />

rennt<br />

]<br />

Christin Habermann<br />

a 30<br />

A<br />

ls ich das Wort »Armut« zum ersten Mal hörte, lernte ich<br />

meine Fre<strong>und</strong>in Mehtap kennen.<br />

Ich war sieben damals, Mehtap ein halbes Jahr jünger. Aber<br />

was ihr an Alter fehlte, das machte sie mit Mut wett: Sie streichelte<br />

streunende Katzen, baumelte kopfüber vom Klettergerüst<br />

<strong>und</strong> stellte sich jedem in den Weg, der das Kopftuch ihrer<br />

Mama beleidigte. Auch deshalb erinnerte mich das Wort an<br />

sie: Ar-MUT.<br />

Und weil es ihr Nachname war.<br />

Ich weiß noch, dass ich mich über ihren seltsamen Nachnamen<br />

gew<strong>und</strong>ert hatte. Da, wo ich zuvor gewohnt hatte, hießen<br />

alle Meier oder Schmitt oder hatten einen Namen, der auf<br />

-mann endete. Schumann, Habermann oder so wie ich, Lena<br />

Kaufmann. Doch Mama <strong>und</strong> ich mussten unsere alte Wohnung<br />

verlassen <strong>und</strong> waren in ein neues Viertel gezogen. Hier<br />

ähnelten die Häuser riesigen, traurig-grauen Bauklötzen, die<br />

llllllllllllllll


q<br />

llllllllllllllll<br />

Mehtap rennt<br />

jemand achtlos fallen gelassen hatte. Die schmalen Wege <strong>dazwischen</strong><br />

lagen stets im Schatten <strong>und</strong> waren von Sträuchern<br />

gesäumt, in denen Bierdosen hingen oder leere Chipstüten.<br />

Am Tag unseres Einzugs in eines dieser traurig-grauen Häuser<br />

hatte ich Angst. Angst davor, mich auf den schattigen Wegen<br />

zu verlaufen. Angst, dass ich mein neues Zuhause ohne<br />

meine Mama nicht finden würde. Und ein bisschen hatte ich<br />

Angst, dass ich vielleicht gar kein Zuhause mehr hatte.<br />

Mama redete gerade mit den Männern, die unsere Möbel in<br />

die neue Wohnung tragen sollten, <strong>und</strong> ich fühlte mich plötzlich<br />

furchtbar einsam. Ich vermisste unser kleines Haus mit dem<br />

weißen Anstrich, die Blumenkästen auf unserem Balkon <strong>und</strong><br />

ganz besonders meinen Papa. Früher hatten <strong>wir</strong> alle drei zusammengelebt,<br />

Mama, Papa <strong>und</strong> ich. Aber dann war Papa mit<br />

dem Auto weggefahren <strong>und</strong> ist nicht wieder zurückgekommen.<br />

Fast hätte ich angefangen zu weinen, als plötzlich ein Mädchen<br />

vor mir stand <strong>und</strong> mich neugierig ansah. Sie hatte<br />

schwarz-glänzende Haare <strong>und</strong> trug ein blaues T-Shirt mit einem<br />

Bild von Elsa, der Eiskönigin aus dem Disney-Film.<br />

»Du bist neu«, sagte sie.<br />

Ich nickte schüchtern.<br />

»Und woher kommst du?«<br />

»Aus der Haselstraße 23.«<br />

Das Mädchen lachte.<br />

»Ob du aus Deutschland kommst.«<br />

»Klar«, antwortete ich.<br />

Damals wusste ich noch nicht, dass nicht viele Kinder aus<br />

meinem neuen Viertel aus Deutschland kamen. Und dass <strong>wir</strong><br />

einander deshalb mit der Frage nach der Herkunft begrüßten<br />

wie andere Leute einander mit: »Wie geht’s dir?«<br />

llllllllllllllll<br />

31 b


z<br />

Ein Schwert<br />

für Anna<br />

]<br />

Agnes Gerstenberg<br />

Anna hat Fernweh. Wann immer sie kann, wann immer es<br />

ihr gelingt, denkt sie sich weg. In eine andere Welt, in ein<br />

anderes Leben, ein anderes Land, in dem niemals Nacht ist, in<br />

dem stets die Sonne scheint.<br />

Anna sitzt auf den Treppenstufen vor der Wohnung, der Flur<br />

ist kalt <strong>und</strong> grau. Von den ehemals weißen Wänden fällt der<br />

Putz. Anna kennt gefühlt jede Stelle, tausend Mal hat sie sie<br />

mit ihren Augen abgesucht, während sie darauf wartet, dass<br />

der Nachmittag zum Abend <strong>wir</strong>d. Die Wohnungstür droht<br />

ihr wie ein Drache mit seinen gefletschten Zähnen. Groß <strong>und</strong><br />

breit will sie sie beeindrucken <strong>und</strong> schafft es auch. Anna mag<br />

gar nicht hinsehen. Aus der Tür dringen Geräusche, die tief<br />

aus dem Inneren des Wohnungsbauches kommen. Er faucht,<br />

der Drache. Sein Rauch schafft es durch die dünnen Ritzen<br />

zwischen Tür <strong>und</strong> Türrahmen zu ihr in den Flur. Sie kann es<br />

llllllllllllllll<br />

39 b


Agnes Gerstenberg<br />

qllllllllllllllll<br />

a 40<br />

riechen, sie will es nicht. Anna hält den Ärmel über die Nase.<br />

Es stinkt. Er stinkt. Und alles Betteln <strong>und</strong> Flehen kommt gegen<br />

den Lärm des Drachens nicht an. Sie <strong>wir</strong>d nicht gehört.<br />

Deshalb geht sie dem Drachen aus dem Weg. Doch wenn sie<br />

sich auf den Stufen zusammenkauert, fühlt sie sich klein, verschwindend<br />

winzig. Beinahe unsichtbar.<br />

Anna legt die Hände an die Ohren <strong>und</strong> denkt sich weg. Weg<br />

vom Drachen, weg vom Lärm, weg von der Unsichtbarkeit, dahin,<br />

wo man sie sehen kann: nach Equiora. Mit etwas Glück,<br />

wenn es ihr gelingt, denn sie muss ganz bei sich sein, den<br />

Lärm ausblenden, den Rauch, das Treppenhaus <strong>und</strong> die Tür,<br />

damit sie die Reise schafft.<br />

In Equiora ist nichts grau. Hier scheint Tag <strong>und</strong> Nacht die<br />

Sonne. Drachen haben hier keinen Platz. Anna sitzt auf einem<br />

hohen Stuhl, der sie weit übers Land blicken lässt. Ihr Land.<br />

Hier ist sie groß, hier übersieht sie niemand. Niemand kann<br />

sie übersehen. Sie trägt ein hellgrünes Kleid, dessen Schleppe<br />

bis auf den Boden hinabreicht <strong>und</strong> dort mit dem satten Grün<br />

der Wiese verschmilzt. Hier ist immer Frühling.<br />

Equiora besteht aus weiten Feldern, Weiden <strong>und</strong> Wäldern,<br />

auf denen siebentausend schneeweiße Schimmel leben. Sie gehören<br />

niemandem. Sie sind frei. Sobald Anna in Equiora ankommt,<br />

traben sie zu ihr. Die Wiese färbt sich weiß. Manche<br />

legen die Schnute in ihre geöffnete Hand, sodass die Nüstern<br />

sie kitzeln, andere legen den Kopf in ihren Schoß, schwer <strong>und</strong><br />

weich, mit ganz viel Vertrauen. Annas Haare sind rot in Equiora,<br />

nicht dunkel <strong>und</strong> matt wie im wahren Leben. Ihre Locken<br />

wehen im Wind, als wolle er ihnen etwas erzählen. Und auf<br />

dem Kopf trägt sie einen blauen Zylinder. Wenn sie ihn hebt<br />

<strong>und</strong> zwischen den Fingern dreht, darf sie sich etwas wün-<br />

llllllllllllllll


z<br />

Hühner -<br />

götter<br />

]<br />

Dennis Stephan<br />

a 50<br />

»<br />

o willst du denn hin?«<br />

WMist, denkt Pelle. Nun hat sie mich doch erwischt. Dabei<br />

war ich so leise.<br />

»Ich wollte noch mal kurz raus«, antwortet er seiner Mutter.<br />

»So spät? Es gibt gleich Abendbrot.«<br />

Pelle verdreht genervt die Augen, während er sich das Schlüsselband<br />

um den Hals hängt.<br />

»Was willst du denn draußen?«<br />

»Ich will kurz zum Strand.«<br />

»So spät?« Seine Mutter stemmt die Hände in die Hüften.<br />

»Es juckt schon wieder überall. Und die Luft macht es ein<br />

bisschen besser«, lügt Pelle. Er hätte auch sagen können, ihm<br />

sei einfach langweilig, aber dann wären seine Erfolgschancen<br />

geringer – das weiß er.<br />

»Nun lass den Jungen endlich in Ruhe, Meggi«, mischt sich<br />

Pelles Vater ein. Er sitzt im Wohnzimmer vor einem Stapel<br />

llllllllllllllll


q<br />

llllllllllllllll<br />

Hühner götter<br />

Schulhefte, die er bis Montag korrigieren muss. Typisch Lehrer<br />

eben: Selbst wenn kein Unterricht ist, müssen die sich mit<br />

Kommasetzung beschäftigen.<br />

»Es ist Samstag«, fügt Pelles Vater mit Nachdruck hinzu.<br />

»Der Junge darf selbst bestimmen, wie er sein Wochenende<br />

verbringen will.«<br />

Pelle zieht triumphierend die Augenbraue nach oben <strong>und</strong> hält<br />

dem strengen Blick seiner Mutter stand.<br />

»Ist ja gut«, gibt diese nun endlich nach. »Aber in einer St<strong>und</strong>e<br />

bist du zurück.«<br />

»Okay.«<br />

»Und geh nicht zu nah ans Wasser.«<br />

»Ich stecke mir Geröll in die Taschen <strong>und</strong> springe von der<br />

Seebrücke.«<br />

»Pelle!«<br />

»Mama, du nervst.« Er rückt seine Baseballmütze zurecht<br />

<strong>und</strong> öffnet die Tür. »Bis später.«<br />

»Geh nicht zu nah ans Wasser, hast du mich gehört?«<br />

Die Tür scheppert extralaut, als Pelle in die Abenddämmerung<br />

verschwindet.<br />

Pelle hasst dieses ewige Sich-Sorgen-machen seiner Mutter.<br />

Genauso wie er rote Getränke ohne Kohlensäure hasst oder<br />

Oma Lillis Apfelsinen <strong>und</strong> das Marzipan, das sie zu Weihnachten<br />

verschenkt. Pelle hasst es auch, dass die Kinder in seiner<br />

Schule ihn Schneewitt, Geist oder Albino nennen. Auch, wenn<br />

sie allen Gr<strong>und</strong> dazu haben.<br />

Pelles Haut ist nämlich so hell, dass er nachts fast leuchtet, wie<br />

diese Plastiksterne, die man im Licht aufladen kann <strong>und</strong> die<br />

dann im Dunkeln vor sich hin glimmen. Seiner Haut fehlen<br />

llllllllllllllll<br />

51 b


z<br />

Toni <strong>und</strong> die<br />

perfekte Marie<br />

]<br />

Alexandra Gutzke<br />

»<br />

I<br />

hr Loser«, schnaubt Clement verächtlich <strong>und</strong> schnappt sich<br />

die letzte Bananenmilch. Das macht er jeden Morgen beim<br />

Frühstück am Schulkiosk Er wartet so lange, bis Lena, Ali <strong>und</strong><br />

ich an der Reihe sind, drängelt sich vor <strong>und</strong> nimmt sich einfach<br />

die guten Sachen. Mal ist es Bananenmilch, mal Schokopudding<br />

oder ein Käsebrötchen. Weil er weiß, dass <strong>wir</strong> eh nichts<br />

dagegen tun werden, <strong>und</strong> weil er ein echt gemeiner Typ ist.<br />

»Idiot«, nuschelt Lena. Aber das war es auch schon. Clement<br />

stellt sich vor uns hin, trinkt die Bananenmilch in einem Zug<br />

aus <strong>und</strong> <strong>wir</strong>ft die leere Flasche zurück in den Kasten, ohne zu<br />

bezahlen. Dann rülpst er. Wir gucken ihm beim Rülpsen zu<br />

<strong>und</strong> warten darauf, dass er Platz macht. Dann nehmen <strong>wir</strong><br />

uns das, was er übrig gelassen hat. Die eklige Vanillemilch,<br />

den Haferschleim oder, wenn es ein richtig schlechter Tag ist,<br />

Handobst. Handobst ist einfach nur Obst. Ein Apfel, eine Banane<br />

oder je nach Jahreszeit auch mal ein Pfirsich.<br />

llllllllllllllll<br />

61 b


Alexandra Gutzke<br />

qllllllllllllllll<br />

»Das geht ja gut los«, sagt Ali <strong>und</strong> schnappt sich eine Handvoll<br />

Kirschen.<br />

Heute ist der erste Tag nach den Sommerferien. Ich war<br />

zwei Wochen bei meiner Oma auf dem Land <strong>und</strong> habe den<br />

Rest der Zeit mit Lena <strong>und</strong> Ali im Schwimmbad verbracht.<br />

Nicht bei den coolen Kids, sondern in der anderen Ecke. »Loser-Ecke«,<br />

würde Clement sagen, aber der hat ja keine Ahnung.<br />

Wir sind halt die, denen was fehlt: Lena fehlt ein Vater,<br />

Ali fehlt es an Aufmerksamkeit <strong>und</strong> mir fehlt der linke Arm.<br />

Aber wer braucht schon Väter, Konzentration oder zwei Arme,<br />

wenn er Fre<strong>und</strong>schaften hat? Und mit Lena <strong>und</strong> Ali habe ich<br />

die beste Fre<strong>und</strong>in <strong>und</strong> den besten Fre<strong>und</strong>, die man sich vorstellen<br />

kann. Mit denen kann man st<strong>und</strong>enlang in der Bücherei<br />

sitzen <strong>und</strong> Comics lesen oder im Freibad Karten spielen.<br />

»Zu dritt sind <strong>wir</strong> vollständig«, hat Lena mal gesagt <strong>und</strong> ich<br />

weiß genau, was sie meint. Wir gleichen quasi gegenseitig<br />

unsere Fehler aus. Wie Minus mal Minus zusammen Plus ergibt.<br />

Wenn Lena für ihre kleine Schwester Essen kochen muss,<br />

weil ihre Mutter den ganzen Tag arbeitet, dann helfen <strong>wir</strong> ihr.<br />

Wenn Ali einfach wild rumrennen will, weil sein Kopf spinnt,<br />

dann warten <strong>wir</strong> auf ihn. Wenn ich es mit meinem rechten<br />

Arm nicht schaffe, eine Colaflasche aufzudrehen, dann machen<br />

Lena oder Ali das für mich. Wir sind halt echt dicke miteinander.<br />

Und mit den beiden schaffe ich es sogar, die siebte<br />

Klasse <strong>und</strong> den blöden Clement zu überleben. Hoffe ich zumindest.<br />

a 62<br />

Eine halbe St<strong>und</strong>e später sitzen <strong>wir</strong> auf unseren Plätzen.<br />

»Herzlich Willkommen in der Siebten«, sagt Frau Kunze <strong>und</strong><br />

klatscht in die Hände, als wäre es was Gutes, dass das Schul-<br />

llllllllllllllll


z<br />

Besuch von den<br />

<strong>Sterne</strong>n<br />

]<br />

Marcel Weyers<br />

In einer lauen Julinacht – weit nach Mitternacht – liegt Max<br />

in seinem Rennauto-Bett, das er von seinen Eltern zu seinem<br />

zehnten Geburtstag letzte Woche bekommen hat. Das Fenster<br />

ist geöffnet <strong>und</strong> bläst angenehme Sommerluft ins Zimmer.<br />

Max träumt von großen Abenteuern – mal ist er Pirat auf hoher<br />

See, mal Ritter hoch zu Pferd. Dann wieder ist er eine Fee<br />

oder eine Prinzessin im Schloss. Plötzlich hört er Schritte. Seine<br />

Augenlider flattern <strong>und</strong> er öffnet seine Augen einen winzigen<br />

Spaltbreit. Er gähnt, setzt sich aufrecht <strong>und</strong> staunt …<br />

»Wer bist du?«<br />

Der kleine Junge steht in seinem grünblauen Pyjama vor<br />

meinem Bett. Er hält einen Teddybären in seiner linken Hand<br />

<strong>und</strong> starrt mich mit großen Augen an. Wie lange steht er schon<br />

da? Hat er mich schon die ganze Nacht beobachtet? Ich lasse<br />

mir meine Angst nicht anmerken <strong>und</strong> starre zurück. Und<br />

llllllllllllllll<br />

69 b


Marcel Weyers<br />

qllllllllllllllll<br />

a 70<br />

er sieht aus, als wäre er … hm, ungefähr auch in meinem Alter.<br />

Hat er mich im Schlaf beobachtet? Es ist mir ein bisschen<br />

peinlich. Ich wische mir mit dem Ärmel über den M<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />

hoffe, dass ich im Traum nicht gesabbert habe.<br />

»Wie bist du in mein Zimmer gekommen?«<br />

Immer noch keine Reaktion. Der bohrende Blick seiner großen,<br />

braunen Augen <strong>wir</strong>d nur durch ein Blinzeln hin <strong>und</strong> wieder<br />

durchbrochen. Scheint so, als würde er mich nicht verstehen.<br />

Vielleicht spricht er meine Sprache nicht. Ich steige aus<br />

meinem Bett.<br />

»Mein. Name. Ist. Max.«<br />

Ich spreche jedes Wort deutlich aus <strong>und</strong> zeige dabei auf mich.<br />

Der Junge schaut allerdings nur noch ver<strong>wir</strong>rter drein, aber<br />

nach einem kurzen Moment lächelt er <strong>und</strong> nickt. Dann zeigt er<br />

auf sich <strong>und</strong> sagt: »Shai.«<br />

Klingt irgendwie japanisch. Kein W<strong>und</strong>er, wenn er mich<br />

nicht versteht.<br />

»Okay, Shai. Verrätst du mir jetzt auch noch, was du in meinem<br />

Zimmer verloren hast <strong>und</strong> wie du reingekommen bist?«<br />

Ich erwarte nicht <strong>wir</strong>klich eine Antwort. Seine Augen wandern<br />

durch den Raum, er sieht ver<strong>wir</strong>rt <strong>und</strong> ängstlich aus. Es<br />

<strong>wir</strong>kt, als würde er nach etwas suchen.<br />

»Keine Sorge, ich tue dir nichts. Aber du musst doch sicher<br />

nach Hause, oder? Es ist mitten in der Nacht <strong>und</strong> deine Eltern<br />

machen sich bestimmt schon Sorgen.«<br />

Ganz offensichtlich versteht er kein Wort von dem, was ich<br />

gesagt habe. Ich seufze <strong>und</strong> lasse mich zurück auf mein Bett<br />

fallen. Was mache ich jetzt nur mit ihm? Ob ich meine Eltern<br />

wecken soll? Plötzlich höre ich etwas, das wie Magenknurren<br />

klingt. Ich schaue auf <strong>und</strong> sehe, wie sich Shai den Bauch reibt.<br />

llllllllllllllll


z<br />

Meine<br />

Brüder<br />

]<br />

Katharina Spengler<br />

I<br />

ch hasse diese Frage. Doch leider kommt sie immer. Immer<br />

irgendwann. Mal ein bisschen früher, mal ein bisschen später.<br />

Jedes Mal. Und ich weiß immer noch nicht, was ich antworten<br />

soll. Diesmal passiert es im Freibad, als ich gerade mit<br />

Svenja den Nachmittag genieße. Es sind ja oft die schönen Momente,<br />

in denen man an nichts Böses denkt <strong>und</strong> zack – mitten<br />

in die Fresse.<br />

Ja, sowas soll man nicht sagen, ich weiß schon. Aber wenn<br />

ich sage: »Es ist wie ein Schlag ins Gesicht«, dann stimmt das<br />

einfach nicht. Es ist wie ein Tritt in die Fresse. Nur noch viel<br />

hässlicher als diese Formulierung klingt.<br />

Ich rede Blödsinn. Ich wurde noch nie getreten, weder ins<br />

Gesicht noch sonst wohin. Ich bin bisher allen Schulhofprügeleien<br />

entkommen, vermutlich, weil ich eher der unauffällige<br />

Typ bin, eher im Hintergr<strong>und</strong>. Versteht mich nicht falsch, ich<br />

bin kein Außenseiter, im Sportunterricht werde ich von den<br />

llllllllllllllll<br />

77 b


Katharina Spengler<br />

qllllllllllllllll<br />

a 78<br />

anderen in ihre Mannschaft gewählt, aber halt nicht als Erster.<br />

Ich bleibe nicht stehen wie Kai, der so tollpatschig ist, dass<br />

er jeden Ball verliert. Ich werde eher in der Mitte der Mannschaftsbildung<br />

gewählt. Es ist nicht wichtig, ob ich da bin oder<br />

nicht.<br />

Meine Therapeutin sagt, dass es nicht stimmt <strong>und</strong> ich sehr<br />

wohl wichtig bin, ich in den letzten Jahren nur gelernt habe,<br />

mich im Hintergr<strong>und</strong> zu halten. Sie sagt auch, dass es gut ist,<br />

wenn ich Formulierungen wie »mitten in die Fresse« verwende,<br />

weil ich so meiner unterdrückten Wut Ausdruck verleihen<br />

kann. So redet sie, meine Therapeutin. Sie mag alles, was unterdrückt<br />

ist. Danach sucht sie gern. Unterdrückte Wut, unterdrückte<br />

Angst, unterdrückte Trauer. Sie kriegt dann so ein<br />

Leuchten in den Augen. »Wie ein Trüffelschwein«, hätte mein<br />

Vater gesagt <strong>und</strong> dann hätten <strong>wir</strong> gelacht. Früher, als noch gelacht<br />

wurde bei uns zu Hause.<br />

Ich glaube, meine Eltern waren echt okay. Das klingt immer<br />

so blöd, wenn man sagt, dass man mit seinen Eltern zufrieden<br />

ist. Klar haben sie auch genervt, Zimmer aufräumen, Zähne<br />

putzen <strong>und</strong> keine Cola, Pipapo halt. Aber <strong>wir</strong> hatten auch viel<br />

Spaß. Mit meinem Vater konnte ich super Quatsch machen.<br />

Manchmal haben <strong>wir</strong> uns beim Frühstück Schnurrbärte aus<br />

Nutella gemalt <strong>und</strong> mit verstellten Stimmen gesprochen. Vielleicht<br />

klingt das für andere nicht so lustig wie für mich. Das<br />

Beste daran war sowieso, wenn meine Mutter erst gesagt hat,<br />

dass <strong>wir</strong> Kindsköpfe sind <strong>und</strong> diesen Blödsinn lassen sollen,<br />

aber dann auch lachen musste. Ihr Lachen vermisse ich am<br />

allermeisten.<br />

Neulich habe ich zu meiner Therapeutin gesagt, dass ich mir<br />

wünschen würde, meine Eltern würden mich verprügeln.<br />

llllllllllllllll


z<br />

Tage mit<br />

Sternschnuppen<br />

]<br />

Melanie Gerber<br />

a 84<br />

D<br />

ie Sommerferien waren dieses Jahr das Schrecklichste überhaupt.<br />

Zuerst war das mit Mama <strong>und</strong> Papa <strong>und</strong> dann kam<br />

auch noch das Ferienlager. Und wenn ihr jetzt denkt, dass so<br />

ein Ferienlager was Tolles ist, weil man da Pony reiten oder<br />

im Tipi schlafen kann, dann habt ihr euch ganz schön geirrt.<br />

Ich fand Ferienlager so richtig doof. Da muss man nämlich<br />

hin, wenn die Eltern beschlossen haben, dass sie keine Familie<br />

mehr sein wollen <strong>und</strong> sie nun mit dem Beruf <strong>und</strong> dem<br />

Sich-finden beschäftigt sind. So war’s bei mir.<br />

»Es tut mir so leid, Maja, ehrlich. Ich brauch jetzt einfach<br />

erst mal ein bisschen Zeit für mich«, erklärte meine Mama,<br />

nachdem sie sich eine neue Frisur zugelegt hatte <strong>und</strong> bei Frau<br />

Zweifel gewesen war. »Es ist jetzt ganz wichtig, dass ich mich<br />

um mich kümmere, das verstehst du doch, Schatz? Zuerst<br />

muss man die eigene Sauerstoffmaske anziehen, erst dann<br />

kann man für andere da sein.«<br />

llllllllllllllll


q<br />

llllllllllllllll<br />

Tage mit Sternschnuppen<br />

Solche Sachen sagt sie, wenn sie bei Frau Zweifel war. Verstehen<br />

tu ich das meistens nicht.<br />

Zu Frau Zweifel geht Mama immer, wenn sie mit Papa gestritten<br />

hat oder besonders traurig ist. Und danach legt sie sich<br />

eine neue Frisur zu oder besucht einen Malkurs. Dieses Mal<br />

rollte sie eine Matte im Wohnzimmer aus <strong>und</strong> setzte sich im<br />

Schneidersitz darauf. Sie sagte, sie meditiere, um sich besser<br />

spüren zu können. Und ich musste eben ins Ferienlager, weil<br />

Papa unmöglich freinehmen konnte. »Das musst du verstehen,<br />

Biene, das ist jetzt eine ganz kritische Phase«, sagte er. Papa<br />

leitet Baustellen <strong>und</strong> da sind die Phasen meistens kritisch.<br />

Ich selber fand ja, dass ich gut zuhause hätte bleiben können.<br />

Ich hätte auch Mama ihre Yoga-Übungen <strong>und</strong> Meditationen<br />

machen lassen <strong>und</strong> hätte einfach gelesen. Das kann man alleine<br />

machen. Dafür muss man auch nicht ins Ferienlager. Aber<br />

Mama sagte, es würde mir guttun, mal rauszukommen aus<br />

dem ganzen Stress, denn so eine Trennung wäre auch für Kinder<br />

kein Klacks. Und so war es beschlossene Sache, Ende der<br />

Diskussion, du <strong>wir</strong>st schon sehen, dass es dir gefallen <strong>wir</strong>d.<br />

Ich wusste aber, dass es mir nicht gefallen würde, <strong>und</strong> merkte<br />

schon am ersten Tag, dass ich damit Recht hatte.<br />

Es fing damit an, dass ich niemanden kannte. Außer Romina<br />

aus meiner Parallelklasse. Die kannte ich nur vom Pausenhof.<br />

Dort steht sie immer alleine in einer Ecke <strong>und</strong> einmal hab ich<br />

sie dabei beobachtet, wie sie an der Wand entlanggegangen ist<br />

<strong>und</strong> mit der Hand darüber gestrichen hat, während sie auf den<br />

Boden schaute. Das fand ich etwas speziell <strong>und</strong> interessant<br />

gleichzeitig. Weil aber alle sagen, dass sie ein bisschen verrückt<br />

ist, hatte ich gar keine Lust, eine Woche mit ihr im Lager<br />

llllllllllllllll<br />

85 b


z<br />

Einfach<br />

Alex<br />

]<br />

Hanne Benden<br />

a 94<br />

A<br />

uf meinem Schreibtischstuhl steht mein neuer Rucksack.<br />

Dunkelgrün mit orangen Reißverschlüssen <strong>und</strong> einem<br />

Gummizug vorne. Er ist fast doppelt so groß wie mein alter<br />

Schulranzen, den ich die letzten vier Jahre benutzt habe. »Der<br />

ist ja fast so groß wie du!«, hat Tante Rita gerufen, als ich den<br />

Rucksack im Laden aufprobierte. Das war übertrieben, denn<br />

so klein bin ich gar nicht mehr. In meiner alten Klasse gehörte<br />

ich zu den Größten. Unsere Lehrerin hat das im letzten Jahr<br />

immer wieder gesagt: »Ihr seid jetzt hier die Großen!«<br />

Nach den Ferien werden <strong>wir</strong> wieder die Kleinsten sein, hat<br />

sie in der letzten St<strong>und</strong>e gesagt. Ich finde nicht, dass das besonders<br />

ermutigend ist. Ganz besonders schlimm ist es, wenn<br />

man an der neuen Schule keinen kennt. Niemand aus meiner<br />

alten Klasse, noch nicht einmal aus der Parallelklasse, <strong>wir</strong>d<br />

mit mir zusammen zum Galilei-Gymnasium gehen. Ich muss<br />

sogar ohne meinen besten Fre<strong>und</strong> Timon auskommen. Dabei<br />

llllllllllllllll


q<br />

llllllllllllllll<br />

Einfach Alex<br />

hatten <strong>wir</strong> uns versprochen, für immer zusammenzubleiben.<br />

Aber er hat kurz vor den Ferien doch noch eine Zusage für das<br />

Sportinternat in Rostock bekommen. Jetzt muss ich wohl allein<br />

klarkommen.<br />

Bevor ich wegen Timon zu traurig werde, streife ich schnell<br />

den neuen Rucksack noch einmal auf, gehe damit in den Flur<br />

<strong>und</strong> drehe mich vor dem Garderobenspiegel hin <strong>und</strong> her. Der<br />

Rucksack ist echt total cool! Das Orange der Reißverschlüsse<br />

leuchtet neben dem Dunkelgrün. Am Schuhregal lehnt mein<br />

Pennyboard. Ich setze den Rucksack ab, ziehe ein bisschen am<br />

Gummizug herum. Das kleine Skateboard passt genau drunter.<br />

So kann ich mit dem Board zum Bus fahren <strong>und</strong> es dann<br />

bequem an den Rucksack schnüren. Am liebsten würde ich<br />

das direkt mal ausprobieren <strong>und</strong> mit Board <strong>und</strong> Rucksack eine<br />

Probestrecke zur Bushaltestelle fahren. Aber da kommt Mama<br />

aus der Küche.<br />

»Alex, was machst du da? Mach dir nicht gleich deinen neuen<br />

Rucksack kaputt!«, sagt sie <strong>und</strong> schaut vorwurfsvoll auf das<br />

Pennyboard, das noch immer im Gummizug steckt.<br />

»Ja, ich pass schon auf«, versichere ich.<br />

»Hast du schon Sachen für die Zeit bei Papa rausgelegt?«<br />

Habe ich noch nicht. Ich war so sehr mit meinen Gedanken<br />

über die neue Schule <strong>und</strong> mit meinem Rucksack beschäftigt,<br />

dass ich es glatt vergessen habe. Schon morgen fahre ich zu<br />

Papa <strong>und</strong> verbringe bei ihm die letzten beiden Ferienwochen.<br />

Dieses Jahr fahre ich zum ersten Mal allein, weil mein großer<br />

Bruder Justus auf einer Ferienfreizeit ist.<br />

»Gleich!«<br />

Ich flitze mitsamt meinem Rucksack <strong>und</strong> dem Board in mein<br />

Zimmer zurück. Ich ziehe ein paar kurze Hosen <strong>und</strong> T-Shirts<br />

llllllllllllllll<br />

95 b


z<br />

Der Spielplatz<br />

auf dem <strong>Mond</strong><br />

]<br />

T. B. VoThi<br />

F<br />

ür Sumire war es der erste Schultag an der neuen Gr<strong>und</strong>schule.<br />

Die anderen Kinder wurden ganz still, als sie in das<br />

Klassenzimmer kam.<br />

»Das ist Sumire, eure neue Mitschülerin«, sagte die Klassenlehrerin.<br />

»Ihre Familie ist erst kürzlich aus Thailand zu uns gezogen,<br />

deshalb kann sie noch nicht so gut Deutsch sprechen.«<br />

Alle tuschelten <strong>und</strong> kicherten, das machte Sumire sehr nervös.<br />

Die Lehrerin zeigte den Schweigefuchs, damit es ruhig<br />

wurde.<br />

»Sumire, du kannst dich dort neben Carlos setzen, der Platz<br />

ist noch frei.«<br />

Sumire ging zögernd zu dem Tisch, auf den die Lehrerin gezeigt<br />

hatte. Carlos war fast zwei Köpfe größer als sie. Er musterte<br />

sie von oben bis unten, schnaubte laut <strong>und</strong> als sie sich<br />

hinsetzte, rückte er mit dem Stuhl von ihr weg. Ihr war das<br />

unangenehm, aber sie wollte es sich nicht anmerken lassen.<br />

llllllllllllllll<br />

105 b


T. B. VoThi<br />

qllllllllllllllll<br />

Während der ganzen St<strong>und</strong>e beachteten Carlos <strong>und</strong> die anderen<br />

sie nicht.<br />

In der Frühstückspause packten alle ihre Brote aus. Auch Sumire<br />

nahm eine bunte Dose aus ihrem Rucksack, in die ihre<br />

Mutter Gaeng Panaeng, ein scharfes Kokos-Curry mit Reis <strong>und</strong><br />

Hühnchenfleisch, gefüllt hatte. Das war ihr Lieblingsgericht!<br />

Aber sie konnte ihr Frühstück nicht genießen, weil alle anderen<br />

ihr beim Essen zuschauten.<br />

Carlos drehte sich zu seinem Fre<strong>und</strong> Julian um <strong>und</strong> sagte:<br />

»So ein komisches Zeug! Das ist doch gar kein richtiges Frühstück!«<br />

»Eklig!«, pflichtete Julian ihm bei. »Und seltsam sieht sie<br />

auch aus.«<br />

Sie lachten, während sie zu Sumire hinübersahen. Carlos<br />

<strong>und</strong> sein Fre<strong>und</strong> lästerten laut über sie, weil sie dachten, dass<br />

sie sie nicht verstehen könnte. Sumire machte sich ganz klein<br />

in ihrem Stuhl <strong>und</strong> aß still weiter. Sie hatte zwar nur ein Jahr<br />

lang Deutsch in ihrer Heimat gelernt <strong>und</strong> sprach die Sprache<br />

noch nicht so gut, aber sie konnte fast alles verstehen. Zum<br />

ersten Mal in ihrem Leben wollte sie im Boden versinken <strong>und</strong><br />

fühlte sich ganz allein in einer Schulklasse.<br />

a 106<br />

»Wie war denn dein erster Tag an der neuen Schule?«, fragte<br />

ihr Vater Kamon sie auf Thailändisch, nachdem er sie von der<br />

Schule nach Hause gebracht hatte.<br />

»Nicht so gut«, murmelte sie traurig. »Keiner will mit mir reden.«<br />

Mehr wollte sie ihren Eltern nicht sagen. Ihr Vater beugte<br />

sich zu ihr herunter <strong>und</strong> streichelte ihr Gesicht.<br />

»Ach, meine kleine Mire! Sei doch nicht so bekümmert deswegen.<br />

Das liegt bestimmt daran, dass du ganz neu in der<br />

llllllllllllllll


z<br />

Sirius –<br />

fernes Leuchten<br />

]<br />

Nadine Buch<br />

M<br />

arek drehte den Kugelschreiber zwischen seinen Fingern<br />

hin <strong>und</strong> her <strong>und</strong> ließ seinen Blick aus dem Fenster schweifen.<br />

Nur entfernt hörte er die Worte seines Physiklehrers, der<br />

gerade die Schwerkraft erklärte.<br />

Draußen war es bereits Herbst geworden <strong>und</strong> die Bäume<br />

hatten nur noch vereinzelte gelbe Blätter an ihren kargen Ästen.<br />

Eines von ihnen segelte gerade dicht am Fenster entlang<br />

in Richtung Boden.<br />

Ja, die Schwerkraft, dachte Marek. Er schaute auf das Deckblatt<br />

seines Referates, das er zur Bewertung abgeben musste.<br />

Er hoffte auf eine gute Gesamtnote, wobei der schriftliche Teil<br />

besser ausfallen würde, als der mündliche – das wusste er.<br />

Seine Mutter wäre stolz auf ihn <strong>und</strong> auf das, was er in der<br />

Arbeit geleistet hatte. Wenn er es ihr nur erzählen könnte.<br />

Es klopfte.<br />

Herr Schöneck legte sein Buch zur Seite <strong>und</strong> ging zur Tür.<br />

llllllllllllllll<br />

115 b


Nadine Buch<br />

qllllllllllllllll<br />

a 116<br />

Sofort wurde es unruhig in der Klasse. Der Lehrer sprach<br />

mit jemandem, den die Schüler nicht sehen konnten. Dann<br />

drehte er sich um <strong>und</strong> blickte in den Klassenraum.<br />

»Marek, kommst du mal bitte? Und bring deine Sachen mit!«<br />

Herr Schöneck sah ernst aus.<br />

Mareks Herz schlug schneller. Mit schweißnassen, zittrigen<br />

Fingern warf er seine Stifte achtlos in die Tasche, angelte das<br />

Referat vom Tisch <strong>und</strong> eilte ohne ein Wort des Abschieds zur<br />

Tür.<br />

»Das kannst du mir geben«, flüsterte Herr Schöneck <strong>und</strong><br />

zeigte auf den Hefter in Mareks Hand. Fahrig reichte Marek<br />

ihm die Mappe. Erst danach traute er sich, in Richtung Tür<br />

zu sehen. Er blickte in die blauen Augen seines Vaters. Und da<br />

wusste Marek Bescheid.<br />

Schweigend folgte er seinem Vater durch die Gänge, die<br />

Treppe hinunter zum Ausgang <strong>und</strong> von dort über den Schulhof<br />

zum Parkplatz. Kühler Wind peitschte feine Regentropfen<br />

in sein Gesicht <strong>und</strong> zerrte an seiner Kleidung.<br />

Marek warf seine Tasche auf den Rücksitz des Autos <strong>und</strong><br />

stieg ein. Beim Anschnallen fragte er vorsichtig: »Sie haben<br />

angerufen, stimmt’s?«<br />

Sein Vater startete den Motor, blickte wortlos nach vorne <strong>und</strong><br />

trat auf das Gaspedal. Ruckelnd fuhr das Auto an.<br />

Die Stimmung war gedrückt. Marek bekam Magenschmerzen.<br />

Ihm war, als müsse er sich übergeben. Die Häuser flogen<br />

wie graue Quadrate am Fenster des alten Toyota vorbei, der<br />

Regen klatschte gegen die Frontscheibe <strong>und</strong> dicke Rinnsale<br />

schlängelten sich im Fahrtwind an den Seitenfenstern entlang.<br />

»Wir hatten heute Abgabe vom Referat. Habe ich dir ja erzählt.«<br />

Marek schaute verstohlen nach links.<br />

llllllllllllllll


z<br />

Ich bin nicht<br />

störde!<br />

]<br />

Jenny Cazzola<br />

Stockholm, Schweden<br />

a 124<br />

»<br />

A<br />

nna, mit deinem Diktat hast du mal wieder den Vogel abgeschossen.«<br />

Mit einem dumpfen Klatschen landet ein<br />

Blatt Papier vor mir auf der Schulbank. Doch ich will es mir<br />

gar nicht ansehen. Davon kriege ich nur Bauchweh. Ich weiß<br />

doch, dass mal wieder alles rot angestrichen <strong>und</strong> unterkringelt<br />

sein <strong>wir</strong>d. So rot wie Frau Svenssons Fingernagel, mit dem sie<br />

jetzt anklagend auf das Blatt deutet.<br />

»Du <strong>wir</strong>st es wohl nie lernen …« Sie seufzt. »Ach Kind, was<br />

sollen <strong>wir</strong> bloß mit dir machen? Was soll denn einmal aus dir<br />

werden, wenn du noch nicht einmal die einfachsten Worte richtig<br />

lesen <strong>und</strong> schreiben kannst? Hmm, hast du dir darüber<br />

schon einmal Gedanken gemacht?«<br />

Ich senke den Blick <strong>und</strong> zucke anstelle einer Antwort nur<br />

stumm mit den Achseln. Diese Fragen habe ich schon so oft<br />

llllllllllllllll


q<br />

llllllllllllllll<br />

Ich bin nicht störde!<br />

gehört. Von meinen Eltern, Lehrpersonen, Leuten, die versucht<br />

haben, mir zu helfen. Bestimmt tausend-, wenn nicht sogar<br />

zwei tausend Mal. Doch ich habe auch keine Antwort. Ich<br />

weiß es einfach nicht. Meine Augen beginnen zu jucken <strong>und</strong> zu<br />

brennen. Ich schließe sie <strong>und</strong> versuche, den Kloß wegzuatmen,<br />

der sich plötzlich in meiner Kehle gebildet hat. Am liebsten<br />

würde ich tot umfallen. Einfach ohnmächtig vom Stuhl kippen<br />

<strong>und</strong> nie wieder aufstehen. Alles, um nur nie wieder etwas laut<br />

vorlesen, ein Diktat schreiben oder diese Fragen der Erwachsenen<br />

hören zu müssen.<br />

Frau Svensson seufzt noch einmal. Mit mehr Nachdruck diesmal.<br />

Überhaupt ist Frau Svensson eine Lehrerin, die gerne<br />

seufzt. Mittlerweile sind <strong>wir</strong> alle schon an Frau Svenssons andauerndes<br />

Seufzen gewöhnt <strong>und</strong> <strong>wir</strong> wissen, wann es etwas zu<br />

bedeuten hat <strong>und</strong> wann sie einfach nur so zum Spaß vor sich<br />

hin seufzt. Wenn Frau Svensson aber zwei- oder sogar dreimal<br />

hintereinander seufzt, dann muss man sich auf etwas gefasst<br />

machen. So wie jetzt.<br />

Widerstrebend öffne ich meine Augen <strong>und</strong> erwarte, gleich<br />

von Frau Svenssons anklagendem Blick getroffen zu werden.<br />

Aber das ist nicht der Fall. Im Gegenteil: Frau Svensson hat<br />

sich auf meine Bank gesetzt <strong>und</strong> stützt das Kinn auf eine ihrer<br />

manikürten Hände. Ihr Blick ist offen <strong>und</strong> fre<strong>und</strong>lich, doch ich<br />

sehe auch eine Spur von Traurigkeit in ihren Augen, die meine<br />

Kehle sofort wieder zuschwellen lässt.<br />

Ich schlucke.<br />

»Du weißt, dass es spezielle Lehrpläne <strong>und</strong> Programme für<br />

Schülerinnen wie dich gibt, oder? Mit denen <strong>wir</strong> dir helfen <strong>und</strong><br />

dich besser unterstützen können, zugeschnitten auf deine Bedürfnisse<br />

…«<br />

llllllllllllllll<br />

125 b


z<br />

Das Rätsel der<br />

Schleimspur<br />

]<br />

Jona Manow<br />

E<br />

ine Schnecke ist den ganzen Arm entlang gekrochen. Von<br />

Armbeuge bis Handgelenk. Estrich hat schon neun Löffel<br />

seines Müslis gegessen. Da hat er sie gesehen. Die glänzende<br />

Spur auf seinem Unterarm. Er nimmt einen zehnten Löffel.<br />

Es sind cornflakesartige <strong>Sterne</strong> mit Schokogeschmack. Wie ist<br />

diese Schnecke in sein Zimmer gekommen? Sie muss heute<br />

Nacht über seinen Arm gekrochen sein. Gestern Abend war die<br />

Schleimspur noch nicht da, er hätte sie beim Bettfertigmachen<br />

sicher entdeckt. Er nimmt zwar den zehnten Löffel, aber fängt<br />

wieder bei Eins zu zählen an, denn Neun ist seine Glückszahl.<br />

Bei allem <strong>und</strong> immer zählt er bis Neun. Und vor allem: Wie ist<br />

die Schnecke unbemerkt wieder aus seinem Zimmer herausgekommen?<br />

Oder sitzt sie da etwa noch irgendwo? Er hat keine<br />

Zeit, sie zu suchen. Er ist schon sehr knapp dran.<br />

Estrich entscheidet sich, seine Mutter zu fragen: »Warum ist<br />

Spider man auf der Cornflakespackung?«<br />

llllllllllllllll<br />

135 b


Jona Manow<br />

qllllllllllllllll<br />

a 136<br />

Vorher hat er noch schnell den Ärmel herabgezogen. Die<br />

Schleim spur muss erstmal geheim bleiben, bis er ihrem Ursprung<br />

näher gekommen ist.<br />

Seine Mutter sieht vom Tablet auf. Die Augen halb geöffnet.<br />

Sie holt langsam Luft. Estrich fällt immer erst zu spät ein, dass<br />

sie morgens nicht gerne spricht.<br />

»Was haben <strong>wir</strong> besprochen? Über die Warum-Fragen?«<br />

»Dass du es meistens auch nicht weißt?«<br />

»Ja. Naja«, sagt seine Mutter, »vor allem, dass du sie nicht so<br />

allgemein stellen sollst. Bisschen konkreter bitte.«<br />

»In Ordnung«, sagt Estrich <strong>und</strong> überlegt. Nimmt Löffel Drei.<br />

Fragt dann: »Warum ist da Spiderman auf der Packung außen<br />

drauf, in der Packung innen drin sind aber <strong>Sterne</strong>?«<br />

Diese etwas genauere Frage lässt seine Mutter offenbar zu,<br />

denn sie denkt nach. Estrich lässt sie nicht aus den Augen, als<br />

er Löffel Vier nimmt. Auf Löffel Vier ist deshalb nur Milch, die<br />

sein Kinn herabläuft, weil er mit dem Löffel den M<strong>und</strong> nicht<br />

trifft. Dann sagt sie endlich: »Keine Ahnung«, <strong>und</strong> sieht wieder<br />

aufs Tablet.<br />

»Spiderman kommt doch nicht auch von den <strong>Sterne</strong>n«, sagt<br />

er.<br />

»Keine Ahnung, kommt er nicht?« Sie sagt oft: »keine Ahnung«.<br />

»Nee«, sagt Estrich. »Ihn hat eine Spinne gebissen. Deshalb<br />

hat er die Superkräfte einer Spinne.«<br />

Wie bei Estrich die Schnecke!<br />

Löffel Fünf.<br />

Bekommt er jetzt auch Superkräfte? Welche Kräfte hätte ein<br />

Schneckensuperheld?<br />

Estrich nimmt Löffel Sechs <strong>und</strong> Sieben.<br />

llllllllllllllll


z<br />

Namin fliegt<br />

aus der Bahn<br />

]<br />

A. Scharmin Shakoor<br />

L<br />

iebes Tagebuch,<br />

tut mir leid, dass ich dir so lange nicht mehr geschrieben<br />

habe. Wir sind umgezogen <strong>und</strong> das war der pure Stress! Es<br />

ist so viel passiert, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen<br />

soll. Aber ich versuch’s mal.<br />

Letztes Jahr hat uns der Nebel einen kleinen Planeten geschenkt,<br />

das war ziemlich cool. Mama hat mir erklärt, dass<br />

Baby-Himmelskörper alle aus dem Nebel kommen. Ich auch.<br />

Aber ich hab damals erst spät angefangen, zu kreisen. Und<br />

ich hatte auch schon immer viel mehr Farbe als die anderen<br />

Baby-Planeten. Mama war manchmal besorgt, dass ich zu<br />

langsam kreisen würde. Immerhin müssen Planeten immer in<br />

Bewegung bleiben, weil sie sich sonst verlieren, so wie Onkel<br />

Planton damals, der getrödelt hat <strong>und</strong> seitdem in einem<br />

entfernten Sonnensystem kreist – traurige Geschichte, sagt<br />

Mama immer. Naja, jedenfalls ist Kos jetzt schon eine Weile<br />

bei uns <strong>und</strong> er ist schon richtig r<strong>und</strong> <strong>und</strong> dunkel. Wir kreisen<br />

immer um die Wette <strong>und</strong> schauen, wer schneller ist.<br />

llllllllllllllll<br />

147 b


A. Scharmin Shakoor<br />

qllllllllllllllll<br />

Durch unseren Umzug habe ich viele meiner liebsten Himmelskörper<br />

verloren <strong>und</strong> da Mama Besuch nicht leiden<br />

kann, werden <strong>wir</strong> uns wohl überhaupt nicht mehr wiedersehen.<br />

Das ist blöd, aber ich kann’s nicht ändern. Während<br />

unserer Reise sind <strong>wir</strong> jedenfalls eine ewig lange Straße entlang<br />

gekreist. Mama hat gesagt, dass sie Milchstraße heißt<br />

<strong>und</strong> eine der größten Straßen im ganzen Universum ist. Gut,<br />

dass Mama, Kos <strong>und</strong> ich uns nicht verloren haben – davor<br />

hatte ich echt Angst! Mama hat gesagt, dass <strong>wir</strong> wegmussten,<br />

weil der Ort, an dem <strong>wir</strong> vorher lebten, nicht mehr<br />

sicher war (schwarzes Loch oder so). Trotzdem würde ich<br />

manchmal gerne zurück. Mama ist irgendwie nicht mehr<br />

dieselbe. Sie weint oft <strong>und</strong> schreit uns manchmal gr<strong>und</strong>los<br />

an. Einmal hat sie Kos sogar aus der Umlaufbahn geworfen.<br />

Das war beängstigend! Aber dem Glück sei Dank hat er den<br />

Weg zurückgef<strong>und</strong>en. Seither reden die beiden kaum noch<br />

miteinander. Außerdem gefällt es Mama nicht, dass ich so<br />

hell bin. Sie sagt, das gehöre sich nicht für einen Planeten,<br />

<strong>und</strong> wenn ich nicht aufpasse, falle ich bald überall auf!<br />

Dabei möchte ich ja ein Planet wie jeder andere sein. Aber<br />

da ist dieses warme Gefühl in mir – <strong>und</strong> wenn ich es zurückhalte,<br />

dann fühle ich mich so anders, als wäre ich gar<br />

nicht ich selbst. Tja, es ist schon spät <strong>und</strong> ich muss morgen<br />

wieder in die doofe Schullaufbahn. Ich kriege Ärger, wenn<br />

ich verschlafe.<br />

Also, gute Nacht!<br />

Dein Namin<br />

a 148<br />

Der kleine Planet verstaute sein Tagebuch gut unter einem<br />

seiner Krater <strong>und</strong> schloss dann schnell die Augen, bevor seine<br />

Mutter merkte, dass er noch immer wach um sie kreiste.<br />

llllllllllllllll


z<br />

Pommes -<br />

bunker<br />

]<br />

Petra Ottkowski<br />

Kinder möchten lieber Krebs bekommen als dick sein. Das<br />

lernten <strong>wir</strong> heute in Bio. Alle waren geschockt, auch Kai,<br />

dabei ist er selbst etwas moppelig <strong>und</strong> merkt nicht, dass er im<br />

gleichen Boot sitzt. In der Schule haben <strong>wir</strong> Antimobbingwoche<br />

– in allen Unterrichtsfächern gleichzeitig. Anstrengend.<br />

Besonders bei dieser Hitze.<br />

Kai macht es wie die anderen: im Unterricht verständnisvoll<br />

zuhören <strong>und</strong> alle Lehrer fallen auf seine gutmütige Art rein.<br />

Aber kaum ist er nachmittags im Freibad, bekommt er wieder<br />

Lust, den Pommesbunker zu ärgern. Der Pommesbunker<br />

heißt eigentlich Pia <strong>und</strong> geht in die 6b, unsere Parallelklasse.<br />

Nach der Schule rede ich mit Oma. Wir sitzen in ihrem Garten,<br />

in der Nähe vom Gartenteich. Bei Waffeln <strong>und</strong> Kirschen<br />

<strong>und</strong> Eis sieht die Welt gleich besser aus. Oma hat nicht nur<br />

ein goldenes Herz, wie Mama immer meint. Vieles an Oma ist<br />

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157 b


Petra Ottkowski<br />

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tatsächlich aus Gold: Ihre Locken, ihre Ringe <strong>und</strong> Ketten <strong>und</strong><br />

der winzige Goldfisch, der in ihrem Ausschnitt baumelt. Seine<br />

grünen Edelsteinaugen leuchten in der Sonne <strong>und</strong> sein geöffnetes<br />

Fischmaul lässt ihn empört nach Luft schnappen. Genau<br />

wie Oma, als ich ihr alles erzähle. Vom Mobbing <strong>und</strong> den Aufklebern<br />

»Wir sind eine mobbingfreie Schule«, die schon am<br />

zweiten Tag übermalt waren.<br />

Aber was macht man, wenn die eigenen Fre<strong>und</strong>e mobben?<br />

»Sonja, ich merke, dass dich etwas bedrückt«, meint Oma.<br />

»Als das Video über Pia auftauchte, musste ich auch lachen«,<br />

gebe ich leise zu <strong>und</strong> hoffe, dass Oma mich noch mag.<br />

»Gut, dass du es wenigstens zugibst.«<br />

Mama reagierte anders. So als ob sie nie andere Leute ausgelacht<br />

hätte.<br />

»Mobbing <strong>und</strong> Mut fangen beide mit M an«, sagt Oma <strong>und</strong><br />

nimmt mich tröstend in den Arm. Am liebsten würde ich ihr<br />

mein Geheimnis verraten.<br />

a 158<br />

Am nächsten Tag gehen <strong>wir</strong> nach der Schule schwimmen. Wir,<br />

das sind Kai, Luca <strong>und</strong> Fynn. Und <strong>wir</strong> Mädchen – Ayla, Lilli<br />

<strong>und</strong> ich. Das Schwimmbad ist alt, aber hier gibt es die besten<br />

Pommes. Ich mag es, wenn mir schon beim Kartenkauf der typische<br />

Duft aus Chlor <strong>und</strong> Pommes entgegenweht. Der richtige<br />

Sommerduft. Die anderen wollen schon wieder losmobben.<br />

Das sehe ich ihnen an. Besonders Kai. Ich denke an Oma. Kai<br />

ärgert andere nur, weil er mit sich selbst unzufrieden ist.<br />

Mängelexemplar fängt auch mit M an.<br />

Ich betrachte ihn genauer. Tatsächlich scheint etwas an ihm<br />

zu nagen. Aber das hält ihn nicht davon ab, wieder leise hinter<br />

Pias Rücken »Pommesbunker« zu flüstern.<br />

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z<br />

Ein echter<br />

Fre<strong>und</strong><br />

]<br />

Margarita Kinstner<br />

L<br />

eon Anders war anders als andere Kinder. Und natürlich wusste<br />

er das auch. Er war ja nicht blöd. Blöd war nur, dass er so<br />

hieß, wie er war. Wenn er wenigstens Berger geheißen hätte.<br />

Oder Müller. Aber nein, er hieß Anders. Ausgerechnet.<br />

Schnaufend kämpfte sich Leon durch den Schnee. Dabei<br />

vollführten seine Beine schraubartige Bewegungen. Am Vortag<br />

war der Winter gekommen, jetzt lag auf allen Gehsteigen<br />

ein weißer, wattiger Teppich. Am Morgen hatte ihn seine Mutter<br />

mit dem Auto zur Schule gebracht, jetzt wollte er wie jeden<br />

Nachmittag den Bus nach Hause nehmen. Während Leon zur<br />

Haltestelle ging, fragte er sich, wie ihn seine Klassenkameraden<br />

nennen würden, wenn er nicht Anders hieße.<br />

Sein Fre<strong>und</strong> Mario hatte es auch nicht leicht. Er hieß Spatzinger<br />

<strong>und</strong> wurde von allen ausgelacht: »Mario, dein Spatzi<br />

hängt raus!« Wer hatte damit begonnen? Lisa? Oder war es<br />

Annalena gewesen? Marios Spatzi hing natürlich nicht raus.<br />

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169 b


Margarita Kinstner<br />

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Niemals. Mario wurde einfach nur so gemobbt, ohne Gr<strong>und</strong>.<br />

Vor allem Finn, Lisa <strong>und</strong> Annalena machte es Spaß, Mario zu<br />

quälen.<br />

Zu Leon sagten sie einfach nur: »Der Anders ist total anders.«<br />

Oder sie sagten: »Schaut, der Anders, der anders ist, kommt.«<br />

Wenigstens heiße ich nicht Spatzinger, dachte Leon. Sonst<br />

würden sie vielleicht schreien: »Spasti, dein Spatzi hängt<br />

raus!« Das wären dann gleich zwei Fliegen mit einer Klappe.<br />

a 170<br />

An manchen Tagen, wenn ihm das Gehen besonders schwerfiel,<br />

fragte sich Leon, ob er gern mit Mario tauschen würde.<br />

Er hätte gern Marios Beine gehabt, keine Frage. Bei Mario bewegten<br />

sich alle Gliedmaßen so, wie Mario es wollte. Aber Leon<br />

hatte Marios Eltern gesehen. Damals, vor dem großen Schulausflug.<br />

Die Spatzingers hatten nach Zigaretten <strong>und</strong> Alkohol<br />

gerochen <strong>und</strong> ihre Haut hatte auch nicht ges<strong>und</strong> ausgesehen.<br />

Schuppig irgendwie.<br />

Marios Eltern tranken zu viel Bier. Dass wusste Leon von<br />

Mario. Wenn Mario von der Schule heimkam, stand oft eine<br />

ganze Batterie leerer Dosen auf dem Tisch. Meist saßen die<br />

Spatzingers vor dem Fernseher. Und wenn sie nicht vor dem<br />

Fernseher saßen, dann stritten sie manchmal, bis die Fetzen<br />

flogen.<br />

Leons Eltern tranken nie. Leons Eltern stritten auch nie miteinander.<br />

Leons Eltern blieben in fast jeder Situation total ruhig.<br />

Selbst wenn der Arzt schlechte Neuigkeiten hatte. Leons<br />

Eltern waren unheimlich stark. Und cool.<br />

Vielleicht, dachte Leon, hätte der Mario gern meine Eltern.<br />

Und vielleicht, dachte er dann weiter, hätten meine Eltern gern<br />

einen Sohn wie Mario. Mario war super in Mathe. Mario war<br />

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In Opas<br />

Universum<br />

]<br />

Susanne Maria Emka<br />

I<br />

ch konnte mich einfach nicht an den Geruch gewöhnen. In<br />

den letzten drei Jahren <strong>und</strong> vier Monaten war ich fast jede<br />

Woche einmal hier gewesen. Und trotzdem: Diese Mischung<br />

aus Desinfektionsmittel <strong>und</strong> Kohlgemüse widerte mich immer<br />

noch an. Genau wie damals, als ich dieses Gebäude zum<br />

ersten Mal betreten hatte.<br />

Wir nahmen ausnahmsweise den Aufzug in den dritten<br />

Stock. Beladen wie <strong>wir</strong> waren, erwies sich das als schlaue Entscheidung.<br />

Mama balancierte die Schwarzwälder Kirschtorte<br />

in ihrem Transportbehälter so vorsichtig wie möglich. Trotzdem<br />

war das gute Stück schon auf dem Parkplatz angeditscht.<br />

»War ja klar!«, hatte Mama geseufzt. Aber sie wusste: Mein Opa<br />

liebte Schwarzwälder über alles, angeditscht oder nicht. Papa<br />

hatte unter jeden Arm ein Geschenk geklemmt. Opa würden<br />

sie nicht <strong>wir</strong>klich interessieren. Lilly, meine kleine Schwester,<br />

spielte mit den Schnüren von zwei großen, glänzenden Luft-<br />

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179 b


Susanne Maria Emka<br />

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a 180<br />

ballons, die zusammen eine 78 ergaben – falls jemand ihr die<br />

Dinger noch richtig rum ans Handgelenk band. Opa würde<br />

auch das nicht groß registrieren. Mein Geschenk würde Opa<br />

bemerken, da war ich mir sicher. Heimlich hatte ich es organisiert<br />

<strong>und</strong> bisher nur Schnüffelnase Lilly gezeigt.<br />

»Ob Tante Ricarda <strong>und</strong> Onkel Hannes schon da sind?«, überlegte<br />

Lilly laut.<br />

Ach, Onkel Hannes! Den hatte ich verdrängt.<br />

Mit einem »Pling« spuckte uns der Aufzug auf dem Waldstockwerk<br />

aus. Opa hatte den Wald immer geliebt. Es war also<br />

nur richtig, dass er nicht auf dem Wiesenstockwerk auf Etage<br />

zwei oder dem Bergstockwerk auf Etage vier wohnte. Noch<br />

besser als die Waldetage hätte das Universumsstockwerk gepasst,<br />

aber das war wohl den ehemaligen Heimbewohnern<br />

vorbehalten. Ja, makaber. Aber dieser Ort machte was mit mir.<br />

Jedenfalls war Opa Physiker gewesen – Astrophysiker. Kein<br />

Einstein, aber auch kein Niemand. In den 1980ern <strong>und</strong> 90ern<br />

hatte er Vorträge in der ganzen Welt gehalten. Heute reichte<br />

sein Reiseradius im Rollstuhl mit Hilfe vom Bett bis zum<br />

Fenster, vom Fenster bis zum Klo <strong>und</strong> dreimal am Tag bis zum<br />

Speisesaal um die Ecke.<br />

Opa hatte ich meinen Namen Ferdinand zu verdanken. Ferdinand,<br />

einer der Uranusmonde, war am 13. August 2001 entdeckt<br />

worden. Genau acht Jahre später wurde ich geboren. So<br />

kam ich zu meinem Namen. Und ich trug ihn mit Stolz. Opa<br />

hatte mich schon im zarten Alter von drei Jahren mit dem<br />

Weltraumvirus infiziert. Der erste Blick durch sein Fernrohr<br />

auf einen strahlenden <strong>Mond</strong> war meine früheste Erinnerung.<br />

Inzwischen war ich wild entschlossen, in seine Fußstapfen zu<br />

treten.<br />

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Wer hat’s<br />

geschrieben?<br />

]<br />

Die Autor:innen stellen sich vor<br />

<strong>Casjen</strong> <strong>Griesel</strong> (Hg.), Jahrgang 1997, liebt Texte, die Identität<br />

aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Er studierte Literarisches<br />

Schrei ben <strong>und</strong> Gender Studies <strong>und</strong> engagiert sich seit<br />

Jahren für quee re Menschen.<br />

<strong>Tina</strong> <strong>Pahnke</strong> (Hg.), geboren 1995, studierte Anglistik. Während<br />

eines Verlagspraktikums machte sie erste Lektoratserfahrungen.<br />

Am liebsten liest sie Geschichten, in denen sie sich selbst<br />

wiederfindet, <strong>und</strong> schreibt über Dinge aus dem Weltall.<br />

Hanne Benden liebt Bücher <strong>und</strong> hat schon als Kind davon geträumt,<br />

Autorin zu werden. Tagsüber versucht sie, in ihrer<br />

Büroarbeit das W<strong>und</strong>erbare im Alltäglichen zu sehen. Abends<br />

schreibt sie über diese <strong>und</strong> andere Welten.<br />

Nadine Buch hat bei Kleinverlagen veröffentlicht <strong>und</strong> Anthologie-Projekte<br />

unterstützt. Die Kunstpreis-Trägerin durfte Lesestoff<br />

in einer E-Anthologie der Verlagsgruppe Droemer Knaur<br />

unterbringen.<br />

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187 b


Die Autor:innen stellen sich vor<br />

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Jenny Cazzola ist die selbsternannte »Queen of Kurzgeschichten«<br />

<strong>und</strong> hat schon mehrere Kurzgeschichten in Anthologien<br />

veröffentlicht. Unter diesem Namen trifft man sie auch in den<br />

sozialen Medien.<br />

Susanne Maria Emka glaubte schon als Kind an die Macht von<br />

Geschichten. Wenn sie nicht gerade schreibt, setzt sie sich für<br />

mehr Natur in Gärten sowie auf Schulhöfen <strong>und</strong> kommunalen<br />

Flächen ein.<br />

Melanie Gerber schreibt für Kinder <strong>und</strong> Erwachsene. Sie studierte<br />

in Paris Literatur <strong>und</strong> in Zürich Literarisches Schreiben.<br />

Heute ist sie freischaffende Autorin <strong>und</strong> Lektorin <strong>und</strong> lebt<br />

in der Zentralschweiz.<br />

Agnes Gerstenberg schrieb mit 18 Jahren ihr erstes Theaterstück.<br />

Sie war Stipendiatin im Stuttgarter Schriftstellerhaus<br />

<strong>und</strong> der Akademie für Kindermedien. Als Dramaturgin <strong>und</strong><br />

Theaterpädagogin <strong>wir</strong>kte sie an verschiedenen Theatern.<br />

Alexandra Gutzke wurde im Ruhrgebiet geboren, wohnt aber<br />

schon lange in einem kleinen, gelben Haus in München. Am<br />

liebsten sitzt sie am großen Esstisch im Wohnzimmer <strong>und</strong><br />

denkt sich Geschichten aus.<br />

Christin Habermann, geboren 1991, arbeitet im internationalen<br />

Bildungswesen. Nach Zwischenstopps in South Dakota (USA)<br />

<strong>und</strong> Leipzig lebt <strong>und</strong> schreibt sie seit 2018 in Düsseldorf. Ihre<br />

Geschichten wurden mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet.<br />

a 188<br />

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Wer hat’s geschrieben?<br />

Miou Sascha Hilgenböcker (kein Pronomen/agender), geboren<br />

1990 in Bielefeld, lebt in Frankfurt am Main, schreibt Prosa,<br />

Lyrik, Essayistisches <strong>und</strong> übersetzt für das Nachrichtenportal<br />

amerika 21.<br />

Margarita Kinstner lebt in Graz. Ihr Debüt »Mittelstadtrauschen«<br />

erschien 2013, seitdem folgten zwei weitere Romane.<br />

Zuletzt erhielt sie den Kinder- <strong>und</strong> Jugendliteraturpreis des<br />

Landes Steiermark.<br />

Jona Manow ist Regisseur. Am Theater. Und dieses Jahr bei<br />

seinem ersten Kurzfilm. Er schreibt Theaterstücke <strong>und</strong> Prosa.<br />

Aus der Kurzgeschichte von Estrich ist mittlerweile ein Roman<br />

geworden.<br />

Petra Ottkowski, Jahrgang 1967, Künstlerin <strong>und</strong> Dozentin an<br />

einer Berliner Hochschule, Veröffentlichungen in Anthologien,<br />

verbringt die Sommerferien am liebsten schreibend <strong>und</strong> malend<br />

im Green Gym.<br />

A. Scharmin Shakoor ist Autor:in, Akivist:in, päd. Fachkraft<br />

<strong>und</strong> arbeitet zu den Themen Klassismus, soziale Ungleichheit<br />

<strong>und</strong> geschlechtliche Vielfalt. A. ist Verfechter:in intersektionaler<br />

queer_feministischer <strong>und</strong> anti-rassistischer Ansichten.<br />

Katharina Spengler, geboren 1983, lebt mit ihrer Familie im<br />

Taunus <strong>und</strong> schreibt Geschichten für Kinder, Jugendliche <strong>und</strong><br />

Erwachsene. Zahlreiche davon sind in Anthologien erschienen.<br />

www.katharinaspengler.de<br />

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189 b


Die Autor:innen stellen sich vor<br />

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Dennis Stephan, Jahrgang 1989, lebt <strong>und</strong> arbeitet als Redakteur,<br />

Buchautor <strong>und</strong> Teilzeit-Papa in Berlin. Sein Roman »Und<br />

in mir ein Ozean« war 2019 für die Hotlist der Unabhängigen<br />

Verlage nominiert.<br />

T. B. VoThi, geboren 1994, wohnt in Hannover, studiert Chemie<br />

<strong>und</strong> Deutsch auf Lehramt <strong>und</strong> hat bereits »Die Venus in der<br />

Vitrine« für die Anthologie »Weltentor Fantasy 2021« verfasst<br />

(erschienen im Noel-Verlag).<br />

Heike Westendorf veröffentlicht seit 2017 fantastische Abenteuer<br />

<strong>und</strong> Hörspiele für Kinder, am liebsten mit sprechenden<br />

Tieren, Drachen <strong>und</strong> Zaubersprüchen. Mehr Infos gibt es auf c<br />

Marcel Weyers ist Autor, Lektor <strong>und</strong> Übersetzer von Videospielen.<br />

Er schreibt vor allem Fantasy <strong>und</strong> übersetzt unter anderem<br />

Visual Novels <strong>und</strong> Adventurespiele. Zurzeit lebt er mit<br />

seinem Mann in Dresden.<br />

L<br />

a 190<br />

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z<br />

Was in den<br />

Geschichten vorkommt<br />

]<br />

Themen <strong>und</strong> Stichworte<br />

In manchen Geschichten kommen vielleicht Themen <strong>und</strong> Situa<br />

tionen vor, über die du nicht so gerne etwas lesen willst.<br />

Deshalb findest du hier zu jeder Geschichte ein paar Stichworte,<br />

die grob sagen, worum es geht <strong>und</strong> wer darin vorkommt.<br />

Umgekehrt kannst du so auch sehen, ob dich eine Geschichte<br />

besonders interessiert.<br />

S. 7 Das Blaue W<strong>und</strong>er –Umwelt, andere Lebenswelten, alleinerziehende<br />

Mutter, Migration, BIPoc,<br />

Queerness (Nonbinarität)<br />

S. 20 Das Lied der Weltraumwale – Flucht, Migration, Armut,<br />

alleinerziehender Vater<br />

S. 30 Mehtap rennt – Armut, Fre<strong>und</strong>schaft, Scheidung, allein<br />

erziehende Mutter, soziales Engagement<br />

S. 39 Ein Schwert für Anna – Schlüsselkind, Arbeitslosigkeit,<br />

Alkoholismus, Ausgrenzung, Armut, Phantasiewelt<br />

S. 50 Hühner götter – Krankheit (Albinismus, Neurodermitis),<br />

Religion (Wicca), Ausgrenzung, Natur, abwesender<br />

Vater<br />

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191 b


Themen <strong>und</strong> Stichworte<br />

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a 192<br />

S. 61 Toni <strong>und</strong> die perfekte Marie –Behinderung (fehlender<br />

Arm), ADHS, Fre<strong>und</strong>schaft, Ausgrenzung<br />

S. 69 Besuch von den <strong>Sterne</strong>n – Queerness (trans* Kind), andere<br />

Lebenswelten<br />

S. 77 Meine Brüder – Verlust, Tod (<strong>Sterne</strong>nkinder), Depression<br />

S. 84 Tage mit Sternschnuppen –Trennung der Eltern, Autismus<br />

S. 94 Einfach Alex –Queerness (trans* Kind), getrennte Eltern<br />

S. 105 Der Spielplatz auf dem <strong>Mond</strong> – Migration, BIPoC, fremde<br />

Kulturen, Ausgrenzung<br />

S. 115 Sirius – fernes Leuchten – Tod (der Mutter), Trauer<br />

S. 124 Ich bin nicht störde! – Legasthenie<br />

S. 135 Das Rätsel der Schleimspur –alleinerziehende Mutter,<br />

Queerness, Fantasiewelt<br />

S. 147 Namin fliegt aus der Bahn – Queerness, andere Lebenswelten<br />

S. 157 Pommes bunker – Bodyshaming, Ausgrenzung, Sexismus<br />

S. 169 Ein echter Fre<strong>und</strong> –Behinderung (Zerebralparese),<br />

Fre<strong>und</strong>schaft, häusliche Gewalt, Alkoholismus, Ausgrenzung<br />

S. 179 In Opas Universum – Krankheit (Demenz)<br />

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