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Verbindliche Unterrichtsinhalte im Fach Musik für das Abitur 2014 I ...

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<strong>Verbindliche</strong> <strong>Unterrichtsinhalte</strong> <strong>im</strong> <strong>Fach</strong> <strong>Musik</strong> <strong>für</strong> <strong>das</strong> <strong>Abitur</strong> <strong>2014</strong><br />

1<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

I. <strong>Musik</strong> <strong>im</strong> Spannungsfeld gesellschaftspolitischer Entwicklungen:<br />

Komponieren als Ausdruck der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen<br />

und künstlerischen Konventionen<br />

Der Komponist an der Schwelle zum bürgerlichen Zeitalter<br />

- Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 3, 1. Satz<br />

- Franz Schubert: Der Wanderer<br />

<strong>Musik</strong> als Zeugnis gesellschaftspolitischen Engagements<br />

- Kurt Weill: Ballade von der Seeräuberjenny<br />

- J<strong>im</strong>i Hendrix: Star Spangled Banner<br />

- Public Enemy: Fight The Power<br />

Im Leistungskurs zusätzlich:<br />

- Hans Werner Henze: El C<strong>im</strong>arrón<br />

Im Leistungskurs zusätzlich:<br />

<strong>Musik</strong>alisch-künstlerische Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen<br />

- Sofia Gubaidulina: Violinkonzert „In tempus praesens“ (2007)<br />

II. Ästhetische Kategorien musikalischer Komposition:<br />

<strong>Musik</strong> zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit<br />

Reduktion und Konzentration<br />

- Arnold Schönberg: op. 19.2 und 19.6<br />

Rückbesinnung und Traditionsbezug<br />

- Igor Strawinsky: Pulcinella-Suite, Ouvertüre<br />

- Sergei Prokofjew: Sinfonie Nr. 1, 1. Satz<br />

Sachlichkeit und Realismus<br />

- Alexander Mossolow: Die Eisengiesserei op. 19<br />

Im Leistungskurs zusätzlich:<br />

- Paul Hindemith: Kammermusik Nr. 1, Finale 1921 3/3<br />

Adaption und Integration<br />

- Béla Bártok: Wie ein Volkslied, Mikrokosmos Nr. 100<br />

Im Leistungskurs zusätzlich:<br />

- George Antheil: A Jazz Symphony<br />

III. Neue Klang- und Ausdrucksmöglichkeiten:<br />

Auswirkungen neuer Technologien auf musikalische Gestaltung<br />

Elektronische Komposition als Überwindung traditionellen Materialdenkens<br />

- Karlheinz Stockhausen: Gesang der Jünglinge<br />

Elektronik Pop als Ideengeber <strong>für</strong> Hip Hop und Techno<br />

- Kraftwerk: Trans Europa Express (Album: Trans Europa Express. Kling<br />

Klang/EMI 1977)<br />

- Numbers (Album: Computerwelt. Kling Klang/EMI 1981)<br />

DJing und Sampling in Techno und House als Ausgangspunkt elektronischer Tanzmusik<br />

- Steve “Silk” Hurley: Jack Your Body (Album: The Real Classics Of Chicago 2. ZYX 2003)<br />

- Underground Resistance: Final Frontier (Album: Final Frontier. MP3-<br />

Download, 2001)<br />

Im Leistungskurs zusätzlich:<br />

Fusion als technische und künstlerische Öffnung <strong>im</strong> Jazz<br />

- Miles Davis: Miles Runs The Voodoo Down (Album: Bitches Brew, 1970)


Materialien zum Zentralabitur <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong> NRW<br />

Teil a<br />

V e r b i n d l i c h e I n h a l t e<br />

I. <strong>Musik</strong> <strong>im</strong> Spannungsfeld gesellschaftspolitischer<br />

Entwicklungen:<br />

Komponieren als Ausdruck der Auseinandersetzung mit<br />

gesellschaftlichen<br />

und künstlerischen Konventionen<br />

Der Komponist an der Schwelle zum bürgerlichen Zeitalter<br />

- Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 3, 1. Satz<br />

- Franz Schubert: Der Wanderer<br />

<strong>Musik</strong> als Zeugnis gesellschaftspolitischen Engagements<br />

- Kurt Weill: Ballade von der Seeräuberjenny<br />

- J<strong>im</strong>i Hendrix: Star Spangled Banner<br />

- Public Enemy: Fight The Power<br />

Im Leistungskurs zusätzlich:<br />

- Hans Werner Henze: El C<strong>im</strong>arrón<br />

Im Leistungskurs zusätzlich:<br />

<strong>Musik</strong>alisch-künstlerische Auseinandersetzung mit<br />

existentiellen Fragen<br />

- Sofia Gubaidulina: Violinkonzert „In tempus praesens“ (2007)<br />

2<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

M ö g l i c h e r unterrichtlicher Kontext<br />

Mozart: Bastien und Bastienne, Intrada<br />

Beethoven: Die Geschöpfe des Prometheus<br />

Selah: Wayfaring Stranger<br />

Wagner: Tristan und Isolde, So stürben wir<br />

Weill: Liebeslied aus der Dreigroschenoper<br />

Wagner: Sentaballade aus "Der fliegende Holländer"<br />

Nationalhymnen amerikanische Hymne)<br />

Stockhausen, Hymnen (Deutschlandlied)<br />

Die Wacht am Rhein / Film Casablanca<br />

Reverend Kelsey: I'm a royal child<br />

Trad.: We shall overcome<br />

Die Vorschläge dieser Spalte sollen Hilfestellungen und<br />

Anregungen sein, aber nicht notwendige Freiräume <strong>für</strong> Lehrer<br />

und Schüler einengen. Es ist also nicht daran gedacht, sie<br />

restlos abzuarbeiten.


Auf dem Weg zur bürgerlichen Gesellschaft<br />

3<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Die Entdeckung des 18. Jahrhunderts war <strong>das</strong> Individuum, dessen hervorstechende Merkmale jetzt - in Umkehrung der bisherigen<br />

Norm - in der Subjektivität, <strong>im</strong> Irrational-Lebendigen, <strong>im</strong> (nicht mit rationalen Kriterien fassbaren) Gefühl gesehen werden. "Le<br />

sent<strong>im</strong>ent est plus que la raison", sagt Rousseau. 'Natürlich' ist, was sich nicht in Vernunftsysteme zwängen lässt. Natürliches Gefühl<br />

äußert sich nicht in vorgestanzten Formeln und Formen, sondern spontan, individuell, unverwechselbar-charakteristisch. Der<br />

Künstler ist nicht mehr ein Handwerker, der seine Werke mit gewöhnlichem Werkzeug und mit Hilfe gelernter Regeln nach<br />

bewährten, beispielhaften Mustern herstellt, sondern ein Zauberer, dessen Hervorbringungen genialer, nicht erklärbarer Intuition und<br />

Phantasie entspringen. Kunst hat Seele und Charakter, nicht Rationalität. Sie ist nicht Nachahmung und Darstellung der objektiven<br />

Welt und des Allgemeinen, sondern ursprünglicher, unvermittelter Ausdruck des subjektiven Innern. Echte, wahre Kunst entsteht<br />

nicht, indem der Künstler der Logik der Vernunft folgt, sondern nur, indem er sich von der ‚Logik' der Leidenschaft leiten lässt. Die<br />

künstlerische Äußerung wird zum Psychogramm, Dichtung zur Erlebnisdichtung. Die <strong>Musik</strong> hat nicht mehr den 'vernünftigen'<br />

Zweck, den Hörer zu unterhalten und zu belehren, sondern wird durch Vermittlung des Künstlers zur Sprache der Natur, die alle<br />

Vernunft übersteigt. Der Hörer ist jetzt tendenziell ein rückhaltlos sich Einfühlender, <strong>im</strong> Kunstwerk seine eigene Subjektivität<br />

Entdeckender.<br />

Den Gipfelpunkt dieser Bewegung, die man in der Literatur- und <strong>Musik</strong>geschichte mit den Begriffen "Empfindsamkeit" und "Sturm<br />

und Drang" kennzeichnet, stellt Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werthers" (1770) dar, der zu einem Signal <strong>für</strong> die junge<br />

Generation wurde. Äußeres Indiz <strong>für</strong> die außerordentliche Sprengkraft dieser radikalen Entdeckung des Individuums und -vor allem -<br />

des Gefühls (als eines Ausweises höherer Menschlichkeit) waren die vielen Selbstmorde, die damals in Nachahmung Werthers<br />

wegen der unerträglichen Spannung zwischen der neu entdeckten inneren Freiheit und dem noch bestehenden feudalen<br />

Zwangssystem verübt wurden.<br />

In der französischen Revolution kollabierte <strong>das</strong> feudale Herrschaftssystem, die bisherigen Untertanen mutierten von da an in einem<br />

langen Prozess zu Bürgern.<br />

Ein Zwischenschritt auf diese radikale Wende zu ist in der Mitte des 18. Jahrhunderts der galante und empfindsame Stil mit seiner<br />

Popularisierungstendenz. Der Wandel vollzog sich <strong>im</strong> Umfeld des feudalen <strong>Musik</strong>- und Opernbetriebs. Der Adel spielte dabei sogar<br />

aktiv mit. Es gefiel ihm, sich als Schäfer/in zu verkleiden und bei ländlichen Festen und Aufführungen aufzutreten. So wirkten 1752<br />

bei der Aufführung von Rousseaus sozialkritischem Singspiel „Le Devin du village“ König Louis XV und die Marquise de<br />

Pompadour (in der Rolle des Colin) mit. Bei Mozarts "Bastien und Bastienne", <strong>das</strong> Rousseaus Vorbild folgt, war <strong>das</strong> vielleicht<br />

anders. Angeblich wurde <strong>das</strong> Werk von dem damals berühmten Arzt und Magnetiseur Franz Anton Mesmer in Auftrag gegeben und<br />

in dessen Gartentheater in Schwechat uraufgeführt. Das wäre dann ein frühes Zeugnis bürgerlichen Mäzenatentums.


Jean-Jacques Rousseau: Le devin du village (Der<br />

Dorfwahrsager), 1752<br />

Inhalt: 1<br />

Die Schäferin Colette wurde von ihrem Geliebten<br />

Colin verlassen, der sich einer adeligen Dame in<br />

der Stadt zugewandt hat. Der von Colette um Rat<br />

gefragte Dorfwahrsager prophezeit ihr, <strong>das</strong>s Colin<br />

zu ihr zurückkehre, aber gibt ihr den Rat, ihn<br />

zuerst abzuweisen, weil <strong>das</strong> seine Liebe zu ihr<br />

wieder anfachen werde. Als Colin zurückkehrt,<br />

weil er <strong>das</strong> Schäferkleid dem höfischen Prunk<br />

doch vorzieht, tut Colette, was ihr geraten wurde,<br />

und hat Erfolg.<br />

Rousseaus Anliegen war die Orientierung an der Natur<br />

(„Zurück zur Natur“). Politisch ist <strong>das</strong> Stück eine Kritik<br />

an der Standesgesellschaft.<br />

Wolfgang Amadeus Mozart: Bastien und Bastienne<br />

(1768),<br />

Intrada<br />

Inhalt 2 :<br />

Die Schäferin Bastienne besucht den<br />

Dorfwahrsager Colas. Sie bittet ihn um Rat, denn<br />

sie be<strong>für</strong>chtet, ihren Liebhaber Bastien an Phyllis 3<br />

zu verlieren. Colas rät ihr sich stets gleichgültig<br />

zu verhalten und sich nichts anmerken zu lassen.<br />

Kurze Zeit später besucht Bastien den Zauberer<br />

und sagt ihm, er möchte bald seine Geliebte<br />

Bastienne ehelichen. Der Zauberer gaukelt ihm<br />

jedoch vor, diese habe sich inzwischen in jemand<br />

anderen verliebt und winkt Bastienne zu sich.<br />

Bastien gerät vor Eifersucht außer sich, Bastienne<br />

reagiert jedoch vollkommen gleichgültig.<br />

Schließlich droht Bastien mit Selbstmord und<br />

kann sie so doch noch rühren. Die beiden<br />

umarmen sich innig und danken Colas <strong>für</strong> seine<br />

Hilfe..<br />

Klangbeispiele<br />

Rosseau: Ouverture:<br />

http://www.youtube.com/watch?v=hHhf4TEc6FI<br />

Mozart: Intrada und folgende Stücke:<br />

http://www.youtube.com/watch?v=reEdfrWZxVY&featu<br />

re=results_video&playnext=1&list=PL68A4F3FF703B0<br />

937<br />

1<br />

nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Le_Devin_du_village<br />

2<br />

nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Bastien_und_Bastienne:<br />

3<br />

In Hirtengedichten wurde Phyllis gerne als Name <strong>für</strong> liebeskranke Schäferinnen benutzt.<br />

4<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012


Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Stefan Kunze: 4<br />

Mozart dachte nicht daran, »die Kunst der Natur zu opfern« und sich auf Liedeinlagen zu beschränken. So entstand eine<br />

vollgültige kleine Oper, die ihren Kunstcharakter nicht <strong>im</strong> mindesten verleugnete, um dem >Volkston< durch liedhafte<br />

Schlichtheit zu huldigen. ...<br />

Das Genre des deutschen Singspiels hatte damals noch kaum festere Umrisse gewonnen. Mozart hatte keinen vorgegebenen<br />

Ansprüchen zu genügen, sich kein festes musikalisch-dramatisches Vokabular anzueignen. Bastien und Bastienne hätte <strong>das</strong><br />

Idealbild des deutschen Singspiels, wie es seinen Vätern vorschwebte und niemals erreicht wurde, abgeben können, wenn es<br />

nachahmbar gewesen wäre. Doch ist <strong>das</strong> Werk natürlich nie in die Geschichte des deutschen Singspiels eingetreten, die in<br />

den 60er Jahren in Leipzig (Johann Adam Hiller, 1728-1804) begann. Man mag sogar noch weiter gehen und Bastien und<br />

Bastienne <strong>für</strong> die unwillkürliche Erfüllung dessen halten, was Rousseau sich vorstellen mochte, wenn er die Neuorientierung<br />

an der Natur forderte und von der <strong>Musik</strong> als unvermittelter »Sprache des Herzens« (»langage du cœur«) sprach. Noch<br />

präziser wurde diese Vorstellung <strong>im</strong> deutschen Raum durch den Terminus »Sprache der Empfindung« bezeichnet. Mozarts<br />

<strong>Musik</strong> ist indessen ebensoweit entfernt von der künstlichen, mit dem Schäferwesen des angehenden Rokoko verbrämten<br />

Natürlichkeit wie von realistischer bzw. realistisch gemeinter Annäherung an <strong>das</strong> Landleben. Natur oder Natürlichkeit meint<br />

etwas musikalisch Spezifisches, nämlich die Qualität des Unabgeleiteten und Unableitbaren, den Charakter einer<br />

unvermittelten musikalischen Sprache. Aber »Natur« ist hier nicht nur untrennbar mit dem Kunstcharakter verknüpft,<br />

sondern sogar dessen Resultat. Beweglichkeit des Satzbaues und Plastizität der Gebilde gehen eine in Mozarts frühesten<br />

Werken einmalige Verbindung ein.<br />

André-Ernest-Modeste Grétry 5 :<br />

"All <strong>das</strong>, was wahr ist, hat Charakter. Nur Halbwahrheiten stoßen ab... Über hundert Ideen, die <strong>im</strong> Kopf des Künstlers gären,<br />

müssen eine oder zwei regieren. In einem guten <strong>Musik</strong>stück gibt es nur wenige best<strong>im</strong>mende Züge, denen die anderen<br />

untergeordnet sind. In einem Bild gibt es fast nur eine, zwei oder drei Hauptfiguren; alle anderen sind nebensächlich...<br />

Ein Gedanke stellt sich unserem Geiste nicht plastisch dar, wenn ihn nicht sein Widerspruch begleitet, so wie der Schatten<br />

die beleuchteten Körper. Der Künstler begreift besser als andere Menschen die Kontraste, die auf die Sinne einwirken...<br />

Stetiger Lärm hört auf, Lärm zu sein; indessen ist <strong>das</strong> Kraftvolle notwendig, um die sanfteren Farben zur Wirkung zu<br />

bringen. Es gibt zwei Arten, die Extreme laut und leise einzusetzen: die erste, wenn man unerwartet von einem ins andere<br />

übergeht, erscheint drastisch. Wenn wir aber durch tausend kleine Kontraste und in nicht wahrnehmbaren Nuancen den<br />

Abstand durchmessen, der diese beiden Extreme trennt, so benutzt diese zweite Art, obwohl weniger wirkungsvoll, alle<br />

Mittel der Kunst und befriedigt <strong>das</strong> Ohr des Künstlers mehr. Schließlich, obwohl Voltaire gesagt hat, <strong>das</strong>s es in den Künsten<br />

mehr wert sei, kräftig zuzuschlagen als richtig, werden wir uns erlauben zu sagen, <strong>das</strong>s es Sache des aufgeklärten<br />

Komponisten ist, zu wissen, welche Mittel er benutzen muss, um wahr zu sein, gemäß dem Charakter der Personen, die er<br />

sprechen lässt."<br />

Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 3. op. 55 (Eroica), 1. Satz (1803/04)<br />

'Normal'-Version<br />

des Hauptthemas:<br />

Klangbeispiel:<br />

http://www.youtube.com/watch?v=NjK3P45WeXQ<br />

4<br />

Stefan Kunze: Mozarts Opern, Stuttgart1984, S. 37<br />

5<br />

Aus: Memoiren oder Essays über die <strong>Musik</strong>, Lüttich 1796-97. Zit. nach der Neuausgabe und Übersetzung von Peter Gülke, Wilhelmshaven 1978, S.<br />

246, 257 und 259f.<br />

5


6<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Mozarts „Bastien und Bastienne“ stammt aus dem Jahre 1768. Zwei Jahre später entsteht die Bewegung des Sturm und Drang, der<br />

Geniekult der Unmittelbarkeit, des Individuellen, der die Idee der Natürlichkeit und Empfindsamkeit erweitert um eine bis dahin<br />

ungekannte Freiheit und Intensität der Expression.<br />

Mozarts frühes Singspiel ist noch ganz dem galanten und empfindsamen Stil verpflichtet. Es wendet sich mit seiner Einfachheit<br />

gegen barocken Pomp und grenzt sich in seiner Empfindsamkeit ab von bloß gespielter Schäferidyllik.<br />

Die Ouverture trägt zwar noch den altertümlichen Titel „Intrada“, zeigt aber <strong>im</strong> ersten Teil alle Merkmale einer galanten <strong>Musik</strong>:<br />

einfache (pastorale) Dreiklangsmelodik mit anschließenden stufenmelodischen Floskeln, Begleitung mit einfacher Harmonik und<br />

Bordunton („Hirtenmusik“) sowie Achtelrepetitionen als typischer Grundierung in der galanten <strong>Musik</strong>. Sie entspricht damit dem Plot<br />

des Librettos von Johann Andreas Schachtner.<br />

Den Widerpart bilden <strong>im</strong> Folgenden die Überleitungen zu anderen Tonarten, die teilweise dramatisch akzentuiert sind (vgl. D V , T.31)<br />

und modulatorisch den einfachen harmonischen Rahmen erweitern. Doch auch hier finden wir die repetierten Achtel, die also ein<br />

vereinheitlichendes Moment darstellen, ein partielles Relikt sozusagen des barocken Einheitsablaufs.<br />

Anders als in Rousseaus Singspiel fehlt bei Schachtner/Mozart eine direkte politische Aussage, denn Phyllis gehört dem gleichen<br />

Stand an wie Bastienne. Es geht also ausschließlich um die Empfindsamkeit, um die menschlichen Beziehungen.<br />

Personencharakteristik erreicht man aber nicht durch einen Einheitsablauf, sondern durch einen Mischstil, durch Kontraste und<br />

Diversifizierung, so wie Grétry, ein Zeitgenosse Mozarts, der selbst auch ein damals sehr bekannter Opernkomponist war, es in dem<br />

oben abgedruckten Text ausdrückt.<br />

An die Stelle des barocken (typisierten) Affekts tritt <strong>das</strong> (changierende) Gefühl, an die Stelle der vertikal vom Fundament, dem<br />

Generalbass gesteuerten und häufig polyphon vernetzten Struktur tritt ein melodiebetonter Ablauf mit homophoner Begleitung, der in<br />

seiner horizontalen Ausrichtung sich besser den fluktuierenden Facetten der Empfindungssprache anpassen kann und in seiner<br />

strukturellen und formalen Einfachheit den Popularisierungstendenzen der Zeit entspricht .<br />

Mit Blick auf den Text von Grétry: Die Intrada enthält Kontraste in allen Teilen:<br />

Der 1. Teil (A, T. 1-14)<br />

besteht aus den beiden kontrastierenden „Hauptfiguren“ des Stückes:<br />

T- 1-4: Statik: Dreiklangsfigur (Naturklang), stehende Harmonik (Bordun)<br />

T. 5-14: beginnende vorsichtige Entwicklung: stufenmelodische Gänge mit volkstümlichem Sextenparallelismus und deutliche<br />

Empfindungsakzente (Seufzermotive in T. 6, 10, 12), leicht wechselnde Harmonik.<br />

Die beiden Figuren stehen sich aber nicht „drastisch“ gegenüber, sondern sind miteinander verquickt, nicht nur durch den Bordunton<br />

und die Achtelrepetitionen, sondern auch durch weitere Korrespondenzen (Halbe-Viertel-Rhythmus in T. 1, 2, 6 10, 12 sowie die 4-<br />

Achtelfigur in T. 3, 5, 7, 9, 11, 14).<br />

Dieser erste Themenkomplex symbolisiert also die Einheit von Naturton und Empfindungston, ist sozusagen ein Modell einer<br />

humanen bürgerlichen Welt.<br />

Im Verlaufe des Stückes wiederholt sich dieser Komplex in einer Art Rondoform <strong>im</strong>mer wieder in wechselnden Tonarten:<br />

G (1-14) / D (20-31) / G (38-49) / C (55-66). Die Coda fasst die Elemente verkürzt zusammen und endet in G-Dur.<br />

Zwischen diesen „Refrains“ fungieren die kontrastierenden B-Teile als Überleitungen, die durch schnellere Figuren und<br />

modulatorische Prozesse die dramatischen Verwicklungen des Librettos – besonders hervorstechend der D v in T. 42 - widerspiegeln.<br />

Ein gewisser Konnex besteht aber dennoch zwischen A- und B-Teilen durch die Achtelrepetitionen der Begleitung. Damit entspricht<br />

die <strong>Musik</strong> dem Ideal der Einheit <strong>im</strong> Verschiedenen.<br />

Mozarts Intrada spiegelt noch die ältere Vorstellung von dem zyklischen Charakter der Zeit, von der Wiederkehr best<strong>im</strong>mter<br />

Zustände <strong>im</strong> Kreislauf (der Jahre, der Tage, der Gestirnskonstellationen usw.). Die Weltordnung wird noch weitgehend als stabil<br />

empfunden. Sonst könnte <strong>das</strong> Hauptthema nicht <strong>im</strong>mer - mit nur beiläufigen Veränderungen - wiederkehren.


Beethoven: 3. Sinfonie T. 1-50 (Klavierauszug 6 )<br />

7<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Friedrich Schlegel: 7<br />

Es pflegt manchem seltsam und lächerlich aufzufallen, wenn die <strong>Musik</strong>er von den Gedanken in ihren Kompositionen reden; und<br />

oft mag es auch so geschehen, <strong>das</strong>s man wahrn<strong>im</strong>mt, sie haben mehr Gedanken in ihrer <strong>Musik</strong> als über dieselbe. Wer aber Sinn <strong>für</strong> die<br />

wunderbaren Affinitäten aller Künste und Wissenschaften hat, wird die Sache wenigstens nicht aus dem platten Gesichtspunkt der<br />

sogenannten Natürlichkeit betrachten, nach welcher die <strong>Musik</strong> nur die Sprache der Empfindung sein soll, und eine gewisse<br />

Tendenz aller reinen Instrumentalmusik zur Philosophie an sich nicht unmöglich finden. Muss die reine Instrumentalmusik sich<br />

nicht selbst einen Text erschaffen? und wird <strong>das</strong> Thema in ihr nicht so entwickelt, bestätigt, variiert und kontrastiert wie der<br />

Gegenstand der Meditation in einer philosophischen Ideenreihe?<br />

Martin Geck (2012): 8<br />

Just mit Beginn des 19. Jahrhunderts wird der Komponist vom »Tonsetzer« zum »Tonkünstler« oder »Tondichter« nobilitiert. Für die<br />

Frühromantiker ist die <strong>Musik</strong> die Kunst des »Absoluten« und »Unendlichen«, und so legt die gebildete Gesellschaft den großen<br />

Meistern die ehrenvolle Verpflichtung auf, <strong>das</strong> Ihrige zu den Ideen der Zeit beizutragen, anstatt nur <strong>für</strong> religiöse Erbauung oder<br />

angenehme Unterhaltung zu sorgen.<br />

Beethoven ist einer der Ersten, die diese Aufgabe bis ins Letzte ernst nehmen und alles daransetzen, der Forderung der Zeit zu<br />

entsprechen. »Es gibt keine Abhandlung«, so schreibt er 1809 seinem Leipziger Verleger Gottfried Christoph Härtel, »die sobald zu<br />

gelehrt <strong>für</strong> mich wäre.« Denn von Kindheit an habe er sich bemüht, »den Sinn der Bessern und Weisen jedes Zeitalters zu fassen:<br />

Schande <strong>für</strong> einen Künstler, der es nicht <strong>für</strong> seine Schuldigkeit hält, es hierin wenigstens so weit zu bringen«.<br />

6 Neue Ausgabe von Otto Singer. Edition Peters Nr. 9008, Leipzig, C.F. Peters, o. J. ca 1910<br />

7 Athenäumsfragmente, 1798 (Fragment 444), zit. nach: Charles Rosen: Der klassische Stil, Kassel1983, S. 427<br />

8 DIE ZEIT, 5.7.2012 Nr. 28. http://www.zeit.de/2012/28/Beethoven-Goethe


8<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Beethoven 'zitiert' sozusagen <strong>im</strong> 1. Thema seiner 3. Sinfonie Mozarts Intrada, ohne sie wahrscheinlich gekannt zu haben. Pastoraler<br />

Dreiklangsgestus, Bordun und Achtelrepetitionen sind eben traditionelle Sprachmuster der <strong>Musik</strong>, deren sich alle Komponisten<br />

damals bedienten. Allerdings wird <strong>das</strong> alte Modell in Beethovens Sinfonie zu etwas Neuem. Die verstörenden Akkordschläge am<br />

Anfang brechen den pastoralen Gestus ebenso wie die expressiv-akzentuierende Dynamik und <strong>das</strong> unvermittelte Abgleiten in den<br />

Lamentogestus (T. 6-7), dessen Spannung durch die synkopischen Viertelrepetitionen der 1. Violine verstärkt wird. Gleich darauf -<br />

bei der Rückführung nach Es-Dur - nehmen Melodie und Begleitung einen freundlichen, wärmeren Ton an. Auf engstem Raum wird<br />

also ein breites Spektrum an Struktur- und Ausdruckselementen geboten. Das Ganze wirkt offener, unruhiger und drängender als bei<br />

Mozart. Beethovens Werk akzentuiert die moderne Vorstellung eines linearen Zeitverlaufs, der auf Fortschritt und<br />

Weiterentwicklung aus ist.<br />

Der 1. Themenkomplex (T. 1-.44) ist weit umfangreicher als bei Mozart. In T. 15 setzt <strong>das</strong> Thema in höherer Lage wieder an, wird<br />

aber nicht einfach wiederholt, sondern erfährt Metamorphosen, wie man sie sonst nur in der Durchführung kennt. An der Stelle, wo<br />

<strong>das</strong> Thema am Anfang in <strong>das</strong> Lamentomotiv abbog, steuert es nun mit einem aufwärtsgerichteten Halbtonschritt in die<br />

Gegenrichtung, in eine steigende Sequenz der abgespaltenen letzten Dreiklangsfigur, die über einen zweifachen,<br />

auseinanderstrebenden chromatischen Gang (T. 22/23: Oberst<strong>im</strong>me as-a-b, Unterst<strong>im</strong>me c-ces-b) in die Dominante (B-Dur) mündet.<br />

An dieser Dominante krallt sich die <strong>Musik</strong> (T. 25-27) mit mehrfachen dissonanten Spannungsklängen in Form synkopischer<br />

Akkordschläge fest, ehe sie sich – auch wieder mit synkopischen Akkordschlägen - in einer Kadenz aus der krisenhaften Situation<br />

befreit. Das ganze mündet über einen rasanten Anlauf in einen weiteren, nun triumphalen ff-Auftritt des Themas (T. 37), <strong>das</strong> frei von<br />

aller Lamento-Chromatik <strong>im</strong> Bass auftrittt. Aber wieder bleibt der Schluss offen: die Tonika (Es) wird vermieden, und über <strong>das</strong><br />

chromatische Motiv es-e-f (T. 43-45)wird der offene Dominantschluss (F) angesteuert.<br />

Bis zu dieser Stelle drängen sich - mit Blick auf den Titel "Eroica" - heldische Assoziationen auf, denn zum Helden/Heroen gehören<br />

Bedeutungsfelder wie Kraft, Leiden (Lamento), Krise/Ringen/Kampf, Triumph.<br />

Dreiklangsmotiv (grün) und chromatisches Motiv (rot)<br />

Aber genau in T. 45 öffnet sich (mit Motiv M2) wie in einem Fenster eine neue Sicht auf eine spielerisch unbeschwerte Szenerie, in<br />

der sich wechselnde Instrumente ein dreitöniges Motiv zuwerfen. Wieder wird also ein Rahmen gesprengt, aber ohne die Einheit des<br />

Ganzen zu zerstören, denn <strong>das</strong> dreitönige Motiv ist vielleicht eine lockere Metamorphose des dreitönigen Lamentomotivs. Außerdem<br />

enthält es Elemente des Dreiklangsmotivs (vgl. die grünen Punkte in der grafischen Analyse), und mit der betonten 2. Taktzeit<br />

wirken auch die widerborstigen Synkopen der Akkordschläge nach. Manche deuten diesen Abschnitt als zweites Thema - dazu würde<br />

<strong>das</strong> B-Dur als Dominante passen -, aber er wirkt zunächst eher als Nebengedanke, dem noch mehrere andere Nebengedanken folgen.


Rudolf Kloiber 9 (linke Spalte) deutet die Form so:<br />

9<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

vereinfachte Übersicht<br />

Motive:<br />

E x p o s i t i o n<br />

M1 Hauptthema<br />

M2<br />

M3<br />

M4<br />

M5<br />

M6<br />

M7<br />

Seitenthema(?)<br />

D u r c h f ü h r u n g<br />

Die rechte Spalte gibt eine vereinfachte Übersicht und benennt die verschiedenen Motive mit einer leicht zitierbaren Kürzel..<br />

R e p r i s e<br />

C o d a<br />

Julia Spinola: 10<br />

… Was "Dynamisierung der Werkgestalt" musikalisch heißen kann, stellte Reinhold Brinkmann am Kopfsatz der<br />

"Eroica" sehr plastisch dar. Beethoven schafft hier den Ausdruck einer sich beschleunigenden, vorwärtsdrängenden<br />

Bewegung. Schon die Eröffnung der Symphonie stößt ins Innerste der Sonatenform vor, durch die Entfaltung einer<br />

Dynamik, die nach der klassischen Formenlehre nicht den Expositions-, sondern erst den Durchführungsteil<br />

charakterisiert. <strong>Musik</strong>alisches Mittel dieser Beschleunigung ist vor allem <strong>das</strong> dre<strong>im</strong>alige Anheben eines Hauptthemas,<br />

<strong>das</strong> eigentlich nur ein halbes ist. Denn dem Vordersatz dieses Themas fehlt der rundende Nachsatz. Daher schließt es<br />

nicht. Statt dessen mündet <strong>das</strong> melodische Motiv bereits nach wenigen Takten ins Offene, in eine Situation<br />

rhythmischer und harmonischer Verunsicherung, und setzt dann wieder von neuem an.<br />

Die so in Gang gebrachte Entwicklung bewegt sich nach Brinkmann <strong>im</strong> weiteren Verlauf der Symphonie spiralförmig auf<br />

ein Ziel zu. Dieses Ziel sei jedoch nicht die schließliche Wiederherstellung eines anfänglich "gestörten" Themas. Vielmehr<br />

gipfle die vorwärtsdrängende Bewegung des Symphoniesatzes wiederum in einer Dynamik, <strong>im</strong> rhetorischen Prozess der<br />

Coda. Auch hier erklinge nur die unvollständige Vordersatz-Hälfte des Themas. Durch seine <strong>im</strong>mer neuen Einsätze in<br />

verschiedenen Instrumentengruppen nähme sie jetzt aber den Ausdruck eines Redners an, der nach und nach Zust<strong>im</strong>mung<br />

erlange, bis schließlich "mit tausenden Zungen geredet" würde.<br />

Ausschnitt aus dem Film "Eroica" (2003): http://www.youtube.com/watch?v=gwx_ANOqzL4<br />

9 Handbuch der klassischen und romantischen Symphonie, Wiesbaden 1964, S. 77-78<br />

10 FAZ 21.10.1998


10<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Kloibers Formübersicht zeigt, <strong>das</strong>s man mit herkömmlichen Formvorstellungen dem Stück nicht beikommt. Gleich die erste<br />

Feststellung ("Einleitung: T. 1-2") gleicht einem Offenbarungseid. Damit wird ja nichts anderes gesagt, als <strong>das</strong>s die beiden Takte am<br />

Anfang des Stückes stehen, aber weiter keine Funktion haben. Dabei handelt es sich bei diesen Akkordschlägen um eine der<br />

wichtigsten Motivgesten des Stückes überhaupt. Ab T. 25 drängen sie sich unüberhörbar in den Vordergrund und werden in ihrer<br />

Widerborstigkeit gesteigert durch die scharfen Synkopen und die dadurch aus dem Tritt gebrachte Taktordnung. Vorbereitet wird <strong>das</strong><br />

schon in T. 7, wo die gleichmäßigen Achtelrepetitionen synkopisch verfremdet werden.<br />

Genauso unglaublich ist <strong>das</strong> Fehlen der chromatischen Lamentofigur bei M1, die eines der wichtigsten Elemente des Stücks darstellt.<br />

Das ist so, als ob man zur Beschreibung einer Landschaft nur die technischen Instrumente eines Landvermessers benutzt, mit denen<br />

man die prägenden ästhetischen Momente gar nicht in den Blick bekommt.<br />

Immerhin zeigt Kloibers Formübersicht die vielen Neuerungen auf, die Beethoven hier eingeführt hat:<br />

- die Fülle der thematischen Gedanken,<br />

- die Ausweitung der Exposition und deren durchführungsartigen Charakter,<br />

- die Einführung neuer thematischer Gedanken in der Durchführung und<br />

- die außergewöhnlich breit angelegte, ebenfalls durchführungsartige Coda.<br />

Diese äußere und innere Anreicherung geht allerdings nicht auf Kosten des inneren Zusammenhangs. Im Gegenteil: Alle Gestalten<br />

stehen in einem deutlichen Konnex. Scheinbar gegensätzliche Formulierungen entpuppen sich bei genauerem Hinsehen/Hinhören als<br />

Metamorphosen bekannter Konstellationen.<br />

Die aus der Grundtonart ausbrechende, dreitönig absteigende und anschließend wieder aufsteigende Basslinie (T. 6-11, rote Linie in<br />

der Grafik) erscheint in der Oberst<strong>im</strong>me (T. 10-12, blaue Linie) wieder, nun aber verwandelt und an die Grundtonart angepasst.<br />

Man kann den Satz nicht in Gänze analytisch darstellen, dazu müsste man ein Buch schreiben. Er ist zu komplex, hat keine klar nach<br />

herkömmlichen Kriterien abgegrenzte Form. Er ist ein vielfältiger organischer Prozess, bei dem Alles mit Allem zusammenhängt,<br />

überraschend auseinander folgt.<br />

Die musikalische Abfolge folgt keinem außermusikalischen Programm <strong>im</strong> Sinne einer vorgegebenen konkreten 'Geschichte', die<br />

dann in <strong>Musik</strong> übersetzt wird, sondern zeigt die eigenständige Entwicklung eines komplizierten Charakters, einer Idee (vgl. den<br />

obigen Schlegeltext).<br />

Das Stück hat einen gehetzten Charakter, vor allem, wenn es <strong>im</strong> von Beethoven vorgegebenen Tempo (punktierte Halbe = M.M. 60)<br />

gespielt wird, wie z. B. Roger Norrington es in seiner Aufnahme von 1987 realisiert.<br />

Zum motivischen Material gehören nicht nur melodisch profilierte Figuren, sondern auch akustische Gesten wie Akkordschläge und<br />

rhythmisierte Klangflächen. Es sind folgende Elemente der Anfangskonstellation, die <strong>das</strong> Ganze best<strong>im</strong>men:<br />

- repetierte Akkordschläge (am Anfang <strong>im</strong> ff, dann als begleitenden Achtelrepetitionen ab T. 3)<br />

- synkopische Betonungen<br />

- <strong>das</strong> Dreiklangs-Hauptmotiv M1<br />

- <strong>das</strong> chromatische Lamentomotiv in T 6-11<br />

- dessen skalische Varianten (erst Viertel, dann Achtel) in T. 10-14<br />

M2 (s. o.)<br />

M3 verbindet die 'humanen' skalischen Linien und <strong>das</strong> Repetitionsmuster<br />

M4 umschreibt den fallenden Dreiklang mit anapästischen 2-Sechzehntel/1-Achtel-Figuren, die vielleicht auf die chromatischen und<br />

skalischen Figuren bezogen werden können (T. 6-11: d-cis-d / T. 12-13: g-as-g). In seinem gehetzt-dramatischen Ausdruck sticht M4<br />

aus dem Kontext deutlich heraus.<br />

M5 ist eine sanft-elegische Variante der repetierten Akkorde, die verbunden werden mit der sehnsuchtsvoll aufsteigenden Variante<br />

des chromatischen Lamentomotivs (f-fis-g und b-h-c).<br />

M6 verbindet verschiedene Elemente der skalischen und chromatischen Figuren. Die untere Linie (Vlc.) umschreibt die ersten 5<br />

Töne einer Mollvariante des Hauptthemas (M1): e'-g'-e'-h-e'<br />

M7 ist eine sich extrem aufreckende Variante des Dreiklangsmotivs (M1).<br />

Wie mit Hilfe der Metamorphosen-Technik die Heterogenität der Struktur- und Ausdruckselemente organisch verbunden werden,<br />

kann man überall studieren, z.B. an dem Ausschnitt T. 223-285:<br />

Das spielerisch-helle Motiv (M 2) senkt sich ab in die düstere Bassregion und wird dann (T. 236) zum Thema eines resolutbärbeißigen<br />

Fugatos, dessen Kontrapunkt aus der anapästischen Dreitonfigur aus M4 und skalischen Achtelfiguren zusammengesetzt<br />

ist. Auf dem Höhepunkt des Fugatos wird <strong>das</strong> punktierte Motiv ab T. 246 zunehmend von Repetitionen best<strong>im</strong>mt. Schließlich bleiben<br />

nur noch brutale Akkordrepetitionen übrig die - wie schon in T. 28ff. - manchmal in den 2-er-Takt wechseln. Den Gipfel der Rohheit<br />

bildet der große Sept<strong>im</strong>enakkord in T. 276-279, ein Vorbote von Strawinskys Le Sacre. Nach diesem '<strong>für</strong>chterlichen Aufschrei' leiten<br />

decrescendierende Akkordrepetitionen über zum elegischen Motiv M6 (T. 314f.).


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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012


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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Ein anderer Extrempunkt der Entwicklung ist der mit einem langen Aufbau der Dominantspannung inszenierte Übergang zur<br />

Reprise in T. 390ff:<br />

Wenn man die T. 394-397 mit dem verfrühten Horneinsatz - der 'richtige' Horneinsatz folgt erst in T. 409 in F-Dur -<br />

herausschneidet, hat man einen 'normalen' Fortgang der <strong>Musik</strong>. Es handelt sich hier quasi um einen humorvollen Gag nach Art des<br />

neoklassizistischen Strawinsky. - Zum Humanum gehört eben auch der Humor! - Das f und ff in T. 396/397 wirkt - nach dem<br />

'falschen', verfrühten Einsatz - wie ein erschreckter Halt- oder Ordnungsruf. Neben den vielen anderen Zumutungen <strong>für</strong> Beethovens<br />

Zeitgenossen - harmonische Kühnheiten, rhythmische Vertracktheiten, extreme Leidenschaft der Tonsprache - war diese Stelle eine<br />

besonders beachtete.<br />

Bei genauerem Hinsehen stellt sich der Vorgang komplexer als gedacht dar, und man weiß nicht mehr, ob der Hornist zu früh<br />

einsetzt oder <strong>das</strong> Orchester zu spät zur Grundtonart zurückkehrt. Eigentlich ist mit der Quartvorhalt-Dominante T. 378-381 der<br />

Sprung in die Reprise (T. 398) zwingend möglich und naheliegend (vgl. die Pfeile), Beethoven verlängert aber nun diese Spannung<br />

auf spektakuläre Weise, indem er noch einmal mit dem ces'' (T. 382) die auffallende quasi-phrygische Kadenz aus T. 22/23 (ces→b)<br />

in Erinnerung ruft.<br />

In T. 389 wäre nun die nächste Absprungmöglichkeit in die Reprise gegeben (vgl. Pfeil auf der folgenden Grafik).<br />

Aber er macht noch eine weitere, nun geraffte Schleife, die man wirklich mit dem Hornisten als endgültigen Verweis auf den<br />

Wiederauftritt des Hauptthemas ansehen kann.<br />

Damit ist aber der Überraschungen kein Ende, denn die Reprise verlässt sofort die gewohnten und erwarteten Bahnen. Das Thema<br />

biegt aus der Grundtonart Es-Dur ab und mündet in einen neuen, durchführungsartigen Prozess. In einem prozessorientierten Werk<br />

gibt es keine Rückkehr zum Anfang, so, als ob nichts gewesen wäre.


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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Rezension von 1805: 11<br />

Bei Herrn von Würth wurde die Beethovensche Sinfonie aus C-Dur mit Präzision und Leichtigkeit gegeben. Eine herrliche<br />

Kunstschöpfung. Alle Instrumente sind trefflich benutzt, ein ungemeiner Reichthum schöner Ideen ist darin prächtig und anmutig<br />

entfaltet, und doch herrscht überall Zusammenhang, Ordnung und Licht. Eine ganz neue Sinfonie Beethovens, (zu unterscheiden von<br />

der zweiten, die vor einiger Zeit <strong>im</strong> hiesigen Kunst- und Industrie-Comptoir erschienen ist), ist in einem ganz andern Styl<br />

geschrieben. Diese lange, <strong>für</strong> die Ausführung äußerst schwierige Komposition ist eigentlich eine sehr weit ausgeführte, kühne und<br />

wilde Phantasie. Es fehlt ihr gar nicht an frappanten und schönen Stellen, in denen man den energischen, talentvollen Geist ihres<br />

Schöpfers erkennen muss: sehr oft aber scheint sie sich ganz ins Regellose zu verlieren. Die Sinfonie beginnt mit einem sehr stark<br />

instrumentierten Allegro aus Es, darauf folgt ein Trauermarsch aus C moll, welcher in der Folge fugenartig durchgeführt ist. Nach<br />

diesem kommt ein Allegro scherzo und ein Finale, beide aus Es. Ref. gehört gewiss zu Hrn. v. Beethovens aufrichtigsten Verehrern;<br />

aber bey dieser Arbeit muss er doch gestehen, des Grellen und Bizarren allzuviel zu finden, wodurch die Übersicht äußerst erschwert<br />

wird und die Einheit beinahe ganz verloren geht.<br />

11 Rezensent K in AmZ (1805) Sp. 321. Zit nach: Stefan Kunze (Hrsg.), Ludwig van Beethoven. Die Werke <strong>im</strong> Spiegel seiner Zeit, Laaber 1987, S.<br />

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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

"Die Anregung, auf Napoleon Bonaparte eine Symphonie zu schreiben, stammt höchstwahrscheinlich von General Bernadotte, dem<br />

damaligen französischen Gesandten in Wien... Beethoven begeisterte sich an der Persönlichkeit Napoleons und sah in ihm die<br />

politische Figur, die die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in Europa durchsetzen könnte... Bernadotte erbot sich, die<br />

fertiggestellte Partitur an Bonaparte zu überbringen. Das Titelblatt trug bereits den Vermerk "intitolata Bonaparte" von "Luigi van<br />

Beethoven", als die Nachricht eintraf, <strong>das</strong>s sich Napoleon zum Kaiser der Franzosen ausrufen habe lassen. Der Senatsbeschluss über<br />

die Umwandlung Frankreichs in ein erbliches Kaisertum wird in einer Volksabst<strong>im</strong>mung gebilligt. Nachdem Papst Pius VII. die<br />

Salbung vollzogen hatte, krönt Napoleon am 2. Dezember 1804 sich und seine Gemahlin Josephine Beauharnais in der Kirche Notre-<br />

Dame zu Paris.<br />

Beethovens Reaktion auf diese Nachricht hat sein Schüler und Vertrauter Ferdinand Ries übermittelt.<br />

"Ist er auch nichts anderes wie ein gewöhnlicher Mensch? Nun wird er auch alle Menschenrechte mit Füßen treten, nur seinem<br />

Ehrgeize frönen, er wird sich nun höher wie alle anderen stellen, ein Tyrann werden!"<br />

Als Widmungsträger wurde daraufhin Fürst Franz Joseph von Lobkowitz eingesetzt, in dessen Palast die erste Aufführung stattfand.<br />

Das Werk erschien 1806 unter dem Titel "Sinfonia eroica, composita per festiggiare il sovvenire di un grand´uomo"<br />

(Heldensymphonie, niedergeschrieben, um <strong>das</strong> Andenken an einen großen Mann zu feiern.) Vom Ideal Napoleon ist <strong>das</strong> Andenken<br />

an einen großen Mann geblieben." http://www.aeiou.at/bt-ero.htm<br />

Es wäre eine verengte Sicht, wenn man die Person Napoleons <strong>für</strong> den zentralen inhaltlichen Bezugspunkt der Eroica hielte. Napoleon<br />

war <strong>für</strong> Beethoven nur eine zeitweilige Konkretion einer größeren Idee. Die Botschaft liegt in dem "neuen Weg", den die Sinfonie<br />

einschlägt und die eine Analogie zur erträumten komplexen bürgerlichen Gesellschaft darstellt hinsichtlich des Verhältnisses von<br />

Einzelnem (Individuum) zum "Ganzen". In dieser "neuen" Sinfonie hat <strong>das</strong> Detail einen Eigenwert, ist nicht mehr nur eingebunden in<br />

ein prästabilisiertes Räderwerk, sondern n<strong>im</strong>mt aktiv Einfluss auf die Entwicklung des Ganzen - vgl. z. B. die zunächst nebensächlich<br />

erscheinende synkopische Akkordschlagfigur -. So manifestiert sich hier bei Beethoven schon die moderne Vorstellung eines<br />

interagierenden Netzwerks.<br />

Viel wichtiger als Napoleon war <strong>für</strong> Beethoven die griechische Sagenfigur des Prometheus:<br />

In der altgriechischen Sage ist Prometheus der Sohn des Titanen Iapetos. Die Titanen waren <strong>das</strong> älteste Göttergeschlecht und standen<br />

<strong>im</strong> Kampf mit den olympischen Göttern. Prometheus erschuf aus Lehm die Menschen und verteidigte sie gegen Zeus. Als der den<br />

Menschen <strong>das</strong> Feuer vorenthielt, stahl Prometheus es vom H<strong>im</strong>mel, gab es den Menschen und ermöglichte diesen so die Entwicklung<br />

von Handwerk und Künsten. Zur Strafe wurde Prometheus am Kaukasus angeschmiedet, wo täglich ein Adler heranflog und ihm die<br />

nachts nachgewachsene Leber abfraß.<br />

Prometheus erscheint also als trotziger Rebell gegen den Göttervater Zeus und als Beförderer der schöpferischen Kraft in Kunst und<br />

Wissenschaft. So erscheint er auch in Goethes Gedicht „Prometheus“ von 1774, <strong>das</strong> Franz Schubert 1819 vertonte.<br />

Beethovens Sicht auf Prometheus ist zu verstehen auf dem Hintergrund des Scheiterns der Freiheitsidee in den Wirren nach der<br />

französischen Revolution und Schillers Schrift „Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795). Schiller sieht den Grund <strong>für</strong><br />

die unheilvolle Entwicklung darin, <strong>das</strong>s die Menschen noch nicht reif <strong>für</strong> den Gebrauch ihrer Freiheit sind. Deshalb fordert er ein<br />

Bildungsprogramm in Wissenschaften und Künsten <strong>für</strong> die gesamte Bevölkerung.<br />

In Prometheus sieht Beethoven den mythischen Prototypen <strong>für</strong> eine solche gigantische Aufgabe. Die Idee der Bildung durch<br />

künstlerische Erziehung stellt er 1802 in seinem Ballett „Die Geschöpfe des Prometheus“ allegorisch verschlüsselt dar.<br />

Die Ouverture beginnt mit wuchtigen Akkordschlägen in Form einer chromatischen Figur.<br />

Die Akkordschläge symbolisieren Kraft, die Aufwärtschromatik strebende Anstrengung und<br />

die Abwärtschromatik Leiden/Mitleid. Danach folgt eine ruhige Bewegung in<br />

Stufenmelodik, die Ausdruck des Humanen ist (vgl. die spätere "Freude, schöner<br />

Götterfunken"-Melodie aus der 9. Sinfonie).<br />

Video: http://www.youtube.com/watch?v=-6bCsVcHzOI&feature=related<br />

In dem opt<strong>im</strong>istischen Schlusssatz des Balletts verwendet Beethoven einen volkstümlich-heiterenen Kontratanz, den er <strong>für</strong> die<br />

vorhergehende Karnevalssaison komponiert hatte, um damit zum Ausdruck zu bringen, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Bürgertum sich von Göttern und<br />

Königen emanzipiert. In diesem lockeren Kontext wirken die chromatischen Wendungen nun in der Funktion von Durchgangstönen<br />

wie erlöst. Diese Wirkung wird dadurch verstärkt, <strong>das</strong>s der B 7 -Aklkord, aus dem die chromatische Linie sich löst, kurz vorher noch<br />

in der Gestalt dreier ff-Akkordschläge aufgetreten ist.<br />

Kontratanz 1. Satz der Eroica<br />

T. 22/23:<br />

T. 26/27:<br />

Im Finale der 3. Sinfonie taucht dieser Kontratanz wieder auf. Im 1. Satz spielen die Akkordschläge und die chromatischen Motive<br />

aus der Ouverture eine zentrale Rolle.


15<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Kontratanz aus "Die Geschöpfe des Prometheus" und den Eroicavariationen op. 35<br />

Joseph Willibrord Mähler: Ludwig van Beethoven (1804/05)<br />

http://www.artexpertswebsite.com/pages/portraits_identification/composers/composer_<strong>im</strong>ages/beethovenpor3.jpg<br />

Keisuke Maruyama: Die Sinfonie des Prometheus. Zur Dritten Sinfonie 12<br />

Verschiedene Portraits von Beethoven sind überliefert. Ein bemerkenswertes Bildnis ließ er von Joseph Willibrod Mähler 1804 oder<br />

1805, d. h. zur Zeit der Komposition der Eroica, anfertigen. Auf diesem Portrait, <strong>das</strong> Beethoven so gut gefiel, <strong>das</strong>s er es bis zu seinem<br />

Tode besaß, trägt er den Mantel in einer antiken Haltung, er hebt die rechte Hand, in der Linken hält er die Lyra, und <strong>im</strong> Hintergrund<br />

ist ein Tempel zu sehen. Ohne Frage eine Szene <strong>im</strong> Freien, in der Natur. Aber <strong>im</strong> Vergleich mit anderen Beethoven-Portraits fallen<br />

die gekünstelte Haltung, die er auf diesem Bild einn<strong>im</strong>mt, und die Darstellung von Lyra und Tempel auf. Wollte Beethoven in<br />

diesem Falle ein schlichtes Portrait haben, oder verbirgt sich hinter dieser eigenartigen Konstellation irgendeine spezielle Idee? Die<br />

Frage wird beantwortet, wenn man <strong>das</strong> Bild als allegorische Malerei deutet. Mähler schreibt: »Es war ein Portrait, welches ich bald<br />

nach meiner Ankunft in Wien malte, auf welchem Beethoven beinahe in Lebensgröße sitzend dargestellt ist: die linke Hand ruht auf<br />

einer Lyra, die rechte ist ausgestreckt, als wenn er in einem Momente musikalischer Begeisterung den Takt schlüge: <strong>im</strong> Hintergrund<br />

ist ein Tempel des Apollo...«<br />

Worauf weisen Lyra und »Tempel des Apollo« hin? Die Lyra gilt als unverkennbares Symbol <strong>für</strong> die <strong>Musik</strong> der Antike, <strong>für</strong> die Kunst<br />

oder <strong>das</strong> Künstlerische überhaupt. Und der »Tempel des Apollo« <strong>im</strong> Hintergrund symbolisiert den antiken Bereich des Geistlichen<br />

und Göttlichen; zugleich <strong>im</strong>itiert die auffallende Haltung der über den Tempel erhobenen rechten Hand die Gestalt eines Konsuls der<br />

römischen Antike. Wie ein Triumphator hebt er seine rechte Hand. Aber wichtiger ist, <strong>das</strong>s er mit dem Konsulmantel auf dem Schoss<br />

ruhig in der freien Natur sitzt, was wohl darauf hindeutet, <strong>das</strong>s er sein Werk schon vollendet hat. Die Lyra in seiner linken Hand soll<br />

wohl versinnbildlichen, wie er den Bereich des Schönen beherrscht. Die erhobene rechte Hand kann als Geste eines Triumphators<br />

begriffen werden, der der Menge sein Werk präsentiert. Und da die rechte Hand über dem Apollo-Tempel gehalten wird, drückt sie<br />

gleichzeitig eine Beziehung zu Apollo aus. Somit deutet der Tempel <strong>im</strong> Hintergrund darauf hin, <strong>das</strong>s auch <strong>das</strong> Schöne <strong>im</strong> Bereich des<br />

Göttlichen wurzelt, ja <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Göttliche aus dem Hintergrund <strong>das</strong> Schöne best<strong>im</strong>mt. Insgehe<strong>im</strong> verdeutlicht die auffallende Pose,<br />

<strong>das</strong>s Beethoven sich selbst als Helden ansah. Er widmete sich nicht nur der Antike, sondern stellte sich auch als jemanden dar, der zu<br />

Recht die heroische Welt vertreten konnte und durfte. Schließlich vermittelt dieses Bild den Eindruck, als habe Beethoven mit<br />

eigener Hand seine ideale Welt der Eroica erschaffen. Wir betrachten also eine Bild gewordene Sinfonia eroica. Auch Worte des<br />

Komponisten legen von dieser allegorischen Welt Zeugnis ab.<br />

In einem schon erwähnten Brief vom 15.Januar 1801 schrieb er, sich selbst <strong>für</strong> von Apollo auserwählt haltend: »Was die Leipziger<br />

Ochsen betrifft, so lasse man sie doch nur reden, sie werden gewiss niemand durch ihr Geschwätz unsterblich machen, so wie sie<br />

auch niemand die Unsterblichkeit nehmen werden, dem sie von Apollo best<strong>im</strong>mt ist.«<br />

Weiter meinte er in einem Brief an Erzherzog Rudolf aus dem Jahre 1823: »Höheres gibt es nicht, als sich der Gottheit mehr als<br />

andere Menschen nähern und von hier aus die Strahlen der Gottheit unter <strong>das</strong> Menschengeschlecht verbreiten.«<br />

In einem früh datierten Brief vom 1. Januar 1819 an Erzherzog Rudolf schrieb er <strong>im</strong> Zusammenhang mit dessen<br />

Kompositionsunterricht: »... und nichts kann mir erfreulicher sein, als dazu beizutragen, <strong>das</strong>s I. K. H. den schon bereiteten Platz <strong>für</strong><br />

Hochdieselbe auf dem Parnasse baldigst einnehmen.«<br />

Setzt man diese drei Äußerungen in Beziehung zueinander, wird klar, <strong>das</strong>s Beethoven »die von Apollo best<strong>im</strong>mte Unsterblichkeit«,<br />

»die Gottheit« und »den Parnass« <strong>im</strong> Zusammenhang begriff. Den Erzherzog Rudolf zu dem »schon bereiteten Platze... auf dem<br />

Parnasse zu geleiten«, war <strong>für</strong> ihn die höchste Freude, die durch Ausübung der menschlichen Pflicht ermöglicht wird. Er durfte damit<br />

den Menschen <strong>das</strong> Göttliche mitteilen und empfand deshalb sein Werk als »unsterblich«, sogar »unsterblich von Apollo«. Zugleich<br />

spricht der Passus über die »Leipziger Ochsen« <strong>für</strong> seine Überzeugung, <strong>das</strong>s die Ergriffenheit, die sein Werk den Menschen schenken<br />

könne, eine göttliche sei und sinnlose Kritik an seiner Kunst von daher keinerlei Berechtigung habe. Diese Überlegungen rufen eine<br />

andere Gestalt des Helden, nämlich die des Prometheus, ins Gedächtnis: »Gerade in späterer Zeit, am Ende des Jahrhunderts, sind die<br />

Thesen Shaftesburys zu voller Anerkennung gekommen: Die Notwendigkeit, <strong>das</strong>s der Künstler nicht nur seine Begabung sich<br />

überlasse, sondern sein Genie bilde; die künstlerische Bedeutung einer objektiven Darstellung, hinter der der Dichter selbst<br />

verschwindet; die künstlerische Schöpfung nicht als Nachbildung der äußeren Erscheinung, sondern als Ergebnis einer Versenkung<br />

in ein innerliches, geistiges Prinzip der Dinge... es ist die Stelle, in der dem wahren und echten Dichter die stolze Rolle eines<br />

Prometheus zugewiesen wird, eines Halbgottes, der in seiner Weise <strong>das</strong> Werk Gottes treibt... Die Griechen hatten sich aus der ihnen<br />

wohlbekannten Gestalt des Bildhauers <strong>das</strong> Bild des Menschenschöpfers geholt; als Bildhauer wurde Prometheus von der<br />

griechischen Kunst dargestellt. Unsere Zeit zeigt, wie von Shaftesbury ab der geistige Vorgang sich umkehrt. Der Künstler wird zum<br />

Prometheus, der schaffend göttliches Leben auf die Erde verpflanzt.«<br />

In der geistigen Situation, die den jungen Beethoven umgab, trat demnach Prometheus aus der mythischen Welt heraus und wurde<br />

zum Künstler.<br />

Kehren wir zu Mählers Portrait zurück, so scheint es, als wolle der Maler sagen, wie stolz Beethoven darauf sei, als »Priester des<br />

Apoll«, als Prometheus, also als Vermittler wirken zu können, der die Kunst (Weisheit) Apollos als seine Kunst (<strong>Musik</strong>) den<br />

Menschen mitteilt. Ja, es war Apollo, der in Die Geschöpfe des Prometheus den Musen auf dem Parnass den Rat gab, die Menschen<br />

Weisheit und Kunst zu lehren. So belehrt auch Beethoven als heroischer Prometheus, der diesem Apollo folgend die Lyra n<strong>im</strong>mt und<br />

die Kleider der Antike trägt, die Menschen durch seine <strong>Musik</strong>. Die Kristallisation dieser Belehrungsgeschichte ist die Sinfonia eroica.<br />

Mit den "Leipziger Ochsen" sind die Autoren der in Leipzig erscheinenden "Allgemeinen musikalischen Zeitung" gemeint.<br />

Inhaltsangabe <strong>im</strong> Programm der Wiener Uraufführung von "Die Geschöpfe des Prometheus": 13<br />

»Die Grundlage dieses allegorischen Balletts ist die Fabel des Prometheus. Die Philosophen Griechenlands, denen er bekannt war,<br />

erklären die Bespielung der Fabel dahin, <strong>das</strong>s sie denselben als einen erhabenen Geist schildern, der die Menschen zu seiner Zeit in<br />

einem Zustand von Unwissenheit antraf, sie durch Wissenschaften und Kunst verfeinerte und ihnen Sitten beibrachte. Von diesem<br />

Grundsatz ausgegangen, stellen sich <strong>im</strong> gegenwärtigen Ballett zwei belebt werdende Statuen dar, welche durch die Macht der<br />

Harmonie zu allen Leidenschaften des menschlichen Lebens empfänglich gemacht werden.«<br />

12 In: Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn (Hr.): Beethoven. Analecta Varia, <strong>Musik</strong>-Konzepte 56, München 1987, S. 80ff.<br />

13 Zit. nach: Eberhard Rebling: Das große Ballettlexikon, Wilhelmshaven 4/1980, S 166


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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012


Franz Schubert: Der Wanderer, Oktober 1816, D 493, op. 4,<br />

Nr.1<br />

Gedicht von Georg Philipp Schmidt von Lübeck (1815)<br />

Ich komme vom Gebirge her:<br />

Es dampft <strong>das</strong> Tal, es rauscht <strong>das</strong> Meer,<br />

Ich wandle still, bin wenig froh,<br />

Und <strong>im</strong>mer frägt der Seufzer — wo?<br />

Die Sonne dünkt mich hier so kalt,<br />

Die Blüte welk, <strong>das</strong> Leben alt:<br />

Und, was sie reden, leerer Schall —<br />

Ich bin ein Fremdling überall.<br />

Wo bist du, mein geliebtes Land!<br />

Gesucht, geahnt, und nie gekannt,<br />

Das Land, <strong>das</strong> Land, so hoffnungsgrün,<br />

Das Land, wo meine Rosen blüh'n;<br />

Wo meine Freunde wandeln geh'n,<br />

Wo meine Toten aufersteh'n,<br />

Das Land, <strong>das</strong> meine Sprache spricht,<br />

Und alles hat, was mir gebricht?<br />

Ich wandle still, bin wenig froh,<br />

Und <strong>im</strong>mer frägt der Seufzer — wo? —<br />

Im Geisterhauch tönt mir's zurück,<br />

Dort, wo du nicht bist, ist <strong>das</strong> Glück!<br />

Caspar David Friedrich: "Der Wanderer über dem<br />

Nebelmeer" (um 1818)<br />

https://www.reproarte.com/files/<strong>im</strong>ages/F/friedrich_caspar_david/0018-<br />

0069_der_wanderer_ueber_dem_nebelmeer.jpg<br />

C. D. Friedrich: "Der Mönch am Meer", 1809<br />

http://www.mahagoni-magazin.de/Malerei/friedrich-moench-ammeer.html<br />

Klangbeispiele: Fischer-Dieskau/Moore:<br />

http://www.youtube.com/watch?v=BR8_n-B8qu0<br />

Schlusnus:<br />

http://www.youtube.com/watch?v=HTPmozjYABs<br />

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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Carl Gustav Carus, Briefe über Landschaftsmalerei, 1819 ff.: 14<br />

„Tritt denn hin auf den Gipfel des Gebirges, schau hin über die langen Hügelreihen, betrachte <strong>das</strong> Fortziehen der Ströme und alle<br />

Herrlichkeit, welche Deinem Blick sich auftut, und welches Gefühl ergreift Dich? – Es ist eine stille Andacht in Dir, Du selbst<br />

verlierst Dich in unbegrenztem Raume, Dein ganzes Wesen erfährt eine stille Läuterung und Reinigung, Dein Ich verschwindet, Du<br />

bist nichts, Gott ist Alles.<br />

Schmidt von Lübeck gab dem Gedicht den Titel „Des Fremdlings Abendlied“. Damit akzentuierte er einen Kernsatz des Gedichts:<br />

„Ich bin ein Fremdling überall“. Schubert gab seiner Vertonung den Titel „Der Wanderer“, da dieses Bild <strong>für</strong> viele seiner Werke, z.<br />

B. „Die schöne Müllerin“ oder die „Winterreise“, zentral ist. Als er <strong>das</strong> Gedicht 1815 in einer neu erschienen Anthologie entdeckte,<br />

war er sofort elektrisiert, weil es seinem eigenen Welterleben entsprach. In seiner am 3. Juli 1822 verfassten Traumerzählung<br />

schreibt Schubert: „Ich wandte meine Schritte und mit einem Herzen voll unendlicher Liebe <strong>für</strong> die, welche sie verschmähten,<br />

wanderte ich in ferne Gegend…“ 15 Das Gedicht von Schmidt von Lübeck traf aber auch den Nerv der Zeit, die nach dem Scheitern<br />

der Freiheitsidee der französischen Revolution in Resignation versank und in die innere Emigration ging (Biedermeier). Der<br />

Opt<strong>im</strong>ismus der klassischen Zeit eines Beethoven, der <strong>für</strong> heroische Ideale kämpferisch eintrat, wich dem Leiden an der Gegenwart<br />

und der Suche nach der anderen, höheren Welt. Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“, <strong>das</strong> 2 Jahre nach<br />

Schuberts „Der Wanderer“ entstand, zeigt einen Mann, der auf dem Gipfel des Berges – erhoben über die Niederungen des<br />

prosaischen Lebens, sogar über Nebel und Wolken - den Blick in die Unendlichkeit richtet. Der helle, rötlich gefärbte Horizont wirkt<br />

wie eine Verheißung. Aber der schroffe Felsen <strong>im</strong> Vordergrund signalisiert eine unüberbrückbare Barriere. Der Mann ist isoliert und<br />

einsam, nicht in eine humane Umwelt integriert. Das Gefühl des Unbehaustseins ist <strong>im</strong>mer schon ein Gegenstand der Literatur<br />

gewesen – man denke etwa an Paul Gerhardts Kirchenlied „Ich bin ein Gast auf Erden“ von 1667/68 – und häufig auch verbunden<br />

mit der Hoffnung auf eine besseres Jenseits oder ein utopisches Paradies in der Zukunft. Das Spezifisch-Romantische bei Caspar<br />

David Friedrich und Schmidt von Lübeck ist <strong>das</strong> Bewusstsein des utopischen Charakters solcher Entwürfe und die Abwendung von<br />

einem persönlichen Gott hin zu einer deistischen „Gottheit“, die sich in dem erhabenen Schauspiel der Natur offenbart.<br />

Franz Schubert: 16 Brief vom 21. September 1824 an seinen Freund Schober:<br />

»Ungeachtet ich nun seit 5 Monathen gesund bin, so ist meine Heiterkeit doch oft getrübt durch Deine und Kuppels<br />

Abwesenheit, und verlebe manchmahl sehr elende Tage; in einer dieser trüben Stunden, wo ich besonders <strong>das</strong> Thatenlose<br />

unbedeutende Leben, welches unsere Zeit bezeichnet, sehr schmerzlich fühlte, entwischte mir folgendes Gedicht, welches ich<br />

nur darum mitteile, weil ich weiß, daß Du selbst meine Schwächen mit Liebe u. Schonung rügst.«<br />

Klage an <strong>das</strong> Volk!<br />

O Jugend unsrer Zeit, Du bist dahin!<br />

Die Kraft zahllosen Volks, sie ist vergeudet,<br />

Nicht einer von der Meng' sich unterscheidet,<br />

Und nichtsbedeutend all' vorüberzieh'n.<br />

Zu großer Schmerz, der mächtig mich verzehrt,<br />

Und nur als Letztes jener Kraft mir bleibet;<br />

Dann thatlos mich auch diese Zeit zerstäubet,<br />

Die jedem Großes zu vollbringen wehrt.<br />

Im siechen Alter schleicht <strong>das</strong> Volk einher,<br />

Die Thaten seiner Jugend wähnt es Träume,<br />

Ja spottet thöricht jener gold'nen Re<strong>im</strong>e,<br />

Nichtsachtend ihren kräft'gen Inhalt mehr.<br />

Nur Dir, o heil'ge Kunst, ist's noch gegönnt<br />

Im Bild die Zeit der Kraft u. That zu schildern,<br />

Um weniges den großen Schmerz zu mildern,<br />

Der n<strong>im</strong>mer mit dem Schicksal sie versöhnt.<br />

Karikatur "Gesetze des Denker-Clubs" (zum Luzerner Pressegesetz von 1829):<br />

http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Karikatur_Denkerclub.jpg&filet<strong>im</strong>estamp=20071105191731<br />

Im Jahre 1815 entstand <strong>das</strong> bis heute sehr bekannte Lied "Die Gedanken sind frei"<br />

Schuberts Schaffen fällt in die Zeit der Restauration zwischen Wiener Kongress und Vormärz. Die nationale Begeisterung der<br />

Befreiungskriege ist der Friedhofsruhe der Metternich-Ära gewichen. Vor allem seit den Karlsbader Beschlüssen (1819), die auf den<br />

Mord an Kotzebue reagieren, greifen Spitzelwesen und Zensur <strong>im</strong>mer mehr um sich und unterdrücken jede freie Meinungsäußerung<br />

und jede politisch nicht gewünschte Regung. Wie kleinlich die Gängelung ist, muss Schubert wiederholt erfahren.. Im Jahre 1823<br />

wird sein Singspiel "Die Verschworenen" (eine ohnehin schon entschärfte Fassung von Aristophanes' "Lysistrata") von der<br />

Zensurbehörde nur freigegeben unter dem Titel "Der häusliche Krieg", der mögliche politische Konnotationen auslöscht und alles ins<br />

Private wendet.<br />

14 http://www.kunstgeschichte.un<strong>im</strong>uenchen.de/personen/prof_uni/kohle/lehrveranst_kohle/archiv_lehrveranst/archiv_material/ss06/1runge_friedrich.pdf<br />

15 Zit. nach: Otto Erich Deutsch (Hrsg.): Schubert. Die Dokumente seines Lebens, Leipzig 1964, 7, S. 158<br />

16 Zit. nach: Otto Erich Deutsch (Hrsg.). Schubert. Die Dokumente seines Lebens.- Leipzig 1964, Bd. 7, S. 258


Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Die Emigration nach innen erklärt die Bedeutung, die die int<strong>im</strong>e Gattung "Lied" nun bekommt. Das Lied wendet sich nicht an die<br />

große Öffentlichkeit - in öffentlichen Konzerten wurden damals keine Lieder aufgeführt 17 -, sondern an einen mehr privaten Kreis<br />

von 'Eingeweihten'. Schubert schreibt seine Lieder nicht <strong>für</strong> den bisherigen Träger des <strong>Musik</strong>lebens, den Adel, auch nicht <strong>für</strong> <strong>das</strong><br />

einfache Volk (als Hausmusik <strong>im</strong> Sinne der Zelterschen und Reichardtschen "Lieder <strong>im</strong> Volkston"), sondern <strong>für</strong> seinen<br />

Freundeskreis, der sich aus Vertretern der von Metternich besonders beargwöhnten bürgerlichen, intellektuellen Schicht rekrutiert:<br />

Malern (Moritz von Schwind), Literaten (Mayerhofer, Bauernfeld, Grillparzer), Schauspielern (Franz von Schober), Sängern (J. M.<br />

Vogel, dem ersten Interpreten der Schubertlieder) und gleichgesinnten gebildeten Dilettanten. Sie verstehen die feinen Nuancen der<br />

anspruchsvollen <strong>Musik</strong> und die versteckten Botschaften der Texte. Jede Unterdrückung evoziert den double talk, <strong>das</strong> metaphorisch<br />

verschlüsselte Sprechen. Die Lieder enthalten nicht nur Privates. Ihre Naturbilder und erzählerischen Elemente sind nicht wörtlich zu<br />

nehmen <strong>im</strong> Sinne einer kleinbürgerlichen Schubertrezeption, wo der Lindenbaum als he<strong>im</strong>eliges He<strong>im</strong>atbild genossen und nicht in<br />

seiner Funktion als Verlockung zum Suizid verstanden wird. Sie sind vielmehr utopische Bilder einer Gegenwelt bzw. poetische<br />

Spiegel einer unbefriedigenden Realität.<br />

Vertonung:<br />

1. Strophe: Flächenhafte, relativ amorphe, an den Bordun gefesselte Klangmasse, die mit gleichmäßig <strong>im</strong> Triolenrhythmus<br />

pulsierenden, dissonanten Akkorden die diffuse Atmosphäre ("es dampft <strong>das</strong> Tal") darstellt und bis zum "Brausen" des Meeres<br />

anschwillt,. Gestalthaft wirken nur die in gleichmäßigem Rhythmus sich erhebenden Dreiklangsfiguren. Dieser daktylische Pavanen-<br />

Rhythmus (Halbe-Viertel-Viertel) ist eine augmentierte Form des Rhythmus der 2. Strophe. Er ist bei Schubert häufig ein<br />

Todesrhythmus bzw. Schreit- oder Wanderrhythmus 18 (vgl. z. B. „Der Tod und <strong>das</strong> Mädchen“ oder „Das Wirtshaus“ aus der<br />

„Winterreise“). Auffallend ist <strong>das</strong> Stoppen der Bewegung be<strong>im</strong> Einsetzen der Gesangsst<strong>im</strong>me („Ich komme vom Gebirge her“). Das<br />

„Ich“ steht hier wie in C. D. Friedrichs Bildern "Der Wanderer über dem Nebelmeer" oder "Der Mönch am Meer" verloren und allein<br />

vor seiner Umgebung. Der rezitativische Duktus der St<strong>im</strong>me verdeutlicht, <strong>das</strong>s hier ein einzelner in eine <strong>für</strong> ihn unverstehbare<br />

Situation wie aus dem Off hineinspricht.<br />

Von dieser unwirtlichen Realität hebt sich <strong>das</strong> Ich (Zeile 3) – noch gefangen von der "Sicht" auf dem Berge - nach einer kurzen<br />

Modulation zur parallelen Durtonart, die gepaart ist mit einer dynamischen pp-Wendung nach Innen, lichtvoll und schwebend ab. Die<br />

Tonrepetitionen wirken hier eher als Lichtpunkte. Die Gesangsst<strong>im</strong>me ist lyrisch-gesangvoll geführt. Das lyrische Ich ist "still" in<br />

sich versunken. Erst be<strong>im</strong> Begriff „Seufzer“ und der Frage „wo?" treten wieder Dissonanzen auf, und zwar in dem chromatisch<br />

geschärften zwe<strong>im</strong>aligen phrygischen Fragemodus (phrygisches Grundmodell: fis 6 → Gis).<br />

Die 2. Strophe (T. 23-31) löst sich von der bisherigen Peripherie: die Repetitionsfiguren sind verschwunden und weichem einem eher<br />

choralmäßigen Satz. Mit dem Kontext verbunden bleibt sie durch den Todes- bzw. Wanderrhythmus und die zwe<strong>im</strong>alige phrygische<br />

Wendung (T. 24 und 26). Die Melodie ist streng gefesselt an den Rezitationston gis, nur <strong>das</strong> Wort "Fremdling" bricht nach oben aus.<br />

Der Schluss löst sich aus dem düsteren Moll in die Durtonart. Dass <strong>das</strong> kein Hoffnungssch<strong>im</strong>mer sein soll, sondern eine weichresignierende<br />

Haltung ausdrückt, zeigt der anschließende Kurzkommentar des Klaviers, der die Bestätigung der Schlusswendung mit<br />

einem schmerzvollen D v einleitet.<br />

Danach (T. 32ff.) wendet sich die <strong>Musik</strong> von der betrüblichen Gegenwart ab und beschwört eine lichtvolle Zukunft. Das Tempo<br />

steigert sich, die Klavierbegleitung mit ihren energisch-punktierten Figuren (`Juchzer`?) drückt Zuversicht aus, die allerdings in T.<br />

38-40 ("nie gekannt") in dem Dur-Mollwechsel und dem pp wieder einen resignativen Beigeschmack erhält.<br />

In T. 41 steigert sich nochmals <strong>das</strong> Tempo. Zunächst (T. 41-45) verwendet<br />

Schubert als Symbol der erhofften 'Eingemeindung' ("meine Freunde") ein<br />

Volksmusikmodell mit Bordunbass, (durch Unisonoführung von rechter und<br />

linker Hand) verdickte Terzenseligkeit 19 und tänzerischem 6/8-Takt - wie <strong>im</strong><br />

Freudenthema <strong>im</strong> Schlusssatz der 9. Sinfonie.<br />

Ab T. 46 verstärken die nachschlagenden Begleitakkorde den<br />

ekstatischen Tanzgestus, der sich unter Wiederverwendung des<br />

Terzenmotivs ("meine Freunde") <strong>im</strong>mer höher schraubt, dann aber<br />

plötzlich in T. 54 in der phrygischen Frageformel (Land, - wo bist du?)<br />

in sich zusammenbricht. Für diesen Effekt hat Schubert die Textvorlage<br />

verändert. Das kurze Nachspiel (T. 55-58) bestätigt die Resignation mit<br />

der Rückkehr zum depressiven Choralgestus der 2. Strophe (T. 29/30),<br />

der am Schluss (T. 57) mit dem Nonenvorhalt-Seufzer c'-h - dem<br />

Nachklang von T. 55 - eine besonders schmerzliche Note erhält.<br />

Die folgende wörtliche Wiederholung des "Ich wandle still ..." zeigt die Ausweglosigkeit der Situation, <strong>das</strong> Sich-<strong>im</strong> Kreis-Drehen der<br />

Reflexion. Die Antwort erfolgt - wie be<strong>im</strong> antiken Orakelspruch - <strong>im</strong> "Geisterhauch": "Dort, wo du nicht bist, dort ist <strong>das</strong> Glück".<br />

Schubert 'malt' den Geisterhauch nach den traditionellen Regeln der Figurenlehre mit einem in die Tiefe absteigenden<br />

(harmonielosen = körperlosen) Unisono. Die unverbindlich klingende Schlusswendung des Klaviers erhält ihre Tiefenbedeutung<br />

durch den Bezug zu T. 14-16 - Rückzug ins eigene Innere - und T. 30-31 - "ein Fremdling überall"-.<br />

Wie <strong>das</strong> Gedicht ist auch die Vertonung eine Reihung von (oberflächlich betrachtet) wenig zusammenhängenden Teilen. Schubert<br />

hat allerdings durch einige Textänderungen die Frage nach dem "Wo" zum zentralen Fokus gemacht und damit den verschiedenen<br />

Teilaspekten eine deutliche Funktion in der Gesamtaussage zugewiesen. Gemeinsam mit Beethovens Eroica hat Schuberts Lied, <strong>das</strong>s<br />

die Form aufgrund der <strong>im</strong>mer neu gestalteten Teilabläufe zum komplexen Problem wird. Nichts ist mehr in einer vorgegebenen<br />

Ordnung geborgen, sondern muss <strong>im</strong>mer wieder neu formuliert werden.<br />

17<br />

Arnold Feil: Franz Schubert, Stuttgart 1975, S. 16<br />

18<br />

Es handelt sich ursprünglich um den Rhythmus eines würdevollen Schreittanzes, der Pavane.<br />

19 Sie entsteht, wenn Männer und Frauen unisono in Terzen singen. Ein Paradebeispiel <strong>für</strong> diesen Volksmusikstil ist Schumanns "Aus alten Märchen<br />

..." (Dichterliebe XV).<br />

19


Nach der eingehenden Interpretation des Liedes lohnt ein Interpretationsvergleich:<br />

20<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Auf der<br />

CD "Schubertlieder" (2007) der Gruppe Franui<br />

gibt es zwei sehr unterschiedliche Adaptionen des Liedes,<br />

einmal ("Der Wanderer") <strong>im</strong> Stil einer Osttiroler Bergblaskapelle unter Einschluss von Volksmusikinstrumenten wie Zither, Geigen<br />

und ä.,<br />

zum anderen (I'm a stranger [on the danube]) als schmissig-elegischer Tango.<br />

Letztere Version gibt es auch auf Youtube:<br />

http://www.youtube.com/watch?v=uM2tTeLKWxw<br />

Thomas Wördehoff: 20<br />

... Franuis Schubert-Interpretationen sind ein Befreiungsschlag. Sie befreien die Lieder des jungen Komponisten aus der fast<br />

zweihundertjährigen Gefangenschaft, in der sie von wechselnden Kennern mit unfroher Strenge bewacht wurden.<br />

Schubertlieder ist gleichzeitig Uraufführung und Blick zurück. Weiter zurück, als man denkt: Franui reisen nicht nur in die<br />

Lebenszeit Schuberts, sie ergründen den Humus, aus denen sich sein Material, seine Phantasien zusammengesetzt haben. Natürlich<br />

sind noch die Echos der Heurigenlieder zu hören, man ahnt die wahnwitzigen Violinen, die ihn auf dem Gut des Grafen Esterházy in<br />

Zseliz faszinierten. Und dann aber auch <strong>das</strong> Knarzen der Dielen, <strong>das</strong> ihm in der Dunkelheit so zusetzte, der ängstliche Blick des<br />

Kindes zum Mond, während in der Stube die Uhr schlug.<br />

Franui führen uns in die überfüllten Beisln, in denen er trotz Alkohol, Tabak, Lärm und Schmerzen spielte und spielte und spielte. An<br />

Orte, wo Franz Schubert vielleicht schon <strong>das</strong> scheele Grinsen seiner späten Anverwandten Strawinsky, Schostakowitsch, Weill und<br />

Lennon bemerkt hat. Dort, wo man den Blues liebt.<br />

Andreas Schett 21<br />

»Dort, wo du nicht bist, dort ist <strong>das</strong> Glück.« - Mit diesem Satz endet eines der berühmtesten Lieder Franz Schuberts, »Der<br />

Wanderer« (D493) aus dem Jahr 1816. »Ich bin ein Fremdling überall«, bekennt einer, der vom Gebirge kommt und jetzt, da er ans<br />

Meeresufer gelangt, bricht ein Lied aus ihm heraus.<br />

Bei Schubert begegnen wir auf Schritt und Tritt solchen Fremdlingen. Sie sagen: »Ich wandle still, bin wenig froh«; sie singen<br />

Ständchen, Nachtlieder, an den Mond, an die <strong>Musik</strong>, an die ferne Geliebte; sie singen vom Frühling, vom Abschied, von der<br />

Glückseligkeit. Und sie wandern -<br />

»Mein Traum« heißt es: »(...) und mit einem Herzen voll unendlicher Liebe <strong>für</strong> die, welche sie verschmähten, wanderte ich abermals<br />

in ferne Gegend. Lieder sang ich nun lange lange Jahre. Wollte ich Liebe singen, ward sie mir zum Schmerz. Und wollte ich wieder<br />

Schmerz nur singen, ward er mir zur Liebe. So zerteilte mich die Liebe und der Schmerz.«<br />

»... wo du nicht bist ...« - <strong>das</strong> ist die Weltformel unserer Sehnsucht nach Wanderschaft, zu lesen wie eine Tempoanweisung am<br />

Beginn einer Partitur. Die <strong>Musik</strong>er eignen sich die Schubertsche <strong>Musik</strong> auf ihre Weise an, <strong>das</strong> Gerät einer österreichischen<br />

Tanzkapelle in der Hand: hohes und tiefes Blech, Holzbläser (»süßes Hölzl«), Volksharfe, Zither und Hackbrett. Dazwischen und<br />

darüber Streichinstrumente - als Schmiere. In den besonderen Klangfarben werden die volksmusikalischen Inspirationsquellen des<br />

Komponisten Schubert hörbar. Zeitgleich hallt Schuberts Klangwelt in der Gegenwartsmusik wider. <strong>Musik</strong>alische Erinnerung. - »Der<br />

Hut flog mir vom Kopfe, ich wendete mich nicht.«<br />

Als Einführung in die Thematik des "Wanderers" eignet sich <strong>das</strong> Youtube-Video mit dem Folksong / Spiritual (ca. 1800):<br />

Wayfaring Stranger - Selah: 22<br />

http://www.youtube.com/watch?v=0edb9O9wPOY<br />

Die traditionelle pentatonische Melodie, arrangiert <strong>im</strong> moderneren Soulstil, symbolisiert in dem regelmäßigen Auf und Ab die<br />

endlose Wanderbewegung, in der Versetzung in den oberen Tetrachord (ab T. 8) <strong>das</strong> ersehnte Ziel <strong>im</strong> H<strong>im</strong>mel ("home").<br />

Die Bildebene zeigt religiöse Transzendenzbezogenheit, einen einsamen Wanderer, Ewigkeitssymbole (auf dem Berg, über den<br />

Wolken, blaue Farbe, Sonnenhorizont, weite Seenlandschaft), Hell-Dunkel-Kontraste (reifes Kornfeld versus abgestorbener Baum).<br />

Viele Elemente scheinen aus Bildern von C. D. Friedrich entlehnt.<br />

20 Booklet der CD "Franui. Schubertlieder, WWE 1CD 20301, 2007<br />

21 Booklet der CD "Franui. Schubertlieder, WWE 1CD 20301, 2007.<br />

22 Selah Sue ist eine belgische Songwriterin, die stark vom Soul, Reggae und Funk beeinflusst ist.


Wagner und Brecht<br />

21<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Die Nachahmungsästhetik beherrschte nicht nur den Barock, sondern wirkte bis tief ins 19. Jahrhundert hinein nach. Damals deutete<br />

man den Gedanken, <strong>das</strong>s die Kunst die Natur nachahme, allerdings um: Der Künstler bildet nicht mehr äußere Dinge ab, sondern<br />

schafft nach dem inneren, organischen Prinzip der Natur. Trotz dieser ästhetischen Umorientierung benutzte aber auch der<br />

romantische Künstler noch bewusst oder unbewusst die in der langen m<strong>im</strong>etischen Semantisierungstradition getroffenen<br />

Sprachregelungen.<br />

Das Ganze geht zurück auf die Poetik des Aristoteles. Er unterscheidet drei fundamentale Elemente der Tragödie:<br />

- Katharsis,<br />

- Einfühlung und<br />

- M<strong>im</strong>esis.<br />

In der M<strong>im</strong>esis ahmt der Schauspieler einen best<strong>im</strong>mten Charakter so überzeugend nach, <strong>das</strong>s er mit der Rolle, die er spielt, eins<br />

wird. Der Zuschauer erliegt der Suggestion, wird zur Einfühlung, zur Identifikation mit den Gefühlen des Schauspielers und seinen<br />

Handlungen gezwungen. Im "Mit-Leiden" der dargestellten Schicksale "reinigt" der Zuschauer "seine Seele" (Katharsis). Da die<br />

Helden der Tragödie best<strong>im</strong>mte Werte bzw. eine best<strong>im</strong>mte Weltsicht verkörpern, akzeptiert der Zuschauer unbewusst auch diese<br />

hinter der Tragödie stehende, als absolut gedachte Weltordnung.<br />

Seit es die Oper gibt, gilt <strong>das</strong> m<strong>im</strong>etische Prinzip zunehmend auch <strong>für</strong> die <strong>Musik</strong>. Im 17. Jahrhundert entwickelte sich die <strong>Musik</strong> zu<br />

einer rhetorischen Kunst, zu einer Affektsprache. Durch Nachahmung äußerer oder innerer Vorgänge bildete sie "Vokabeln" aus, die<br />

sie als feste "Figuren" katalogisierte und überlieferte. Eine solche musikalische Semantisierung ist besonders suggestiv, weil sie,<br />

anders als die Wortsprache, ihre "Zeichen" nach dem Prinzip der Analogie, also sinnfällig und unmittelbar gefühlswirksam bildet.<br />

Die Ausgangsanalogie ist meist eine bildlich-räumliche (aufwärts, abwärts, hoch, tief, schnell, langsam) bzw. akustische (laut, leise).<br />

Damit sind aber <strong>im</strong>mer auch affektive Konnotationen verbunden. Die Anabasis bedeutet also nicht nur "Aufstieg", sondern auch<br />

"Zuversicht," "Sehnsucht" o. ä., die Katabasis nicht nur "Abstieg", sondern auch "Depression", "Trauer" o. ä. Überwiegend affektiv<br />

sind die <strong>im</strong> Bereich Diatonik/Chromatik und Konsonanz/Dissonanz gebildeten Figuren. Diatonische und konsonante Figuren haben<br />

meist einen positiven, chromatische und dissonante meist einen negativen Affekt. Die genauen Bedeutungen solcher Figuren erstehen<br />

erst durch die Kombination von Figuren und durch den Kontext, die Entschlüsselung verläuft also ähnlich wie bei der Übersetzung<br />

eines fremdsprachigen Textes, bei der man sich ja auch die genaue Bedeutung einer Vokabel manchmal von deren Grundbedeutung<br />

her aus dem Zusammenhang erschließen muss.<br />

In Wagners Tristanmotiv findet sich folgender<br />

Figurenkomplex:<br />

Mit ihm erfasst Wagner wie in einem Brennpunkt die<br />

Grundaussage der gesamten Oper. Die Exclamatio<br />

('Ausruf', aufsteigende kleine Sext) mit<br />

anschließendem chromatischem Abwärtsgang (passus<br />

duriusculus, harter Gang) bedeutet Klage, Leiden,<br />

Tod. Die Umkehrung des chromatischen Ganges ist<br />

eine Sehnsuchtsgeste (sozusagen eine flehentlich<br />

erhobene Hand). Die Suspiratio-Pause lässt diese Geste ins Leere laufen, verdeutlicht die Unerreichbarkeit des Ziels. Die<br />

Unstillbarkeit des Liebesverlangens wird auch in der Harmonik greifbar: Auf <strong>im</strong>mer neuen Stufen setzt der Figurenkomplex an, und<br />

<strong>im</strong>mer schließt er mit einem Dominantseptakkord, aber dieser findet nie seine Tonika. Durch fortwährende Metamorphose dieser<br />

Leitmotive entsteht ein dichter, zusammenhängender, organischer Prozess, bei dem in allen Details der eine Kerngedanke mit<br />

äußerster Konsequenz verfolgt wird. Dabei verschmilzt in Wagners Gesamtkunstwerk die <strong>Musik</strong> mit den anderen am Drama<br />

beteiligten Elementen (Text, Gebärden, Bühnenbild usw.) zu einem untrennbaren, bruchlosen Ganzen. Die Bündelung führt zu einer<br />

bis dahin unvorstellbaren Suggestionskraft. Nietzsche 23 spricht von der "gefährlichen Faszination" des Tristan. Wagner versetzt <strong>das</strong><br />

Orchester in die "mystische Höhle", trennt durch den Orchestergraben Zuschauerraum und Bühne, "<strong>das</strong> Reale vom Ideellen",<br />

vergrößert die Figuren des Dramas "in übermenschliche Maße". Das "Tableau", wie Wagner es ausdrückt, "zieht sich vom Zuschauer<br />

zurück wie <strong>im</strong> Traum". 24<br />

Brecht wendet sich als Angehöriger der antiromantischen Generation der Neuen Sachlichkeit gegen die aristotelische Konzeption,<br />

vor allem gegen ihre (seiner Meinung nach) hypertrophe Realisierung durch Wagner. Nach Brecht kann der Zuschauer bei einem<br />

solchen Theater nur so reagieren: "ja, <strong>das</strong> habe ich auch schon gefühlt. So bin ich. Das ist nur natürlich. Das wird <strong>im</strong>mer so sein. Das<br />

Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es keinen Ausweg <strong>für</strong> ihn gibt. Das ist große Kunst: da ist alles selbstverständlich. Ich<br />

weine mit dem Weinenden, ich lache mit dem Lachenden". 25<br />

Eine solche Haltung ist <strong>für</strong> Brecht einem "Publikum des wissenschaftlichen Zeitalters" unangemessen. Der Zuschauer soll ernst<br />

genommen werden, er soll als selbständig urteilender Beobachter reagieren. Die Reaktion eines solchen Zuschauers stellt sich Brecht<br />

so vor:<br />

"Daran hatte ich nicht gedacht. So sollte es nicht sein. Das ist sehr seltsam ... fast unglaubhaft. Das<br />

muss aufhören! Die Leiden dieses Menschen berühren mich tief, weil es einen Ausweg <strong>für</strong> ihn gibt.<br />

Das ist große Kunst - nichts ist hier selbstverständlich. Ich lache über den Weinenden und weine über<br />

den Lachenden". 26<br />

Nicht zuletzt waren es die Erfahrungen, die Brecht seit den frühen 20er Jahren mit der meisterlichen Handhabung der Suggestion<br />

durch Hitler machen konnte, die ihn zur Entwicklung seines nichtdramatischen, epischen ("erzählenden") Theaters veranlassten. An<br />

die Stelle des m<strong>im</strong>etischen sollte <strong>das</strong> gestische ("zeigende") Verfahren treten. Der Zuschauer soll nicht in eine Traumwelt entführt,<br />

sondern über wahre Sachverhalte aufgeklärt werden, nicht nur genießen und erleben, sondern auch und gerade kritisch beobachten<br />

und Schlüsse ziehen. Die Verschmelzung der Elemente wird durch deren Trennung ersetzt, die Einfühlung durch Verfremdung, die<br />

23 Csampai, Attila/Holland, Dietmar (Hg.): Richard Wagner. Tristan und Isolde. Texte, Materialien, Kommentare, Reinbek 1983, S. 179)<br />

24 Ewen, Frederic: Bertolt Brecht, Hamburg 1973, S. 185<br />

25 Ewen, Frederic: Bertolt Brecht, Hamburg 1973, S. 187<br />

26 Ewen, Frederic: Bertolt Brecht, Hamburg 1973, S. 188


22<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

organische Entwicklung durch Montage heterogener Bruchstücke (nach Art der damaligen Stummfilme), <strong>das</strong><br />

Individuell-Charakteristische durch <strong>das</strong> Sozial-Allgemeine und Typische, <strong>das</strong> Innere/Psychologische durch <strong>das</strong> Äußere, <strong>das</strong><br />

persönliche Schicksal durch die Verhältnisse. Das entspricht seiner damaligen anarchistisch-nihilistischen Weltsicht: Die<br />

Verhältnisse sind es, die alles Menschliche verformen und beschmutzen. Der Schauspieler/Sänger verhält sich wie der Zeuge eines<br />

Verkehrsunfalls, der <strong>das</strong> Verhalten der Beteiligten demonstriert: Er schlüpft nicht voll in seine Rolle, wird mit ihr nicht eins, sondern<br />

hält (partiell) Distanz zu ihr, "führt sie vor" und macht sie dadurch, <strong>das</strong>s er ihr gegenüber einen best<strong>im</strong>mten Gestus, eine best<strong>im</strong>mte<br />

Haltung einn<strong>im</strong>mt, fremd und beurteilbar. Auch die <strong>Musik</strong> ist, wie die anderen Elemente des Theaters, eigenständig, auch sie fixiert<br />

einen Gestus, der einen best<strong>im</strong>mten Aspekt der Sache überdeutlich zeigt. Die üblichen musiksprachlichen Regelungen, nach denen<br />

die <strong>Musik</strong> den Text unterstützt, ergänzt, mit ihm eine Symbiose eingeht, werden weitgehend aufgegeben. Es geht nicht darum, den<br />

Zuhörer zu überwältigen, sondern ihn zu befremden.<br />

Der Desillusionierung und Verfremdung dienen auch viele andere Maßnahmen auf der Bühne. Brecht sagt dazu in einem Gedicht:<br />

... sperrt mir die Bühne nicht ab!<br />

Zurückgelehnt, werde der Zuschauer<br />

Der geschäftigen Vorkehrungen gewahr, die <strong>für</strong> ihn<br />

Listig getroffen werden, einen zinnernen Mond<br />

Sieht er herunterschweben, ein Schindeldach<br />

Wird da hereingetragen, zeigt ihm zuviel nicht<br />

Aber zeigt etwas! Und lasst ihn gewahren<br />

Dass ihr nicht zaubert, sondern<br />

Arbeitet, Freunde. 27<br />

Ganz in diesem Sinne wird in der Dreigroschenoper auch <strong>das</strong> Orchester wieder aus dem "Graben" geholt und auf der Bühne sichtbar<br />

platziert. Der Schnitt, der durch die Songs in der Handlung entsteht, wird dadurch noch verstärkt, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Licht zum Orchester<br />

wechselt und auf der Leinwand <strong>im</strong> Hintergrund der Titel der jeweiligen Nummer erscheint.<br />

Brecht setzte mit solchen Verfahren in theaterspezifischer Weise Gedanken um, die 1916 Sklovsky - von ihm hat er auch<br />

wahrscheinlich den Begriff Verfremdung übernommen - und vor diesem 1907 Weills Lehrer Ferruccio Busoni 28 geäußert hatte:<br />

"So wie der Künstler, wo er rühren soll, nicht selber gerührt werden darf - soll er nicht die Herrschaft<br />

über seine Mittel <strong>im</strong> gegebenen Augenblicke einbüßen -, so darf auch der Zuschauer, will er die<br />

theatralische Wirkung kosten, diese niemals <strong>für</strong> Wirklichkeit ansehen, soll nicht der künstlerische<br />

Genuss zur menschlichen Teilnahme herabsinken. Der Darsteller ,spiele' - er erlebe nicht. Der<br />

Zuschauer bleibe ungläubig und dadurch ungehindert <strong>im</strong> geistigen Empfangen und Feinschmecken"<br />

Viktor Sklovskij (1916) 29 :<br />

"... Wenn wir uns über die allgemeinen Gesetze der Wahrnehmung klarwerden, dann sehen wir, <strong>das</strong>s Handlungen, wenn man sich an<br />

sie gewöhnt hat, automatisch werden. So geraten z. B. alle unsere Angewohnheiten in den Bereich des Unbewusst-Automatischen;<br />

wenn jemand sich an die Empfindung erinnert, die er hatte, als er zum ersten Mal eine Feder in der Hand hielt oder zum ersten Mal in<br />

einer fremden Sprache redete, und wenn er diese Empfindung mit der vergleicht, die er be<strong>im</strong> zehntausendsten Mal hat, dann wird er<br />

uns zust<strong>im</strong>men. Das ist ein Prozess, dessen ideale Ausprägung die Algebra darstellt, wo die Dinge durch Symbole ersetzt sind... So<br />

kommt <strong>das</strong> Leben abhanden und verwandelt sich in nichts. Die Automatisierung frisst die Dinge... Und gerade, um <strong>das</strong> Empfinden<br />

des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert <strong>das</strong>, was man Kunst nennt. Ziel<br />

der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; <strong>das</strong> Verfahren der Kunst<br />

ist <strong>das</strong> Verfahren der >Verfremdung< der Dinge und <strong>das</strong> Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, <strong>das</strong> die Schwierigkeit und<br />

Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozess ist in der Kunst Selbstzweck und muss verlängert werden; die<br />

Kunst ist ein Mittel, <strong>das</strong> Machen einer Sache zu erleben; <strong>das</strong> Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig..."<br />

Kunst als Verfahren.<br />

27 Ewen, Frederic: Bertolt Brecht, Hamburg 1973, S. 207<br />

28 Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1907), Hamburg 1973, S. 21<br />

29 Zit. nach: Literatur. Reader zum Funkkolleg. Band 2, Frankfurt 1977, S. 214f.


08/15-Version<br />

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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Richard Wagner<br />

(am 19. 12. 1859 an Mathilde<br />

Wesendonck über <strong>das</strong> Tristan-<br />

Vorspiel):<br />

"Ein altes, unerlöschlich neu sich<br />

gestaltendes, in allen Sprachen des<br />

mittelalterlichen Europa<br />

nachgedichtetes Ur-Liebesgedicht<br />

sagt uns von Tristan und Isolde.<br />

Der treue Vasall hatte <strong>für</strong> seinen<br />

König diejenige gefreit, die selbst<br />

zu lieben er sich nicht gestehen<br />

wollte, Isolden, die ihm als Braut<br />

seines Herrn folgte, weil sie dem<br />

Freier selbst machtlos folgen<br />

musste. Die auf ihre unterdrückten<br />

Rechte eifersüchtige Liebesgöttin<br />

rächt sich: den, der Zeitsitte gemäß<br />

<strong>für</strong> den nur durch Politik<br />

vermählten Gatten von der<br />

vorsorglichen Mutter der Braut<br />

best<strong>im</strong>mten Liebestrank lässt sie<br />

durch ein erfindungsreiches<br />

Versehen dem jugendlichen Paare<br />

kredenzen, <strong>das</strong>, durch seinen<br />

Genuss in hellen Flammen<br />

auflodernd, plötzlich sich gestehen<br />

muss, <strong>das</strong>s nur sie einander<br />

gehören. Nun war des Sehnens, des<br />

Verlangens, der Wonne und des<br />

Elends der Liebe kein Ende: Welt,<br />

Macht, Ruhm, Ehre, Ritterlichkeit,<br />

Treue, Freundschaft - alles wie<br />

wesenloser Traum zerstoben; nur<br />

eines noch lebend: Sehnsucht,<br />

Sehnsucht, unstillbares, ewig neu<br />

sich gebärendes Verlangen,<br />

Dürsten und Schmachten; einzige<br />

Erlösung: Tod, Sterben,<br />

Untergehen, Nichtmehrerwachen!<br />

Der <strong>Musik</strong>er, der dieses Thema<br />

sich <strong>für</strong> die Einleitung seines<br />

Liebesdramas wählte, konnte, da er<br />

sich hier ganz <strong>im</strong> eigensten,<br />

unbeschränktesten Elemente der<br />

<strong>Musik</strong> fühlte, nur da<strong>für</strong> besorgt<br />

sein, wie er sich beschränkte, da<br />

Erschöpfung des Themas<br />

unmöglich ist. So ließ er denn nur<br />

einmal, aber <strong>im</strong> lang gegliederten<br />

Zuge, <strong>das</strong> unersättliche Verlangen<br />

anschwellen, von dem<br />

schüchternsten Bekenntnis, der<br />

zartesten Hingezogenheit an, durch<br />

banges Seufzen, Hoffen und Zagen,<br />

Klagen und Wünschen, Wonnen<br />

und Qualen, bis zum mächtigsten<br />

Andrang, zur gewaltsamsten Mühe,<br />

den Durchbruch zu finden, der dem<br />

grenzenlos begehrlichen Herzen<br />

den Weg in <strong>das</strong> Meer unendlicher<br />

Liebeswonne eröffne. Umsonst!<br />

Ohnmächtig sinkt <strong>das</strong> Herz zurück,<br />

um in Sehnsucht zu verschmachten,<br />

in Sehnsucht ohne Erreichen, ja<br />

jedes Erreichen nur wieder neues<br />

Sehnen ist, bis <strong>im</strong> letzten Ermatten<br />

dem brechenden Blicke die Ahnung<br />

des Erreichens höchster Wonne<br />

aufdämmert: es ist die Wonne des<br />

Sterbens, des Nichtmehrseins, der<br />

letzten Erlösung in jenes<br />

wundervolle Reich, von dem wir<br />

am fernsten abirren, wenn wir mit<br />

stürmischester Gewalt darin<br />

einzudringen uns mühen. Nennen<br />

wir es Tod? Oder ist es die nächtige<br />

Wunderwelt, aus der, wie die Sage<br />

uns meldet, ein Efeu und eine Rebe<br />

in inniger Umschlingung einst auf<br />

Tristans und Isoldes Grabe<br />

emporwuchsen?"<br />

Zit. nach: Attila Csampai/Dietmar<br />

Holland (Hg.): Richard Wagner.<br />

Tristan und Idolde, Reinbek 1983,<br />

S. 157f.


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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Bertold Brecht 30 , "Das moderne Theater ist <strong>das</strong> epische Theater. Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny",<br />

in: Schriften zum Theater, Frankfurt 1957, Suhrkamp, S. l9ff.: Das moderne Theater ist <strong>das</strong> epische Theater. Folgendes Schema zeigt<br />

einige Gewichtsverschiebungen vom dramatischen zum epischen Theater*.<br />

Dramatische Form des Theaters:<br />

handelnd<br />

verwickelt den Zuschauer in eine Bühnenaktion<br />

verbraucht seine Aktivität<br />

ermöglicht ihm Gefühle<br />

Erlebnis<br />

der Zuschauer wird in etwas hineinversetzt<br />

Suggestion<br />

die Empfindungen werden konserviert<br />

der Zuschauer steht mittendrin, miterlebt<br />

der Mensch als bekannt vorausgesetzt<br />

der unveränderliche Mensch<br />

Spannung auf den Ausgang<br />

eine Szene <strong>für</strong> die andere Wachstum<br />

Geschehen linear<br />

evolutionäre Zwangsläufigkeit<br />

der Mensch als Fixum<br />

<strong>das</strong> Denken best<strong>im</strong>mt <strong>das</strong> Sein<br />

Gefühl<br />

Epische Form des Theaters:<br />

erzählend<br />

macht den Zuschauer zum Betrachter, aber<br />

weckt seine Aktivität<br />

erzwingt von ihm Entscheidungen<br />

Weltbild<br />

er wird gegenübergesetzt<br />

Argument<br />

werden bis zur Erkenntnis getrieben<br />

der Zuschauer steht gegenüber, studiert<br />

der Mensch ist Gegenstand der Untersuchung<br />

der veränderliche und verändernde Mensch<br />

Spannung auf den Gang<br />

jede Szene <strong>für</strong> sich<br />

Montage in Kurven<br />

Sprünge<br />

der Mensch als Prozess<br />

<strong>das</strong> gesellschaftliche Sein best<strong>im</strong>mt <strong>das</strong> Denken<br />

Ratio<br />

* Dieses Schema zeigt nicht absolute Gegensätze, sondern lediglich Akzentverschiebungen. So kann innerhalb eines<br />

Mitteilungsvorganges <strong>das</strong> gefühlsmäßig Suggestive oder <strong>das</strong> rein rationell Überredende bevorzugt werden.<br />

Der Einbruch der Methoden des epischen Theaters in die Oper führt hauptsächlich zu einer radikalen Trennung der Elemente...<br />

Solange "Gesamtkunstwerk" bedeutet, <strong>das</strong> <strong>das</strong> Gesamte ein Aufwaschen ist, solange also Künste "verschmelzt" werden sollen,<br />

müssen die einzelnen Elemente alle gleichmäßig degradiert werden, indem jedes nur Stichwortbringer <strong>für</strong> <strong>das</strong> andere sein kann. Der<br />

Schmelzprozess erfasst den Zuschauer, der ebenfalls eingeschmolzen wird und einen passiven (leidenden) Teil des<br />

Gesamtkunstwerks darstellt. Solche Magie ist natürlich zu bekämpfen. Alles, was Hypnotisierversuche darstellen soll, unwürdige<br />

Räusche erzeugen muss, benebelt, muss aufgegeben werden.<br />

M u s i k , Wo r t u n d B i l d mu sst e n me h r S e l b s t ä n d i g k e i t e r h a l t e n .<br />

Für die <strong>Musik</strong> ergab sich folgende Gewichtsverschiebung:<br />

Dramatische Oper<br />

Die <strong>Musik</strong> serviert<br />

<strong>Musik</strong> den Text steigernd<br />

<strong>Musik</strong> den Text behauptend<br />

<strong>Musik</strong> illustrierend<br />

<strong>Musik</strong> die psychische Situation malend<br />

Epische Oper<br />

Die <strong>Musik</strong> vermittelt<br />

den Text auslegend<br />

den Text voraussetzend<br />

Stellung nehmend<br />

<strong>das</strong> Verhalten gebend<br />

Welche Haltung sollte der Zuschauer einnehmen in den neuen Theatern, wenn ihm die traumbefangene, passive, in <strong>das</strong> Schicksal<br />

ergebene Haltung verwehrt wurde? Er sollte nicht mehr aus seiner Welt in die Welt der Kunst entführt, nicht mehr gekidnappt<br />

werden; <strong>im</strong> Gegenteil sollte er in seine reale Welt eingeführt werden, mit wachen Sinnen (B. Brecht, zit. nach: Helmut Fahrenbach,<br />

Brecht zur Einführung, Hamburg 1986, S. 60).<br />

Der Schauspieler muss nicht nur singen, sondern auch einen Singenden zeigen. Er versucht nicht so sehr, den Gefühlsinhalt seines<br />

Liedes hervorzuholen (darf man eine Speise andern anbieten, die man selbst schon gegessen hat?), sondern er zeigt Gesten, welche<br />

sozusagen die Sitten und Gebräuche des Körpers sind. Zu diesem Zweck benützt er be<strong>im</strong> Einstudieren am besten nicht die Worte des<br />

Textes, sondern landläufigere, profane Redensarten, die ähnliches ausdrücken, aber in der schnoddrigen Sprache des Alltags. Was<br />

die Melodie betrifft, so folgt er ihr nicht blindlings: es gibt ein Gegen-die-<strong>Musik</strong>-Sprechen, welches große Wirkungen haben kann, die<br />

von einer hartnäckigen, von <strong>Musik</strong> und Rhythmus unabhängigen und unbestechlichen Nüchternheit ausgehen. Mündet er in die<br />

Melodie ein, so muss dies ein Ereignis sein; zu dessen Betonung kann der Schauspieler seinen eigenen Genuss an der Melodie<br />

deutlich verraten. Gut <strong>für</strong> den Schauspieler ist es, wenn die <strong>Musik</strong>er während seines Vortrags sichtbar sind, und gut, wenn ihm<br />

erlaubt wird, zu seinem Vortrag sichtbar Vorbereitungen zu treffen (indem er etwa einen Stuhl zurechtrückt oder sich eigens schminkt<br />

usf.). Besonders be<strong>im</strong> Lied ist es wichtig, <strong>das</strong>s ,der Zeigende gezeigt wird'.<br />

Bertold Brecht: "Anmerkungen zur Dreigroschenoper", in: B. Brecht, Stücke <strong>für</strong> <strong>das</strong> Theater am Schiffbauerdamm, Frankfurt 1958, S. 154ff.<br />

Es ist ein vorzügliches Kriterium gegenüber einem <strong>Musik</strong>stück mit Text, vorzuführen, in welcher Haltung, mit welchem Gestus der<br />

Vortragende die einzelnen Partien bringen muss, höflich oder zornig, demütig oder verächtlich, zust<strong>im</strong>mend oder ablehnend, listig<br />

oder ohne Berechnung. Dabei sind die allergewöhnlichsten, vulgärsten, banalsten Gesten zu bevorzugen. So kann der politische Wert<br />

eines <strong>Musik</strong>stücks abgeschätzt werden.<br />

30 Zit. nach: Hans Martin Ritter, Die Lieder der "Hauspostille", Stuttgart 1978, S. 218.


Wagner: Tristan und Isolde, 2.<br />

Aufzug, 2. Szene<br />

So stürben wir, um ungetrennt,<br />

ewig einig ohne End';<br />

ohn' Erwachen, ohn' Erbangen<br />

namenlos in Lieb' umfangen,<br />

ganz uns selbst gegeben,<br />

der Liebe nur zu leben!<br />

Brecht/Weill: Dreigroschenoper<br />

(Nr. 8), Liebeslied<br />

Macheath: Und jetzt muss <strong>das</strong><br />

Gefühl auf seine Rechnung<br />

kommen. Der Mensch wird ja sonst<br />

zum Berufstier. Setz dich, Polly!<br />

<strong>Musik</strong><br />

Macheath: Siehst du den Mond<br />

über Soho?<br />

Polly: Ich sehe ihn, Lieber. Fühlst<br />

du mein Herz schlagen,<br />

Geliebter?<br />

Macheath: Ich fühle es, Geliebte.<br />

Polly: Wo du hingehst, da will ich<br />

auch hingehen.<br />

Macheath: Und wo du bleibst, da<br />

will auch ich sein.<br />

Beide singen:<br />

Und gibt's auch kein Schriftstück<br />

vom Standesamt<br />

Und keine Blume auf dem Altar<br />

Und weiß ich auch nicht, woher<br />

dein Brautkleid stammt<br />

Und ist keine Myrte <strong>im</strong> Haar –<br />

Der Teller, von welchem du issest<br />

dein Brot<br />

Schau ihn nicht lang an, wirf ihn<br />

fort!<br />

Die Liebe dauert oder dauert nicht<br />

An dem oder jenem Ort.<br />

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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012


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Brechts Text liefert ein gutes Kategoriensystem, um Weills „Liebeslied“ und Wagners „So stürben wir“ zu vergleichen:<br />

Wagner<br />

Suggestion<br />

Entwicklung / Organismus<br />

Gesamtkunstwerk<br />

mystische Höhle<br />

Stilhöhe<br />

Sinfonieorchester, kunstvolle Motivarbeit<br />

organisches Komponieren<br />

Weill<br />

Argument<br />

Montage<br />

Trennung der Elemente, Nummern,<br />

desillusionierende Ankündigungen und<br />

Bühnenaktionen<br />

Verbrechermilieu<br />

Tanzcombo, Song, Boston<br />

Montage, heterogenes Material<br />

Konkrete Elemente der Verfremdung und Widersprüche <strong>im</strong> „Liebeslied“<br />

Wagnerstil in der Begleitung des 1. Teils ‚falsche‘ Instrumente<br />

gesprochener, banal-verlogener Text<br />

Kunstmäßige Gefühlsgesten <strong>im</strong> 2. Teil Boston-<strong>Musik</strong><br />

Lamentobass<br />

zynischer Text<br />

Anspielungen auf Wagner und Schubert Inhalt: banale Äußerlichkeiten<br />

Eine Schwachstelle in Brechts/Weills System ist die Tatsache, <strong>das</strong>s sie bei allem Bemühen um Distanzierung und Bewusstmachen<br />

Klischees aufgreifen und dem Hörer „Genuss“ bereiten müssen, damit er ihnen überhaupt zuhört. Das wurde sofort von der<br />

Unterhaltungsindustrie aufgegriffen. Schon 1930 veröffentlichte Marek Weber ein Tanzpotpourri mit Weill-Songs, darunter ist auch<br />

der Boston aus dem „Liebeslied“.<br />

Verfremdung setzt Kenntlichmachung des Verfremdeten voraus. Deshalb ist <strong>das</strong> Liebeslied a u c h ein anrührendes Stück, in dem<br />

die Sehnsucht nach echter Liebe durchsch<strong>im</strong>mert.<br />

Suggestion muss aufgebaut werden, um zerstört<br />

werden zu können.<br />

Gay / Pepuschs „The Beggar’s Opera" von 1729<br />

bildete die Vorlage <strong>für</strong> Brechts Dreigroschenoper. Wie<br />

Brecht / Weill gegen Richard Wagner und die<br />

Gesellschaft seiner Zeit richtete sich auch John Gays<br />

Werk gegen die opera seria und <strong>das</strong> korrupte Londoner<br />

politische System. An die Stelle höfischer Etikette trat<br />

ein zwielichtiges Unterweltmilieu, statt hochtrabender<br />

pathetischer Gefühlsäußerungen hört man unflätige<br />

Flüche, satt der elitären italienischen Opernsprache die<br />

englische Volkssprache und statt artifizieller<br />

Kastraten-Koloraturen s<strong>im</strong>ple Songs zum Mitsingen.<br />

Verfremdung also auch schon hier. Sie bestand vor<br />

allem darin, <strong>das</strong>s man die frechen Texte<br />

volkstümlichen Melodien und populären<br />

Opernmelodien von Bononcini, Purcell und Händel<br />

unterlegte.<br />

Ein Beispiel ist gleich <strong>das</strong> Eröffnungslied, in dem der<br />

Text „Each Neighbour abuses his brother“ einem<br />

braven Generalbasslied unterlegt ist. Dieses Stück hat<br />

Weill mit geändertem Text in seiner Dreigroschenoper<br />

wörtlich übernommen. Gay:Pepusch: http://www.youtube.com/watch?v=BrKhW4gkeL0<br />

Weill: Morgenchoral des Mister Peachum: http://www.youtube.com/watch?v=DaV5bNXMTcQ<br />

George Grosz: 31 "Statt einer Biographie" (1925):<br />

"Geht in die Ausstellungen und seht die Inhalte, die von den Wänden strahlen! Diese Zeit ist ja auch so idyllisch, so geigenhaft, so<br />

geschaffen <strong>für</strong> gotischen Heiligenkult. <strong>für</strong> Negerdorfschöne, <strong>für</strong> rote Kreise, blaue Quadrate oder kosmische Eingebungen: >die<br />

Wirklichkeit, ach, sie ist so häßlich, ihr Getöse stört den zarten Organismus unserer harmonischen SeelenGeistigen


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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012


hier schon weitgehend vorweggenommen.<br />

28<br />

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Wagners Text ist durchdrungen von der romantischen<br />

Vorstellung des Liebestodes. Weltvergessen der Prosa des<br />

"Tages" entrückt, träumt <strong>das</strong> Liebespaar den Traum von<br />

endloser Liebeswonne in der poetischen Welt der "Nacht", des<br />

Todes - nur er bringt endgültige Erlösung aus den Widrigkeiten<br />

des Lebens. Mit ihrer Alterationsharmonik, den<br />

Tremoloeffekten, der schwebenden Rhythmik, den<br />

ausgreifenden, endlos sich steigernden melodischen Gebärden<br />

und Gefühlskurven n<strong>im</strong>mt die <strong>Musik</strong> den Zuhörer mit. Ihrer<br />

Suggestion kann man sich, lässt man sich einmal auf sie ein,<br />

nur einfühlend hingeben.<br />

Die <strong>Musik</strong> ist thematisch aus dem Tristanmotiv entwickelt.<br />

Entsprechend der inhaltlichen Veränderung werden die<br />

einzelnen Figuren modifiziert: Die unsichere kleine Sext der<br />

Exclamatio wird zur sicheren Quart, <strong>das</strong> chromatische Gleiten<br />

kommt auf dem dritten Ton zum Stehen, die Chromatik des<br />

Sehnsuchtsmotivs wird zur klaren diatonischen Linie aus<br />

großen Sekunden, deren letzter Ton jetzt als (vorläufiger)<br />

Zielton sich etabliert: Er steht auf betonter Taktzeit, die<br />

Suspiratio-Pause ist verschwunden, die Harmonik ist nicht<br />

mehr dominantisch offen. Der"erlösende" Tristanschluß ist<br />

Brecht parodiert <strong>im</strong> Liebeslied der Dreigroschenoper die vielen Liebesduette in romantischen Opern. Gleich in der ersten Frage<br />

("Siehst du den Mond über Soho?") beschwört er mit den beiden Substantiven romantische Naturmystik und moderne Großstadt - der<br />

Londoner Stadtteil Soho ist von Bars und Bordellen geprägt - und zugleich die Unvereinbarkeit dieser beiden Welten. Damit ist <strong>das</strong><br />

Thema klar gesetzt. Der Text karikiert alle romantischen Vorstellungen von Liebe und Ehe. Zunächst wird die Gefühlssphäre noch<br />

verschiedentlich angesprochen ("fühlen", "Herz", "Lieber", "Geliebter", "Geliebte"), wenn auch in etwas abgegriffener Form. Die<br />

nächste Stufe auf der Abwärtsleiter ist <strong>das</strong> Zitat des "Wohin du gehst ...", eines bei Trauungsriten verschlissenen Versatzstückes.<br />

Dann wird's noch platter: An Stelle abgehobener Gefühle und Innenwelten tritt die (umgangssprachlich-umständliche, "und"-Sätze<br />

reihende) Beschreibung einer banalen Mangelwirtschaft. Äußere Requisiten und Institutionen <strong>im</strong> Umfeld von Trauung und Hochzeit<br />

werden angesprochen, und am Schluss steht bei der Frage nach der Dauer der Liebe ein spöttisches Achselzucken.<br />

Starke Verfremdungselemente liegen auch außerhalb des Textes selbst. Macheath passt überhaupt nicht in die Rolle des "Liebhabers"<br />

<strong>im</strong> Sinne der Oper, er ist ein Schürzenjäger und notorisch untreu. Polly steht die Rolle der Liebhaberin schon eher an, sie scheint<br />

Macheath wirklich zu lieben und ist überhaupt über weite Passagen als "liebes Mädchen" charakterisiert. In seinen Anmerkungen zur<br />

Dreigroschenoper sagt Brecht:<br />

"Es wäre absolut wünschenswert, <strong>das</strong>s Fräulein Polly Peachum vorn Zuschauer als tugendhaftes und<br />

angenehmes Mädchen empfunden wird" (vgl. Brecht-Jb. 1979, S.37).<br />

Aber ganz eindeutig ist <strong>das</strong> auch nicht. Im weiteren Verlauf wird diese Rolle abrupt konterkariert. Im epischen Theater gibt es eben<br />

keinen "Charakter", keine individuelle und in sich geschlossene Person. Gerade die romantischen Elemente der Stelle sind durch den<br />

Kontext schon <strong>im</strong> Vorhinein desavouiert. Im "Anstatt-daß-Song" (Nr. 4) hat <strong>das</strong> Ehepaar Peachum, voller Ärger darüber, <strong>das</strong>s Polly<br />

über Nacht weggeblieben und bei Macheath gewesen ist, die Liebesgefühle junger Leute verspottet und dabei höhnisch die ganze<br />

Szenerie und die Liebesworte des späteren Liebesliedes vorweggenommen:<br />

"Das ist der Mond über Soho, <strong>das</strong> ist der verdammte 'Fühlst du<br />

mein Herz schlagen'-Text. Das ist <strong>das</strong>: Wenn du wohin gehst, geh<br />

ich auch wohin, Jonny!' Wenn die Liebe anhebt und der Mond<br />

noch wächst'.<br />

Im "Hochzeitslied <strong>für</strong> ärmere Leute" (Nr. 5) wird die Ehe zynisch entlarvt, und<br />

auch hier gibt es eine Vorwegnahme des Liebesliedes:<br />

"Als sie drin standen vor dem Standesamt, wusste er nicht, woher<br />

ihr Brautkleid stammt..."<br />

Irritierend wirkt auch Nr. 6, wo Polly seltsam zweideutige, revolutionäre Töne<br />

anschlägt, auch wenn sie dabei nur "demonstriert", wie <strong>das</strong> "Abwaschmädchen<br />

aus einer Vier-Penny-Kneipe" - des "Zeigens" ist kein Ende - in der Rolle der<br />

Seeräuber-Jenny seinen Traum von der Zukunft "gezeigt" hat. (Bei späteren<br />

Aufführungen wird dieser Song der Jenny zugeteilt - ein weiterer Beleg <strong>für</strong> die<br />

Nichtfestlegbarkeit und Austauschbarkeit von Personen.) Jedenfalls: Nicht nur<br />

der Polizeipräsident Brown ist eine moderne gespaltene Persönlichkeit -<br />

etablierter Bürger und Gangster -, auch Polly scheint beide Frauentypen der 20er<br />

Jahre in sich zu vereinen, den erotisch-romantischen Typ zwischen Gretchen und<br />

Vamp <strong>im</strong> offenen kurzen Kleid und den nüchtern-sportlichen, knabenhaften<br />

Garçonne-Typ mit Jackett, Krawatte und Bubikopf (vgl. <strong>das</strong> Titelbild der<br />

"Berliner Illustrierten Zeitung" vom 13. November 1927).<br />

Den größten distanzierenden Effekt hat aber zweifellos die Ankündigung des<br />

Macheath: "Und jetzt muss <strong>das</strong> Gefühl auf seine Rechnung kommen. Der Mensch<br />

wird ja sonst zum Berufstier. Setz dich, Polly!" Die Szene erscheint als bloß<br />

"gespielt", als nicht <strong>für</strong> bare Münze zu nehmen, nicht zuletzt deshalb, weil ihr der<br />

"Kanonensong" voraufgeht, in dem sich ebendieser Macheath - größer kann der<br />

Schnitt nicht sein - zusammen mit seinem Kumpanen Brown, dem<br />

Polizeipräsidenten, in brutaler Weise als <strong>im</strong>perialistischer und rassistischer Rohling präsentiert hat.


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Verfremdend wirkt überhaupt die ganze groteske Szenerie: Die Hochzeit findet <strong>im</strong> Kreise von Räubern in einem leeren Pferdestall<br />

statt. Das Inventar ist durch Raub und Mord zusammengekommen.<br />

Weill spiegelt in der formalen Anlage seiner <strong>Musik</strong> (opernhaftes Melodram / Schlager) in parodistischer Verzerrung die<br />

Konstellation "Accompagnato-Rezitativ / Arie". Im 1. Teil beschwören die Tremoli, die chromatisierte Harmonik mit dem<br />

chromatisch absinkenden Lamentobass in den Celli, die schwebenden Melodiegesten und der offene dominantische Schluss die<br />

Atmosphäre von Wagners Tristan. Verfremdet wird diese durch die Instrumentation: Klavier bzw. Harmonium spielen die Tremoli,<br />

gestopfte Trompete und Saxophon <strong>im</strong> Wechsel die Melodie (Wagner gerät so in die Nähe des Blues). Ernüchternd wirkt, <strong>das</strong>s nicht<br />

gesungen, sondern gesprochen wird.<br />

Dieser Aura der Kunst tritt nun nach<br />

einen hartem Schnitt die Welt des<br />

proletarischen Schlagers gegenüber. Die<br />

Angabe "Boston-Tempo" verweist auf<br />

den aus Amerika stammenden Boston,<br />

der Anfang der 20er Jahre sehr beliebt<br />

war. Er ist ein langsamer, gleitend<br />

vorwärts getanzter Walzer. Er ist<br />

sent<strong>im</strong>ental und harmonisch reicher als<br />

andere Walzertypen, eignet sich also<br />

besonders zur "Installierung eines<br />

Gefühlstons". Häufig kontrastieren 2/4oder<br />

4/4-Rhythmen mit den<br />

durchlaufenden Dreierrhythmen (siehe<br />

nebenstehend).<br />

Weill verfremdet den Boston (siehe<br />

oben). Die hemiolischen<br />

Taktverschleierungen entfallen, die<br />

Chromatisierung wird hauptsächlich in<br />

die Begleitung verlagert. Die Melodie<br />

bewegt sich überwiegend diatonisch und<br />

ist auf einen Schlager-Moritaten-Ton<br />

getr<strong>im</strong>mt (die Moritat bildet ja den<br />

Rahmen <strong>für</strong> die ganze Dreigroschenoper,<br />

ja man könnte diese sogar als eine einzige riesige Moritat verstehen).<br />

Die Pausen an den Phrasenenden sind nicht nur schlagerhaft, sie karikieren auch nicht nur die üblichen Fermatendehnungen der<br />

Moritat, sondern markieren, entsprechend der leiernden "und"-Reihung des Textes, einen grundsätzlichen Defekt: Bewegung kommt<br />

gar nicht richtig auf, selbst die als grundlegendes Einst<strong>im</strong>mungselement fungierende Walzer-Begleitfigur wird unterbrochen - ein<br />

schäbiger Effekt wie bei einer Drehorgel, auf deren Walze einige Stifte fehlen, und eine höhnische Distanzierung von Wagners<br />

"unendlicher" Melodie, deren ausgreifendem Schwung stockender Leerlauf entgegengesetzt wird.<br />

Und noch etwas ist bemerkenswert: Der Tonfall am Anfang ist der aus<br />

Peachums Morgenchoral.<br />

Das Nüchtern-Geschäftsmäßige der menschlichen Beziehungen wird<br />

offenbar. Das Unisono zeigt: Darin sind sich beide einig (nicht in der<br />

Liebe).<br />

Für den "Räuber" Macheath gilt: Er hat Polly, die Tochter seines<br />

Konkurrenten Peachum nicht aus Liebe, sondern als Siegestrophäe entführt<br />

und geheiratet. Er ist also nicht anders als der "Unternehmer" Peachum, der<br />

seine Tochter nur deshalb nicht verheiraten will, weil sie in seinem<br />

Unternehmen als An<strong>im</strong>ierdame unentbehrlich ist.<br />

Für Polly bedeutet <strong>das</strong> - Zitat von Brecht: "Die Polly ist etwa in einer<br />

Liebesszene mit Macheath nicht nur die Geliebte des Macheath, sondern<br />

auch die Tochter des Peachum; und <strong>im</strong>mer nicht nur seine Tochter,<br />

sondern auch die Angestellte ihres Vaters. Ihre Beziehungen zum<br />

Zuschauer müssen beinhalten ihre Kritik der landläufigen Vorstellungen<br />

des Zuschauers über Räuberbräute und Kaufmannstöchter und so fort"<br />

(vgl. Csampai: Dreigroschenoper S. 77). Mit dieser Äußerung ergänzt<br />

Brecht seine obige Aussage über Polly und rät der Polly-Darstellerin, ihre<br />

Rolle - entsprechend dem gestischen Prinzip - zu verfremden.


30<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Brecht beschreibt die Rolle der <strong>Musik</strong> in der Dreigroschenoper folgendermaßen:<br />

"Die <strong>Musik</strong> arbeitete so, gerade indem sie sich rein gefühlsmäßig gebärdete und auf keinen der<br />

üblichen narkotischen Reize verzichtete, an der Enthüllung der bürgerlichen Ideologien mit. Sie<br />

wurde sozusagen zur Schmutzaufwirblerin, Provokateurin und Denunziantin". 32<br />

Das ist richtig und falsch zugleich. Zweifellos gibt Weill seiner <strong>Musik</strong> den Gestus (die Gebärde) der Gefühlsseligkeit und komponiert<br />

eine vom schäbigen Kontext sich abhebende "schöne" <strong>Musik</strong>, um durch den Kontrast dem Zuschauer zu verdeutlichen, <strong>das</strong>s solche<br />

schönen Gefühle nur Masken sind, hinter denen sich handfeste Interessen verbergen, aber Weill sieht in seiner <strong>Musik</strong> mehr als nur<br />

eine Gefühlsfolie, von der der nüchterne Text sich um so provozierender abheben kann. Der Widerspruch liegt in vielfältiger Weise<br />

schon in der <strong>Musik</strong> selbst und zwar nicht nur - wie gezeigt - <strong>im</strong> Kontrast zwischen musikalischer Pr<strong>im</strong>ärstruktur und Instrumentation<br />

oder in der Verquickung von schlagerhaftem Gefühlston und kaufmännisch berechnendem Choralton. Weill geht weiter: Er setzt in<br />

seiner <strong>Musik</strong> zwei verschiedene musikalische Gefühls"gesten", die kunstmäßige und die schlagerhafte, und spricht durch deren<br />

scharfe Kontrastierung etwas Gesellschaftliches an - zum Brechtschen Gestus gehört die soziale D<strong>im</strong>ension <strong>im</strong>mer dazu -: <strong>das</strong><br />

"Oben" und "Unten". Aber auch die eigentliche Aussage der Dreigroschenoper, <strong>das</strong>s beides identisch ist - Macheath ist Räuber und<br />

Bürger, Polly Bürgermädchen und Räuberbraut - wird musik<strong>im</strong>manent ungewöhnlich differenziert umgesetzt. Weill entlarvt die<br />

bürgerliche Ideologie, indem er die beiden heterogenen Sphären (Wagner und Boston) nicht -wie in einer Collage - beziehungslos nebeneinanderstehen<br />

lässt, sondern vielfältig ineinanderarbeitet und einander angleicht: Der Lamentobass von T. 1 - 6 findet sich<br />

wieder in T. 32 - 35. Überhaupt weist die an manchen Stellen sehr komplizierte Harmonik auf den Wagner-Teil zurück. Es gibt auch<br />

motivische Anspielungen (siehe unten).<br />

Der "zärtliche" Höhepunkt der Melodie - fast ein Wagner-Zitat - trifft (<strong>im</strong> Sinne der Brechtschen Trennung der Elemente) mit dem<br />

zynischen Tiefpunkt des Textes zusammen: "Die Liebe dauert oder dauert nicht". Aber Weill genügt eine solche pauschale<br />

Rollenzuweisung <strong>für</strong> seine <strong>Musik</strong> nicht. Während der Text sich kontradiktorisch zum Wagnerschen Text ("ewig einig ohne End")<br />

verhält, webt die <strong>Musik</strong> in den Schlager Tristanmuster ein. Mit feinsinniger Ironie ist <strong>das</strong> "dauert nicht" gestaltet: Es entspricht<br />

diastematisch wörtlich dem "ohne End" bei Wagner, übern<strong>im</strong>mt aber von dem "originalen" Sehnsuchtsmotiv die Suspiratio-Pause<br />

und führt <strong>das</strong> wiederum ad absurdum, weil eigentlich nichts anderes geschieht, als <strong>das</strong>s <strong>das</strong> "dauert nicht" wörtlich in <strong>Musik</strong><br />

übersetzt wird. Der Anzüglichkeiten sind aber noch mehr. Der auffällige Dur-Moll-Wechsel (T. 38) verweist auf <strong>das</strong> romantische<br />

Klavierlied von Schubert, die Schlusswendung scheint sogar - in stockender Verfremdung - ein Schubertlied zu zitieren:<br />

Weill arbeitet also in dieser "Parodie" unter anderem mit dem Prinzip der<br />

"Überhöhung".<br />

Es würde zu kurz greifen, diese Art der Verfremdung nur in ihrer Funktion als<br />

Entlarvung verrotteter Gefühlsromantik und entleerter gesellschaftlicher<br />

Konventionen zu verstehen. Ein schematisches Anwenden der Brechtschen<br />

Theorie in Form von unentwegtem Aufzeigen von "V-Effekten" und deren<br />

ausschließliche Deutung <strong>im</strong> Sinne politischer und gesellschaftskritischer<br />

Funktion bleibt, so wichtig und unverzichtbar sie ist, hinter der Komplexität<br />

eines "Kunstwerks" zurück, und ein solches ist Weills Komposition. Man sollte<br />

solche Verfremdungsverfahren auch <strong>im</strong> Sinne der romantischen Ironie (etwa<br />

eines Heine) begreifen. Die unsent<strong>im</strong>entale, ironische Distanz zu Gefühlen, ja<br />

<strong>das</strong> Lachen über Gefühle, ist auch eine Methode, ihnen nachzugeben. Im vorliegenden Falle handelt es sich um eine Gratwanderung,<br />

bei der es sehr von der Interpretation durch die Schauspieler und <strong>Musik</strong>er abhängt, ob man den zweiten Teil dieses Liebesduetts eher<br />

als zuckersüße Parodie rezipiert oder darin auch einen echten menschlichen Unterton von Zärtlichkeit, von Sehnsucht nach<br />

romantischer Liebe vern<strong>im</strong>mt. Für letzteres könnte auch sprechen, <strong>das</strong>s die zentrale Stelle "Die Liebe dauert oder dauert nicht an dem<br />

oder jenem Ort" bei ihrem nochmaligen Auftreten in Nr. 11a in der kargen Begleitung (Gitarre mit einfachen gebrochenen<br />

Dreiklängen der Hauptstufen) nach Art der gefrorenen Gefühlsgesten <strong>im</strong> Walzer von Strawinskys Petruschka aller Romantik<br />

entkleidet wird und zwar deshalb, weil dort Macheath Polly endgültig verlässt.<br />

Boris Sindermann vergleicht die Verquickung von Ironie und Ernst mit dem Eisensteinschen Begriff der Vertikalmontage und<br />

konstatiert: "Die Dreigroschenoper ist nicht nur die nüchternste Verspottung der zwanziger Jahre, sondern auch <strong>das</strong> gefühlvollste und<br />

innigste Werk jener Zeit". 33 Das Verhältnis von m<strong>im</strong>etischem und gestischem Prinzip ist also komplexer, als es nach der<br />

provokant-pointierten Theorie scheinen mag. Das Liebeslied ist eine Montage und gleichzeitig nach dem ästhetischen Prinzip des<br />

Zusammenhangs vielfältig verklammert. Weill bürstet die <strong>Musik</strong> gegen den Strich der üblichen Verschmelzung von Wort und Ton<br />

und findet doch zugleich eindringlich suggestive Formulierungen, die den herkömmlichen Verfahren der Semantisierung folgen.<br />

Zwei abschließende Beispiele <strong>für</strong> solch ambivalente Bedeutungskonstituierung:<br />

- Die stockenden Pausen (s. o.) sind auch tristanhafte Sehnsuchtsgesten,<br />

<strong>das</strong> zeigt besonders der "Überbrückungsversuch" in T. 29/30.<br />

- Die Stelle "Die Liebe dauert oder dauert nicht" ist auch eine (<strong>im</strong><br />

Schubertschen Sinne) textverdeutlichende Mollversion des "Wohin du<br />

gehst, will ich auch hingehn" (siehe rechts).<br />

In diesem komplexen ästhetischen Anspruch der Weillschen <strong>Musik</strong> liegt<br />

zweifellos ein wichtiger Dissenspunkt zwischen Weill und Brecht, der<br />

ihre gemeinsame Arbeit auf wenige Jahre beschränkte. Die Wendung<br />

zum ideologisch fixierten, die Kunst instrumentalisierenden Lehrtheater hat Weill nicht mitvollzogen.<br />

"Es gibt keinen Unterschied zwischen ernster und leichter <strong>Musik</strong>. Für mich gibt es nur gute oder schlechte <strong>Musik</strong>." Kurt Weill<br />

32<br />

Csampai, Attila/Holland, Dietmar (Hg.):Bertold Brecht/Kurt Weill: Die Dreigroschenoper. Texte. Materialien. Kommentare,<br />

Reinbek 1983, S. 83<br />

33<br />

(Zit. nach: Hecht. Werner (Hg.): Brechts "Dreigroschenoper", Frankfurt 1985, S. 91


Weill: Die Dreigroschenoper<br />

DAS HOCHZEITSLIED FÜR ÄRMERE LEUTE<br />

Bill Lawgen und Mary Syer<br />

Wurden letzten Mittwoch Mann und Frau.<br />

Hoch sollen sie leben, hoch, hoch, hoch!<br />

Als sie drin standen vor dem Standesamt<br />

wusste er nicht, woher ihr Brautkleid stammt<br />

Aber sie wusste seinen Namen nicht genau.<br />

Hoch!<br />

Wissen Sie, was Ihre Frau treibt? Nein!<br />

Lassen Sie Ihr Lüstlingsleben sein? Nein!<br />

Hoch sollen sie leben, hoch, hoch, hoch!<br />

Billy Lawgen sagte neulich mir:<br />

Mir genügt ein kleiner Teil von ihr!<br />

Das Schwein. Hoch!<br />

MAC: Ist <strong>das</strong> alles? Kärglich!<br />

MATTHIAS verschluckt sich wieder: Kärglich, <strong>das</strong> ist <strong>das</strong><br />

richtige Wort, meine Herren, kärglich.<br />

MAC: Halt die Fresse!<br />

MATTHIAS: Na, ich meine nur, kein Schwung, kein Feuer und<br />

so was.<br />

Polly: Meine Herren, wenn keiner etwas vortragen will, dann<br />

will ich selber eine Kleinigkeit zum besten geben, und<br />

zwar werde ich ein Mädchen nachmachen, <strong>das</strong> ich einmal<br />

in einer dieser kleinen Vier-Penny-Kneipen in Soho<br />

gesehen habe. Es war <strong>das</strong> Abwaschmädchen, und Sie<br />

müssen wissen, <strong>das</strong>s alles über sie lachte und <strong>das</strong>s sie dann<br />

die Gäste ansprach und zu ihnen solche Dinge sagte, wie<br />

ich sie Ihnen gleich vorsingen werde. So, <strong>das</strong> ist die kleine<br />

Theke, Sie müssen sie sich verdammt schmutzig<br />

vorstellen, hinter der sie stand morgens und abends. Das ist<br />

der Spüle<strong>im</strong>er und <strong>das</strong> ist der Lappen, mit dem sie die<br />

Gläser abwusch. Wo Sie sitzen, saßen die Herren, die über<br />

sie lachten. Sie können auch lachen, <strong>das</strong>s es genauso ist;<br />

aber wenn Sie nicht können, dann brauchen Sie es nicht.<br />

Sie fängt an, scheinbar die Gläser abzuwaschen und vor<br />

sich hin zu babbeln. Jetzt sagt zum Beispiel einer von<br />

Ihnen, auf Walter deutend Sie: Na, wann kommt denn dein<br />

Schiff, Jena?<br />

WALTER: Na, wann kommt denn dein Schiff, Jenny?<br />

Polly: Und ein anderer sagt, zum Beispiel Sie: Wäschst du<br />

<strong>im</strong>mer noch die Gläser auf, du Jenny, die Seeräuberbraut?<br />

MATTHIAS: Wäschst du <strong>im</strong>mer noch die Gläser auf, du Jenny,<br />

die Seeräuberbraut?<br />

Polly: So, und jetzt fange ich an.<br />

Songbeleuchtung: goldenes Licht. Die Orgel wird illuminiert.<br />

An einer Stange kommen von oben drei Lampen herunter und<br />

auf den Tafeln steht:<br />

DIE SEERÄUBER-JENNY<br />

1<br />

Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen<br />

Und ich mache <strong>das</strong> Bett <strong>für</strong> jeden.<br />

Und Sie geben mir einen Penny und ich bedanke mich schnell<br />

Und sehen Sie meine Lumpen und dies lumpige Hotel<br />

Und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden.<br />

Aber eines Abends wird ein Geschrei sein am Hafen<br />

Und man fragt: Was ist <strong>das</strong> <strong>für</strong> ein Geschrei?<br />

Und man wird mich lächeln sehn bei meinen Gläsern<br />

Und man sagt: Was lächelt die dabei?<br />

Und ein Schiff mit acht Segeln<br />

Und mit fünfzig Kanonen<br />

Wird liegen am Kai.<br />

31<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

2<br />

Und man sagt: Geh, wisch deine Gläser, mein Kind<br />

Und man reicht mir den Penny hin.<br />

Und der Penny wird genommen und <strong>das</strong> Bett wird gemacht.<br />

(Es wird keiner mehr drin schlafen in dieser Nacht)<br />

Und Sie wissen <strong>im</strong>mer noch nicht, wer ich bin.<br />

Denn an diesem Abend wird ein Getös sein am Hafen<br />

Und man fragt: Was ist <strong>das</strong> <strong>für</strong> ein Getös?<br />

Und man wird mich stehen sehen hinterm Fenster<br />

Und man sagt: Was lächelt die so bös?<br />

Und <strong>das</strong> Schiff mit acht Segeln<br />

Und mit fünfzig Kanonen<br />

3<br />

Meine Herren, da wird wohl ihr Lachen aufhören<br />

Denn die Mauern werden fallen hin<br />

Und die Stadt wird gemacht dem Erdboden gleich<br />

Nur ein lumpiges Hotel wird verschont von jedem Streich<br />

Und man fragt: Wer wohnt Besonderer darin?<br />

Und in dieser Nacht wird ein Geschrei um <strong>das</strong> Hotel sein<br />

Und man fragt: Warum wird <strong>das</strong> Hotel verschont?<br />

Und man wird mich sehen treten aus der Tür gen Morgen<br />

Und man sagt: Die hat darin gewohnt?<br />

Und <strong>das</strong> Schiff mit acht Segeln<br />

Und mit fünfzig Kanonen<br />

Wird beflaggen den Mast.<br />

4<br />

Und es werden kommen hundert gen Mittag an Land<br />

Und werden in den Schatten treten<br />

Und fangen einen jeglichen aus jeglicher Tür<br />

Und legen ihn in Ketten und bringen vor mir<br />

Und fragen: Welchen sollen wir töten?<br />

Und an diesem Mittag wird es still sein am Hafen<br />

Wenn man fragt, wer wohl sterben muss.<br />

Und dann werden Sie mich sagen hören: Alle!<br />

Und wenn dann der Kopf fällt, sag ich: Hoppla!<br />

Und <strong>das</strong> Schiff mit acht Segeln<br />

Und mit fünfzig Kanonen<br />

Wird entschwinden mit mir.<br />

MATTHIAS: Sehr nett, ulkig, was? Wie die <strong>das</strong> so hinlegt, die<br />

gnädige Frau!<br />

MAC: Was heißt <strong>das</strong>, nett? Das ist doch nicht nett, du Idiot! Das<br />

ist doch Kunst und nicht nett. Das hast du großartig<br />

gemacht, Polly. Aber vor solchen Dreckhaufen,<br />

entschuldigen Sie, Hochwürden, hat <strong>das</strong> ja gar keinen<br />

Zweck. Leise zu Polly: Übrigens, ich mag <strong>das</strong> gar nicht bei<br />

dir, diese Verstellerei, lass <strong>das</strong> gefälligst in Zukunft.


Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Ballade der Senta in Wagners "Der fliegende Holländer"<br />

Es geht um die Begegnung mit der Geisterwelt. Das junge Mädchen begegnet ihr nicht direkt, sondern über die Ballade, die ihre<br />

Amme Mary ihr <strong>im</strong>mer vorgesungen hat, und über ein an der Wand hängendes Bild des Fliegenden Holländers. Sie singt die Ballade<br />

nun selbst und verliert sich so intensiv in der Suggestion, <strong>das</strong>s sie selbst sich als die ‚Erlöserin‘ sieht.<br />

Wie be<strong>im</strong> „Fremd bin ich eingezogen“ zu Beginn von Schuberts Winterreise fällt die Melodie wie ein Verhängnis herunter. Viermal<br />

wiederholt sich der Vorgang (T. 16-23). Dre<strong>im</strong>al wiederholt sich auch (T. 24-32) der Riesenseufzer d‘‘–cis‘‘ in der rezitativisch<br />

gehaltenen Passage der Singst<strong>im</strong>me.<br />

Die Senta-Ballade enthält viele traditionelle Gestaltungs- und Ausdrucksfiguren: :<br />

- geisterhaft leere Quinten (z. B.: Geisterruf: hoe!)<br />

- Naturtöne (leere Klänge und Dreiklangbrechungen). In T. 38-45 ist die Melodik rein pentatonisch und wirkt wegen der<br />

fehlenden ‚Leittöne‘ besonders schwebend.<br />

- Tremoli (als ‚Zitter‘- und Schreckensfiguren)<br />

- Dissonanzfiguren (z. B. verm. Septakkord als ‚Schmerz‘figur)<br />

- fallende Chromatik (speziell die Lamentofigur <strong>im</strong> Quartrahmen: d-cis-c-h-b-a in T. 32-35 oder T. 1-8); der Bassgang dieser<br />

Stellen ist die phrygische Kadenz g-f-(e)-es-d-<br />

- tonmalerischen Tiratafiguren (schnelle skalische Bewegungen - ‚wie ein Pfeil‘-, die in T. 24 ff. den Sturm, die Wellen und<br />

überhaupt die ganze unhe<strong>im</strong>liche Szenerie darstellen. Sie stehen hier <strong>im</strong> Tritonusrahmen (T. 24/25), der ja <strong>im</strong>mer<br />

‚Teufelszeug‘ anzeigt.<br />

- verschiedene harmonische Plateaus <strong>für</strong> unterschiedliche Wirklichkeitsebenen: <strong>das</strong> B-Dur (Mediante 34 nach dem<br />

vorhergehenden D-Dur-Klang) als Ebene der Erlösung.<br />

Senta ist durch Ihre Verfallenheit an die Erlösungs-Idee der realen sozialen Umwelt entrückt. Die Enge der Spinnstube und die<br />

biedermeierliche Harmlosigkeit des volksliedhaften Spinnerliedes mit seinen Terzenparallelen und Dreiklangstönen passen nicht zu<br />

ihr.<br />

Meyers Konversationslexikon von 1888-1890:<br />

„Licht- oder Spinnstuben sind Orte einer sehr lebendigen dörflichen Kultur, die darauf abzielte, Arbeit und Leben<br />

miteinander zu versöhnen. Die Spinnstube wird abwechselnd auf dem einen oder anderen Hof abgehalten, die Frauen und<br />

Mädchen spinnen, die Burschen machen <strong>Musik</strong>, oder es werden Volkslieder gesungen, Hexen- und Gespenstergeschichten<br />

erzählt und allerlei Kurzweil dabei getrieben.“<br />

34<br />

Medianten sind in der Romantik Mittel der Transzendierung. Ein frühes Beispiel ist in Beethovens 9. Sinfonie die Stelle „und der Cherub steht vor<br />

(A-Dur) / Gott (F-Dur). Es ist, als ob ein Vorhang weggezogen und eine neue D<strong>im</strong>ension sichtbar wird.<br />

32


Richard Wagner: der Fliegende Holländer (1843)<br />

CHOR DER MÄDCHEN<br />

Ach! möchtest du, bleicher Seemann, sie sie<br />

finden!<br />

Betet zum H<strong>im</strong>mel!<br />

SENTA Vor Anker alle sieben Jahr',<br />

ein Weib zu frei'n geht er ans Land: —<br />

Er freite alle sieben Jahr' ...<br />

noch nie ein treues Weib er fand!<br />

(mit zunehmender Exaltation)<br />

Hui! «Die Anker los!» Johohe! Hojohe!<br />

Hui! «Die Segel auf!» Johohe! Hojohe!<br />

Hui! «Falsche Lieb'! Falsche Treu'!<br />

Auf in See! Ohne Rast! Ohne Ruh'!»<br />

(Sie sinkt wie erschöpft zurück. Lange Pause.)<br />

CHOR DER MÄDCHEN<br />

Ach! wo weilt sie, die dir Gottes Engel einst<br />

könne zeigen?<br />

Wo triffst du sie, die bis in den Tod dein bliebe<br />

treueigen?<br />

SENTA (von plötzlicher Begeisterung hingerissen)<br />

Ich sei's, die dich durch ihre Treu' erlöset!<br />

Mög' Gottes Engel mich dir zeigen!<br />

(mit Kraft)<br />

Durch mich sollst du <strong>das</strong> Heil erreichen!<br />

(Erik ist eingetreten.)<br />

CHOR DER MÄDCHEN (erschrocken aufspringend)<br />

Hilf, H<strong>im</strong>mel' Senta! Senta!<br />

MARY Hilf, H<strong>im</strong>mel! Senta!<br />

ERIK Senta! Senta! Willst du mich verderben?<br />

CHOR DER MÄDCHEN<br />

Helft, Erik, uns! Sie ist von Sinnen!<br />

33<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

MARY Ich fühle mir <strong>das</strong> Blut gerinnen! Abscheulich<br />

Bild, du sollst hinaus! Kommt nur der Vater erst<br />

nach Haus!<br />

ERIK (düster)<br />

Der Vater kommt.<br />

SENTA (die in ihrer letzten Stellung verblieben und von<br />

allem nichts vernommen hatte, wie erwachend<br />

und freudig auffahrend)<br />

Der Vater kommt!<br />

ERIK Vom Felsen sah sein Schiff ich nahn.<br />

CHOR DER MÄDCHEN (voll Freude)<br />

Sie sind dahe<strong>im</strong>!<br />

MARY (außer sich)<br />

Nun seht, zu was <strong>das</strong> Treiben frommt!<br />

Im Hause ist noch nichts getan!<br />

CHOR DER MÄDCHEN<br />

Auf, eilt hinaus!<br />

MARY (die Mädchen zurückhaltend)<br />

Halt! Halt! Ihr bleibet fein <strong>im</strong> Haus!<br />

Das Schiffsvolk kommt mit leerem Magen; in<br />

Küch' und Keller säumet nicht!<br />

Lasst euch nur von der Neugier plagen! Vor<br />

allem geht an eure Pflicht!<br />

CHOR DER MÄDCHEN<br />

Ach! wie viel hab' ich ihn zu fragen! Ich<br />

halte mich vor Neugier nicht!<br />

Schon gut! Sobald nur aufgetragen,<br />

hält hier uns länger keine Pflicht.<br />

( Mary hat die Mädchen hinausgetrieben und ist<br />

ihnen gefolgt.)


Erinnerungs-Motive:<br />

1-4: Holländermotiv<br />

8-9: Motiv der Irrfahrt (Wogenmotiv)<br />

38 ff.: Erlösungsmotiv<br />

http://www.youtube.com/watch?v=AX1kHnZ9wmM<br />

34<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012


Wagner beschreibt in seiner „Mitteilung an meine Freunde“,<br />

wie er <strong>im</strong> Ringen um den neuen Menschen, dem „wahrhaft<br />

Weiblichen“ auf die Spur gekommen ist, <strong>das</strong> die überkommene<br />

starre Rollenverteilung von Mann und Frau überwindet: „…<strong>das</strong><br />

Weib…hat mich zum vollständigen Revolutionär gemacht …<br />

dies Weib ist aber nicht mehr die he<strong>im</strong>atlich sorgende, vor<br />

Zeiten gefeierte Penelope des Odysseus, sondern es ist <strong>das</strong><br />

Weib überhaupt, aber <strong>das</strong> noch unvorhandene, ersehnte,<br />

geahnte, unendlich weibliche Weib, - sage ich es mit einem<br />

Worte heraus: <strong>das</strong> Weib der Zukunft.“<br />

In Wagners berühmtem „Ring des Nibelungen“ ist es<br />

schließlich diese neue heroisch-liebende Frauengestalt,<br />

Brünnhilde, die die alten Götter und selbst den Tod ihres<br />

geliebten Mannes Siegfried überwindet und so den neuen<br />

Anfang der Menschheit ermöglicht.<br />

http://www.musl<strong>im</strong>a-aktiv.de/mannufraumedina.htm<br />

Eine in etwa vergleichbare Funktion hat Polly bzw. die von ihr<br />

‚gespielte‘ Jenny in Weills Dreigroschenoper. Überhaupt lässt<br />

sich die „Seeräuberjenny“ als ‘Parodie‘ (<strong>im</strong> positiven Sinne) der<br />

Spinnstubenszene und Sentaballade aus dem „Fliegenden<br />

Holländer“ verstehen.<br />

Videos:<br />

Lotte Lenya <strong>im</strong> Film von 1931<br />

http://www.youtube.com/watch?v=Ec0clERjQ5A<br />

Hildegard Knef:<br />

http://www.youtube.com/watch?v=ur1FUA26ooQ<br />

35<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012


36<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Senta und Jenny haben gemeinsam, <strong>das</strong>s sie sich mit ihrer Situation bzw. Rolle (als eines der vielen Mädchen in der Spinnstube, die<br />

ihren ‚häuslichen‘ Pflichten nachgehen, bzw. als Abwaschmädchen in einer billigen Kneipe <strong>im</strong> Dirnenviertel von London) nicht<br />

abfinden: Beide träumen von dem ‚Erlöser‘, der aus den Weiten des Meeres kommt.<br />

Sentas Lebenswelt wird von Wagner durch den Volksliedton und die realistischen Drehfiguren des Orchesters adäquat abgebildet,<br />

die Jennys wird von Weill <strong>im</strong> Stil der vom Jazz angehauchten Tanzmusik der 20er Jahre realitätsgetreu gestaltet.<br />

Allerdings wird der Tanzmusikstil verfremdet in Richtung auf die aktuelle Kunstmusik (Strawinsky, Bartók). An die Stelle der<br />

Kadenz treten teilweise längere Klangflächenpassagen, die hin und her geschoben werden. Sekundschärfungen sind die Regel.<br />

Am Anfang steht eine c-Moll-Fläche. In T. 6 wird sie abgelöst von der ‚Dominante‘ G, die aber gekoppelt ist mit F. In dieser<br />

Doppelfunktion (D + S) hört man die alte Kadenz noch durch. Die Rückung nach es-Moll (gekoppelt mit As) in T. 9 ist allerdings<br />

nicht mehr als logischer Kadenzschritt zu hören. In T. 11-14 konstituiert sich aber mit dem Quintsextakkord auf as (als<br />

Subdominante von es-Moll) ein deutliches Kadenzierungsgefühl, <strong>das</strong> dann auch mit der Dominate B und deren Auflösung nach es-<br />

Moll (T. 15) bestätigt, zugleich aber wieder in Frage gestellt wird durch <strong>das</strong> „Des“ <strong>im</strong> Bass.<br />

Ganz anders verhält es sich in der ‚Traumszene‘ (T. 22-26).<br />

- Hier gibt es nur ‚reine‘ Akkorde und eine klare Kadenzierung: h-Moll mit phrygischer Wendung (e 6 �Fis). Dieses ‚Fis‘ ist<br />

allerdings ein terzloser ‚Geister‘-Klang, der ziemlich deutlich auf entsprechende Stellen in Loewes Erlkönig und Wagners<br />

Sentaballade verweist.<br />

- Das Tempo ist „breit‘, die Akkorde sind lang, die durch rhythmische Patterns gequantelte Zeit <strong>im</strong> ersten Teil weicht einem<br />

anderen Zeitgefühl. Das piano unterstützt die Vorstellung des Wechsels der D<strong>im</strong>ension.<br />

Die Spannung zwischen realer Situation und Vision verdeutlich die Tritonusspannung c-fis (vgl. T. 1, 26, 27).<br />

Sie kommt auch in dem unterschiedlichen Gesangsstil zum Ausdruck. In den Strophen herrscht ein engmelodischer Rezitativstil vor,<br />

den Refrain charakterisiert eine ausgreifende melodische Linie. Wichtig ist die Notation in T. 12/13. Die hohlen Notenköpfe<br />

verweisen auf den von Schönberg <strong>im</strong> "Pierrot lunaire" geprägten Stil der „Sprechmelodie“, die nicht gesungen, sondern halb<br />

gesprochen werden soll. Auch <strong>das</strong> bedeutet eine Annäherung an die Realität.<br />

Be<strong>im</strong> Vergleich verschiedener Interpretationen ist es interessant, wie weit die Interpretinnen hier gehen. Carola Neher (1929)<br />

gestaltet die ganze Partie <strong>im</strong> Sinne der Diseusen (Vortragskünstlerinnen), die in den damals beliebten Melodramen auftraten.<br />

Kurt Weill über seine Opernintentionen:<br />

Das neue Operntheater, <strong>das</strong> heute entsteht, hat epischen Charakter. Es will nicht schildern, sondern berichten. Es will seine<br />

Handlung nicht mehr nach Spannungsmomenten formen, sondern es will vom Menschen erzählen, von seinen Taten und<br />

dem, was ihn dazu treibt. Die <strong>Musik</strong> <strong>im</strong> neuen Operntheater verzichtet darauf, die Handlung von innen her aufzupumpen, die<br />

Übergänge zu verkitten, die Vorgänge zu untermalen, die Leidenschaften hochzutreiben. Sie geht ihren eigenen, grossen,<br />

ruhigen Weg, sie setzt erst an den statistischen Momenten der Handlung ein...<br />

Das Theater der vergangenen Epoche war <strong>für</strong> Genießende geschrieben. Es wollte seinen Zuschauer kitzeln, erregen,<br />

aufpeitschen, umwerfen. Es rückte <strong>das</strong> Stoffliche in den Vordergrund und verwandte auf die Darstellung eines Stoffes alle<br />

Mittel der Bühne vom echten Gras bis zum laufenden Band.(....) Die andere Form des Theaters, die sich heute durchzusetzen<br />

beginnt, rechnet mit einem Zuschauer, der in der ruhigen Haltung des denkenden Menschen den Vorgängen folgt und der, da<br />

er ja denken will, eine Beanspruchung seiner Genussnerven als Störung empfinden muss. Dieses Theater will zeigen, was der<br />

Mensch tut. (...) Dieses Theater ist <strong>im</strong> stärksten Masse unromantisch. Denn "Romantik" als Kunst schaltet <strong>das</strong> Denken aus,<br />

sie arbeitet mit narkotischen Mitteln, sie zeigt den Menschen nur <strong>im</strong> Ausnahmezustand, und in ihrer Blütezeit (bei Wagner)<br />

verzichtet sie überhaupt auf die Darstellung des Menschen.<br />

Wenn man diese beiden Formen des Theaters auf die Oper anwendet, so zeigt sich, <strong>das</strong>s der Komponist heute seinem Text<br />

gegenüber nicht mehr die Stellung des Genießenden einnehmen darf. In der Oper des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts<br />

bestand die Aufgabe der <strong>Musik</strong> darin, St<strong>im</strong>mungen zu erzeugen, Situationen zu untermalen und dramatische Akzente zu<br />

unterstreichen.<br />

Nur die Oper verharrt noch in ihrer "splendid isolation". Noch <strong>im</strong>mer stellt <strong>das</strong> Opernpublikum eine abgeschlossene Gruppe<br />

von Menschen dar, die scheinbar außerhalb des großen Theaterpublikums stehen. Noch <strong>im</strong>mer werden "Oper"' und „Theater“<br />

als zwei völlig getrennte Begriffe behandelt. Noch <strong>im</strong>mer wird in neuen Opern eine Dramaturgie durchgeführt, eine Sprache<br />

gesprochen, werden Stoffe behandelt, die auf dem Theater dieser Zeit völlig undenkbar wären. (...) Die Oper ist als<br />

aristokratische Kunstgattung begründet worden, und alles, was man "Tradition der Oper" nennt, ist eine Betonung dieses<br />

gesellschaftlichen Grundcharakters dieser Gattung. (...)<br />

Was wir machen wollten, war die Urform der Oper. Bei jedem musikalischen Bühnenwerk taucht von neuem die Frage auf.<br />

Wie ist <strong>Musik</strong>, wie ist vor allem Gesang <strong>im</strong> Theater überhaupt möglich? Diese Frage wurde hier einmal auf die pr<strong>im</strong>itivste<br />

Art gelöst. Ich hatte eine realistische Handlung, musste also die <strong>Musik</strong> dagegensetzen, da ich ihr jede Möglichkeit einer<br />

realistischen Wirkung abspreche. So wurde also die Handlung unterbrochen, um <strong>Musik</strong> zu machen, oder sie wurde bewusst<br />

zu einem Punkte geführt, wo einfach gesungen werden musste. (...)<br />

Dieses Zurückgehen auf eine pr<strong>im</strong>itive Opernform brachte eine weitgehende Vereinfachung der musikalischen Sprache mit<br />

sich. Es galt eine <strong>Musik</strong> zu schreiben, die von Schauspielern, also von musikalischen Laien gesungen werden kann.<br />

Wie kommen mit der Dreigroschenoper an ein Publikum heran, <strong>das</strong> uns entweder gar nicht kannte oder <strong>das</strong> uns jedenfalls die<br />

Fähigkeit absprach, einen Hörerkreis zu interessieren, der weit über den Rahmen des <strong>Musik</strong>- und Opernpublikums<br />

hinausgeht.<br />

David Drew (Hg.): Kurt Weill. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a/M 1975 pass<strong>im</strong><br />

Vgl. auch http://www.wisskirchen-online.de/downloads/weillalabamasong.pdf


Nationalhymnen<br />

37<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Arnold Schering:<br />

Die außerordentliche Kraft der <strong>Musik</strong>, Menschen untereinander zu binden, ist nicht selten zur Kraft des Religiösen in Vergleich<br />

gesetzt worden (Luther). Als Kultmusik, etwa in der Form kirchlichen Gemeindegesangs oder musikalischer Liturgie, schließt sie in<br />

der Tat die Anhänger gleichen Bekenntnisses mit ähnlicher Festigkeit zusammen wie <strong>das</strong> Dogma selbst (gregorianischer,<br />

evangelischer Choral). Da ihr innerstes Wesen Ausdruck und ihre Ausübung als Gesang jedem Menschen gegeben ist, wird sie,<br />

meist in Verbindung mit dem Wort, überall da herbeigerufen, wo große Gemeinschaften gleiches Fühlen zum Ausdruck bringen<br />

wollen. Als Kriegs- und Soldatenmusik, als patriotisches Lied, als Fest- und Huldigungsgesang, als tönender Wappenspruch von<br />

Körperschaften und Parteien wirkt ihre Kraft über Raum und Zeit hinaus auf ungezählte Massen, nicht selten, indem sie die<br />

Leidenschaft ins Große steigert. Auch andere überzeitliche Bindungen vermittelt <strong>Musik</strong>: <strong>das</strong> Bekenntnis zur<br />

Stammesverwandtschaft, zur nationalen Zusammengehörigkeit (deutscher Männergesang), zur Gemeinschaft <strong>im</strong> Schicksal. (...)<br />

Geschlossener Chorgesang hat von je als soziologisches Widerspiel gemeinsamen Fühlens und Denkens gegolten, schon aufgrund<br />

des gemeinsam gebrachten Textes. Vom musikalischen Standpunkt aus lassen sich aber vier eigentümliche Geisteshaltungen dabei<br />

unterscheiden, denen ebensoviel Stile entsprechen. Ein erster Fall ergibt sich, wenn die Bindung zum gemeinsamen Singen<br />

außerhalb der ästhetischen Sphäre liegt wie be<strong>im</strong> Massengesang eines Chorals, eines Vaterlandsliedes. Hier stellt sich von selbst der<br />

gleichmäßig unisone (oder durch Parallelen unterstrichene quasi-unisone) Gesang ein. Das singende Individuum geht in der<br />

Gesamtheit unter, und ebenso verschwindet <strong>das</strong> Tonwerk als ästhetisches Objekt hinter seiner Bedeutung als Träger eines<br />

Gesamtwillens. Dies Singen ist füglich ein kollektivistisches.<br />

<strong>Musik</strong> und Gesellschaft 1931. In: A. Sch: Vom Wesen der <strong>Musik</strong>, hg. von Karl Michael Komma, Stuttgart 1974, S. 27 u. 31<br />

Die Semantik von Fanfaren-Melodik und skalischer Melodik<br />

Der wilde Wassermann (Nordböhmen 1813)<br />

2. Sie hörte drunten Glocken gehn<br />

<strong>im</strong> tiefen, tiefen See,<br />

wollt' Vater und Mutter wiedersehn,<br />

die schöne junge Lilofee.<br />

3. Und als sie vor dem Tore stand<br />

Auf der Burg wohl über dem See,<br />

da neigt sich Laub und grünes Gras<br />

vor der schönen jungen Lilofee.<br />

4. Und als sie aus der Kirche kam<br />

von der Burg wohl über dem See,<br />

da stand der wilde Wassermann<br />

vor der schönen jungen Lilofee.<br />

5. "Sprich, willst du hinuntergehn mit mir<br />

von der Burg wohl über dem See?<br />

Deine Kindlein unten weinen nach dir,<br />

du schöne junge Lilofee.<br />

6. "Und eh ich die Kindlein weinen lass<br />

<strong>im</strong> tiefen, tiefen See,<br />

scheid ich von Laub und grünem Gras,<br />

ich arme junge Lilofee."


Amerikanische Nationalhymne<br />

Oh, say, can you see, by the dawn's early light,<br />

What so proudly we hailed at the twilight's last gleaming?<br />

Whose stripes and bright stars, thro' the perilous fight,<br />

O'er the ramparts we watch'd, were so gallantly streaming?<br />

And the rocket's red glare, bombs bursting in air,<br />

Gave proof thro' the night that our flag was still there.<br />

Oh, say, does the star-spangled banner still wave<br />

O'er the land of the free and the home of the brave?<br />

38<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

O sagt, könnt ihr sehen <strong>im</strong> Morgenlicht, was so stolz<br />

wir begrüßt in der Abenddämmerung letztem Glänzen?<br />

Dessen Streifen und helle Sterne, die be<strong>im</strong> gefährlichen Kampf<br />

über den Wällen, die wir bewachten, so prächtig hinzogen?<br />

Und der Raketen grell-roter Glanz, die berstenden Bomben,<br />

zeigten uns während der Nacht, <strong>das</strong>s unsere Flagge noch da war.<br />

O sagt, weht <strong>das</strong> Sternenbanner noch<br />

über dem Land der Freien und dem He<strong>im</strong> der Tapferen?<br />

Den Text des >Star-Spangled Banner< schrieb während des englisch-amerikanischen Krieges 1814 der Rechtsanwalt Francis Scott<br />

Key (1780-1843), Freiwilliger bei der Leichten Artillerie. Als Unterhändler auf einem britischen Schiff festgehalten, sah er nach<br />

fünfundzwanzigstündiger Beschießung <strong>im</strong> Morgengrauen des 14. September <strong>das</strong> Sternenbanner über Fort Henry bei Balt<strong>im</strong>ore noch<br />

<strong>im</strong>mer wehen; unter diesem Eindruck ist <strong>das</strong> Gedicht verfasst. Die Melodie stammt von dem englischen Lied >To Anacreon in<br />

Heaven< 35 von John Stafford Smith (1750-1836), <strong>das</strong> damals in Nordamerika sehr verbreitet war und um 1780 entstanden ist; es war<br />

<strong>das</strong> Klublied der von etwa 1772 bis etwa 1792 bestehenden >Anacreontic Society< in London. Im Laufe der Jahre erfuhr <strong>das</strong> Lied<br />

mehrere Veränderungen. Eine antibritische Strophe wurde ausgelassen und auch die Melodie, die ursprünglich stärker <strong>im</strong> heroischen<br />

Stil von >Rule Britannia< gehalten war, wurde überarbeitet. Präsident Wilson erklärte 1916 dieses Lied zur Nationalhymne, als die<br />

es 1931 vom Kongress bestätigt wurde. Volkstümliches Nationallied der USA ist daneben der >Yankee Doodle< (>A Yankee boy is<br />

tr<strong>im</strong> and tall


39<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Die schraffierten Flächen kennzeichnen die akkordmelodisch gefüllten Tonräume, die grauen die skalenmelodisch gefüllten.<br />

Folie aus dem Unterricht:<br />

Der 1. Teil der amerikanischen Hymne wird <strong>im</strong>mer von der Mehrzahl der Schüler - allein aufgrund der Notenanalyse und der<br />

einst<strong>im</strong>migen Realisation - als mächtige Demonstration der (militärischen) Stärke und des Stolzes, der tonräumlich und diastematisch<br />

davon ganz 'abgehobene' 2. Teil als gefühlvoll (Geste: Hand aufs Herz) empfunden. Man kann diese Deutung der Gruppe an<br />

Einspielungen/Arrangements überprüfen, denen ja auch eine Deutung zugrunde liegt: In der Regel werden die beiden<br />

gegensätzlichen Gesten in ähnlicher Weise verstanden und durch Dynamik (starres f orte vs. piano und Schwelldynamik),<br />

Instrumentation (Blechbläser vs. Holzbläser bzw. große vs. kleine Besetzung) und Artikulation (portato/Stechschritt vs. legato) noch<br />

verdeutlicht. Der dritte Teil stellt in der Verbindung von Signalquart und Skalenausschnitten eine Art Synthese dar und inszeniert in<br />

dem treppenartigen Aufwärtsschreiten suggestiv den Höhepunkt, ein Vorgang, der in Einspielungen oft durch Fermaten und rit. noch<br />

verstärkt wird. Schaut man nun auf dem Text der Hymne, stellen die Schüler fest, <strong>das</strong>s er beide Komponenten anspricht, den Aspekt<br />

von Macht und Kampf in besonderem Maße, aber auch <strong>das</strong> Humane, die Idee der Freiheit. Die Melodie passt also genau zu Idee und<br />

Funktion des Textes. Was aber überhaupt nicht passt - darauf stoßen Schüler ganz von selbst -, ist, <strong>das</strong>s die kriegerischsten Passagen<br />

des Textes mit dem 'friedlichsten' Teil der Melodie zusammentreffen. Trotzdem zweifeln die Schüler nicht an der Richtigkeit ihrer<br />

semantischen Deutung der Melodie und sind dann ganz erleichtert, wenn sie erfahren, <strong>das</strong>s die Melodie älter ist als der Text und <strong>das</strong>s<br />

der Text nicht zu dieser Melodie, sondern als eigenständiges Gedicht verfasst wurde. Was allerdings auch als Detail gut passt, ist der<br />

Höhepunkt auf "free".<br />

Auch die „Wacht am Rhein“ und die französische Hymne sind von der Polarisierung von Dreiklangs/Fanfaren- und Skalen-(etwa<br />

Choral-)Melodik gekennzeichnet. In der französischen Hymne herrscht die <strong>für</strong> ein Revolutionslied passende militärisch straffe<br />

Fanfarenmelodik mit punktierter Rhythmik vor, in der englischen Hymne dagegen ein quasi religiöser Choralton (vgl. auch <strong>das</strong> "We<br />

shall overcome").<br />

In dem Volkslied "Es freit ein wilder Wassermann" verkörpern diese beiden Melodietypen den Unterschied zwischen der Wildheit<br />

und Macht des Naturgeistes und der Zartheit und Hilflosigkeit der schönen Lilofee (bzw. der gefühlvollen Anteilnahme an ihrem<br />

Schicksal).


Karl Wilhelm (1820-1873): Die Wacht am Rhein<br />

40<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Text. Max Schneckenberger<br />

('Kampfmittel' <strong>im</strong> deutsch-französischen Krieg 1870/71. Der Komponist erhielt <strong>für</strong> die Komposition eine Pension des Deutschen Reiches.)<br />

1. Es braust ein Ruf wie Donnerhall,<br />

Wie Schwertgeklirr und Wogenprall:<br />

zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!<br />

Wer will des Stromes Hüter sein?<br />

Lieb Vaterland, magst ruhig sein,<br />

Lieb Vaterland, magst ruhig sein;<br />

Fest steht und treu die Wacht,<br />

Die Wacht am Rhein.<br />

2. Durch Hunderttausend zuckt es schnell<br />

Und aller Augen blitzen hell;<br />

Der Deutsche, bieder, fromm und stark,<br />

Beschützt die heil'ge Landesmark.<br />

Lieb Vaterland ...<br />

3. Er blickt hinauf in H<strong>im</strong>melsau'n,<br />

Da Heldenväter niederschaun,<br />

und schwört mit stolzer Kampfeslust:<br />

Du Rhein bleibst deutsch wie meine Brust!<br />

Lieb Vaterland ...<br />

4. So lang ein Tropfen Blut noch glüht,<br />

Noch eine Faust den Degen zieht<br />

Und noch ein Arm die Büchse spannt,<br />

Betritt kein Feind hier deinen Strand!<br />

Lieb Vaterland ...<br />

5. Der Schwur erschallt, die Woge rinnt,<br />

Die Fahnen flattern hoch <strong>im</strong> Wind:<br />

Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein,<br />

Wir alle wollen Hüter sein!<br />

Lieb Vaterland ...<br />

Quelle:F. W. Sering (Hg.): Chorbuch <strong>für</strong> Gymnasien und<br />

Realschulen, Lahr 1882, S. 161f.<br />

Video: http://www.youtube.com/watch?v=zikcHn<strong>im</strong>sxk<br />

Film „Casablanca“, 1942, <strong>Musik</strong>-Max Steiner: 1:09 Quodlibet „Die Wacht am Rhein“ / “Marseillaise“<br />

http://www.youtube.com/watch?v=HM-E2H1ChJM


36<br />

In Beethovens 9. Sinfonie erscheint sie an der Stelle „und der Cherub steht vor �Gott“<br />

41<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Text und <strong>Musik</strong> der „Wacht am Rhein“ zeigen die fast schon übliche Verbindung von heldischem und gefühlsmäßigem Gestus, von<br />

Machtdemonstration und religiöser Weihe (“Gott mit uns).<br />

Das Unisono, die Fanfarenmelodik (Dreiklangsbrechungen), <strong>das</strong> Staccato, die Lautstärke (f, ff) und die marschmäßigen punktierten<br />

Rhythmen markieren den heldischen Charakter, die Skalen-Melodik, der choralartige harmonische Satz und <strong>das</strong> mf den Gefühlston.<br />

Sehr raffiniert ist auch die Raumdisposition. Wie in der amerikanischen Hymne steht am Anfang eine Figur des „Sich-Aufreckens“,<br />

die den fast den ganzen zur Verfügung stehenden Raum durchmisst. Der ruhige Mittelteil („Lieb Vaterland, magst ruhig sein“)<br />

bewegt sich in der Mittellage und ist harmonisch sehr schlicht gehalten. Erst <strong>im</strong> letzten Teil wird <strong>das</strong> Stück emotional stark<br />

aufgeladen. Der riesige skalische Aufstieg vom g‘ zum absoluten Spitzenton g‘‘ mündet zunächst in die Mediante E-Dur. Das ist ein<br />

romantisches Mittel der „Entrückung“ 36 . Die Steigerungsdynamik verstärkt diese Dramaturgie<br />

Quodlibet aus „Casablanca“<br />

In der französischen Hymne ist besonders die Mollwendung in T. 16-19 bemerkenswert. Sie korrespondiert mit dem schrecklichen<br />

Textinhalt, ist aber auch ein häufiges Ingrediens des Heldischen, zu dem ja <strong>das</strong> Tragische und <strong>das</strong> Überwinden von Hindernissen<br />

gehören.<br />

Video: http://www.youtube.com/watch?v=werf88C7lkA


42<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Marseillaise (Französische Nationalhymne, Revolutionshymne)<br />

Text und Melodie: Leutnant Claude-Joseph Rouget de Lisle, 1791, unmittelbar nach der Kriegserklärung Frankreichs an Österreich, <strong>das</strong> die<br />

Ausbreitung der Ideen der französischen Revolution verhindern wollte.<br />

1. Allons, enfants de la patrie!<br />

Le jour de gloire est arrivé!<br />

Contre nous de la tyrannie<br />

l'étendard sanglant est levé,<br />

l'étendard sanglant est levé.<br />

Entendez vous dans les campagnes<br />

mugir ces feroces soldats?<br />

Ils viennent jusque dans vos bras<br />

égorger vos fils, vos compagnes!<br />

Aux armes, citoyens!<br />

Formez vos bataillons:<br />

Marchons, marchons,<br />

qu'un sang <strong>im</strong>pur<br />

abreuve nos sillons!<br />

7. Amour sacré de la patrie,<br />

Conduis, soutiens nos bras vengeurs!<br />

Liberté, liberté chérie.<br />

Combats avec tes défenseurs!<br />

Combats avec tes défenseurs!<br />

Sous nos drapeaux, que la victorie<br />

Accoure à tes mâles accents!<br />

Que tes ennemis expirants<br />

Voient ton triomphe et notre gloire!<br />

Aux armes, citoyens, etc.<br />

1. Kommt, Kinder des Vaterlandes,<br />

der Tag des Ruhmes ist gekommen!<br />

Gegen uns hat sich <strong>das</strong> blutige Banner<br />

der Tyrannei erhoben!<br />

Hört ihr <strong>im</strong> Feld<br />

die blutgierigen Soldaten brüllen?<br />

Sie kommen, um in euren Armen<br />

unsere Söhne, unsere Frauen zu erwürgen.<br />

Zu den Waffen, Bürger,<br />

formt eure Bataillone!<br />

Wir wollen marschieren,<br />

damit <strong>das</strong> unreine Blut<br />

unsere Fluren tränkt.<br />

7. Heilige Liebe zum Vaterland,<br />

führe, stärke unsere Rächerarme!<br />

Freiheit, liebe Freiheit,<br />

kämpfe mit deinen Verteidigern.<br />

Komm unter unsere Fahne, damit der Sieg<br />

zu deinen mannhaften Tönen eilt,<br />

damit deine sterbenden Feinde<br />

deinen Triumph und unseren Ruhm sehen.<br />

Zu den Waffen, Bürger ...


43<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

J<strong>im</strong>i Hendrix: Star Spangled Banner II (Live-Version, Woodstock-Festival, Sept. 1969)<br />

Georg Rebscher: Materialien zum Unterricht in Popularmusik, Wiesbaden 1973, S. 133<br />

Protest gegen Vietnam-Krieg<br />

3:05 - 3:12: Einblendung der "Zapfenstreichfanfare", die damals<br />

sehr belastet war, weil sie allabendlich in Rundfunk und<br />

Fernsehen bei der Sendung erklang, in der neueste Waffen<br />

vorgeführt und die Namen der an diesem Tage gefallenen<br />

Soldaten verlesen wurden.<br />

Woodstock 1969: J<strong>im</strong>i Hendrix<br />

http://www.youtube.com/watch?v=u_k-6FLfDkM<br />

http://www.youtube.com/watch?v=edeZqCchIYg<br />

vgl.:<br />

Video: Mariah Carey:<br />

http://www.youtube.com/watch?v=Stkup89ArUo


Genauere Notation:<br />

44<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012


45<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Parodie: griech.: "Nebengesang", ein Lied verändert singen<br />

Parodie <strong>im</strong> negativen Sinne: etwas durch komische Verzerrung und Verfremdung lächerlich machen, verspotten: etwas "Erhabenes"<br />

"herunterziehen" (Verletzung des "Stilhöhengesetzes") oder etwas "Niedriges" "überhöhen" (z.B. einen Werbespot in die Form von<br />

Schillers "Glocke" kleiden). Funktionen bzw. Intentionen: Spaß, Ulk, Persiflage; Kritik, Provokation, Solidarisierung mit dem<br />

"Unten"<br />

Parodie <strong>im</strong> positiven Sinne (Pastiche): Umarbeitung eines vorliegenden Modells (einer fremden oder eigenen Komposition oder<br />

eines Stilmodells) zu etwas Neuem <strong>im</strong> Sinne der "aemulatio", des Wettstreits mit dem Vorbild. Ziel ist ein neues Kunstwerk, <strong>das</strong> evtl.<br />

dem Vorbild überlegen sein soll. Es gilt Fremdes in Eigenes zu verwandeln oder einfach aus Altem Neues zu machen. (Beispiele:<br />

Parodiemessen des 16. Jahrhunderts, Bachs Weihnachtsoratorium als Umarbeitung weltlicher Kantaten). Im weitesten Sinne ist<br />

Parodie ein Grundverfahren des <strong>Musik</strong>machen (<strong>Musik</strong> über <strong>Musik</strong>).<br />

Mögliche Interpretation des Hendrix-Stückes:<br />

Einst<strong>im</strong>mung der Zuhörer durch Festival- und Rockmusik-Ambiente, Hendrix-Sound etc., Vermittlung eines Wir-Gefühls,<br />

Solidarisierung mit dem Idol und seinen politischen Anschauungen<br />

Kritik an der Hymne als Symbol der Gesellschaft und Politik durch Diskrepanzerzeugung:<br />

- Kontrastierung der Hymne mit dem andersartigen Kontext (wobei die Kriegsgeräusche <strong>im</strong> Mittelteil zur Textaussage passen,<br />

nicht zum Gefühlston der Melodie) und<br />

- Verfremdung der Hymne<br />

Verfahren der Verfremdung:<br />

- Zerstörung der Hymne (Abbrechen, Auslassungen)<br />

- Konfrontation mit Fremdmaterial (Realitätsausschnitte: Kriegsgeräusche - pikanterweise gerade an der Textstelle "And the<br />

rocket's red glare, bombs bursting in air" -, Zapfenstreich-Zitat), "Collage"<br />

- Eingriffe in die Struktur (Dehnungen, Variantenbildungen)<br />

- Übertreibung von Merkmalen (gefühlig-weinerlicher Ton: vibrato; Überschreiten ästhetischer Grenzen, Verletzung von<br />

Konventionen und Normen, Entstellung der Hymne)<br />

- Distanzierung/Ironisierung: z.B. romantische Gefühlsgesten "einfrieren" durch Entstellung<br />

Alle diese Verfahren dienen dem Aufbrechen von Wahrnehmungsmustern, der Distanzierung/Ironisierung.<br />

Die Kritik erfolgt in künstlerischer Form, d. h.: sie geht über eine bloße inhaltliche (ungeformte) Meinungsäußerung hinaus. Es wird<br />

versucht, ästhetisch Wirkung zu erzielen und diese in politisch-gesellschaftliches Bewusstsein zu überführen. Es entsteht damit ein<br />

ästhetisches Problem: Wie lassen sich die heterogenen Materialien und Verfahren in einen in sich st<strong>im</strong>migen Zusammenhang<br />

bringen? Eine Möglichkeit stellt <strong>das</strong> Verfahren der Intermodulation dar (vgl. Stockhausens Äußerungen zu Collage und<br />

Intermodulation <strong>im</strong> Vorwort zu seinen "Hymnen"): Mit ihm lassen sich kontinuierlich Übergänge schaffen, z. B. zwischen dem<br />

musikalischen Element des Vibrato/Glissando, dem Sirenenglissando und dem Fluggeräusch absteigender Bomber. Der formale<br />

Ablauf selbst ist dabei wohlproportioniert: A (<strong>im</strong>mer stärker attackierter 1. Teil), B (zerfetzter Mittelteil), C (restaurierte Melodie mit<br />

einem nochmaligen Geräuscheinbruch, in dem der Mittelteil nachklingt). Selbst motivisch-thematische Zusammenhänge sind dem<br />

Stück nicht fremd: Die Quart als charakteristisches Intervall der Hymne und des Zapfenstreich-Zitats beherrscht auch - teils in der<br />

verfremdeten Form des Tritonus - die Improvisationsphasen.<br />

Franz Schneider/ Rainer Volk:<br />

"Vom Wortursprung, dem lateinischen >caricare< = >beladen, belasten, übertreibenEnt-SelbstverständlichungPhänomenologie des Geistes< heißt es: >Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.< Mit dem<br />

V-Effekt kehrte Brecht <strong>das</strong> klassische Theater um: Der Zuschauer soll nicht mehr nur miterleben, sondern kritisch neben dem<br />

Geschehen stehen, denn Brechts (Theater-)Welt ist nicht, wie <strong>im</strong> klassischen Theater, in Ordnung, sondern muss erst wieder<br />

geordnet werden. Zu dieser Ordnungssuche wird der Zuschauer durch die Verfremdung befähigt. Nicht anders in der Karikatur. Auch<br />

hier will die Verfremdung bewirken, <strong>das</strong>s sich der Betrachter fragt: >warum ist <strong>das</strong> so? Müsste es nicht eigentlich anders sein?<<br />

Denn die Verfremdung lässt die Wirklichkeit erkennen, macht Lüge und Wahrheit sichtbar..."<br />

Der Geist, der oft bezweifelt. Über Karikaturen. In FAZ vom 15. Nov. 1986<br />

E. Rotermund:<br />

"Eine Parodie ist ein literarisches Werk, <strong>das</strong> aus einem anderen Werk beliebiger Gattung formal-stilistische Elemente, vielfach auch<br />

den Gegenstand übern<strong>im</strong>mt, <strong>das</strong> Entlehnte aber teilweise so verändert, <strong>das</strong>s eine deutliche, oft komisch wirkende Diskrepanz<br />

zwischen den einzelnen Strukturschichten entsteht. Die Veränderung des Originals, <strong>das</strong> auch ein nur fiktives sein kann, erfolgt durch<br />

totale oder partiale Karikatur, Substitution (Unterschiebung), Adjektion (Hinzufügung) oder Detraktion (Auslassung) und dient einer<br />

best<strong>im</strong>mten Tendenz des Parodisten, zumeist der bloßen Erheiterung oder der satirischen Kritik. Im zweiten Fall ist <strong>das</strong> Vorbild<br />

entweder Objekt oder nur Medium der Satire."<br />

Die Parodie in der modernen deutschen Lyrik, München 1963, S. 9. Zit. nach: Th. Verweyen/G. Witting: Die Parodie in der neueren deutschen<br />

Literatur, Darmstadt 1979. S. 87<br />

Andere Interpretation:<br />

Interview <strong>im</strong> amerikanischen Fernsehen mit J<strong>im</strong>i Hendrix:<br />

Hendrix: "Ich hab sie schließlich nur gespielt. Ich bin Amerikaner, also hab ich sie gespielt. Früher in der Schule musste ich sie<br />

singen. Es war so eine Art Ausflug in die Vergangenheit." Reporter: "Der Mann war bei der 101. Luftlandetruppe. Wenn sie also ihre<br />

bösen Briefe schreiben ..." H.: "...böse Briefe schreiben? Wieso <strong>das</strong>?" R.: "Ja, wenn man die Nationalhymne auf unorthodoxe Weise<br />

spielt, kriegt man Protestbriefe." H.: "Es war nicht unorthodox." R.: "...nicht unorthodox?" H.: "Nein, ich fand's schön. Aber die<br />

Geschmäcker sind eben verschieden."<br />

Nach: J<strong>im</strong>i Hendrix, Dokumentarfilm, USA 1973. Übs. nach der Sendung in sat 3 (9/95)<br />

Der Vergleich mit dem oben verlinkten Mariah Carey-Video macht die Aussage von Hendrix verständlicher.<br />

Hendrix Video (Woodstock): http://www.youtube.com/watch?v=edeZqCchIYg<br />

M<strong>im</strong>ik von Hendrix, Peace­Zeichen, 'Aufschreie' korrespondierend zur <strong>Musik</strong>, 'Versenkung' <strong>im</strong> letzten Teil; die Schüler wundern<br />

sich meistens über <strong>das</strong> aufmerksame "Lauschen" der Zuhörer, <strong>das</strong> anders ist als <strong>das</strong> Verhalten in heutigen Rockkonzerten. Das<br />

spricht <strong>für</strong> den "Kunstcharakter" des Stückes (s. o.). Hendrix wirkt relaxed und konzentriert: auch <strong>das</strong> könnte ein Argument gegen die<br />

agitatorisch-provokative Interpretation des Stückes sein.<br />

Gitarrentechnik: Rückkopplung, Saiten ziehen (Prebending), Pedal, Hebel


Karlheinz Stockhausen: Hymnen (1967), Auszug: Deutschlandlied<br />

46<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012


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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

1. Manipulationen: (Demolierung, Verfremdung, Kombination heterogenen Materials, Diskrepanzerzeugung)<br />

- Unterbrechung:"Einig-"/Trommelwirbel<br />

- elektronische Zerhackung<br />

- Wiederholung bis zu viermal ("alle")<br />

- Stereospaltung (z.B. gleich am Anfang)<br />

- Wechsel der Klangform: vokal, instrumental//elektronisch<br />

- verschiedene Grade der Textverständlichkeit: vor allem pathetische Begriffe werden zerhackt, isoliert, unterdrückt<br />

- Anhalten ("Hand"): Akkord geht in glissando über (Gegenbewegung: aufwärts und abwärts)<br />

- Phasenverschiebung: Trompetengeschmetter setzt zeitlich "falsch" ein<br />

- verschiedenes Tempo (Chor/Orchester bei "Blüh"), asynchron<br />

- Horst-Wessel-Lied statt (des unterdrückten) "Glückes"<br />

- H.W.L. instrumental, leise, <strong>im</strong> Hintergrund<br />

- + beißende elekronische Pfeiftöne<br />

- kanonartige Verschränkung der Schlusszeilen<br />

- Steigerung der Manipulationen gegen Schluss (Zudecken der Hymne)<br />

- Hurrarufe + Sirenen<br />

- elektronische Pfeiftöne <strong>im</strong>mer höher und schärfer<br />

- Windgeräusche, Brandung (?)<br />

- kleiner Fetzen des Anfangs der Hymne<br />

- Schiffssirene<br />

2. Ästhetische Aspekte (Intermodulation, Collagierung u. ä., vgl. Text von Stockhausen)<br />

- Hymne als Ganzes dient als Rahmen <strong>für</strong> die Manipulationen und Einschübe<br />

- Intermodulation vorhanden, aber Collage stärker als in anderen Teilen des Werkes<br />

- Intermodulation: Trommelwirbel � elektronische Zerhackung des Wirbels � Zerhackung der Hymne<br />

- "Hand": Akkord � glissandierender Akkord � elektronische Klänge<br />

- Collage (scharfe Schnitte):<br />

- "Glückes"/Horst-Wessel-Lied<br />

- "Einig-"//Trommel<br />

3. Intention des Komponisten<br />

Kritik am Missbrauch der Nationalhymne <strong>im</strong> Dritten Reich<br />

"Einig"/Trommel: Widerspruch ("Unterdrückung", "Militär")<br />

Trommel � Zerhackung Militarismus zerstört die Hymne<br />

Manipulationen: Angriff auf Pathos, "Zerstörung"<br />

"Hand": Widerspruch ("Teilung")? Sarkasmus (überd<strong>im</strong>ensionierter Hitlergruß)?<br />

brutale Betonung der Trompeten: Widerspruch zu "Blüh" ("Militär")<br />

"Glückes"//H.W.L.: Hinweis auf Missbrauch der Werte <strong>im</strong> Dritten Reich<br />

H.W.L. gespenstisch leise: dunkles Erinnerungsfenster (historische Tiefend<strong>im</strong>ension)<br />

beißende Pfeiftöne: Verstärkung der Kritik<br />

Hurra etc.: Anheizen der Massen <strong>im</strong> Dritten Reich<br />

Wind, See, verwehte Hinweis auf Nichtigkeit des nationalen Pathos?<br />

Einsprengsel,Schiffssirene: Verweis auf Weite (Überwindung des engen nationalen Bewusstseins)?<br />

Zerhackung, Pfeiftöne u.ä.: "Weltempfänger" � Weltbewusstsein<br />

Karlheinz Stockhausen: 37<br />

Nationalhymnen sind die bekannteste <strong>Musik</strong>, die man sich vorstellen kann. Jeder kennt die Hymne seines Landes. und vielleicht noch<br />

einige andere, wenigstens deren Anfänge. Integriert man bekannte <strong>Musik</strong> in eine Komposition unbekannter, neuer <strong>Musik</strong>, so kann<br />

man besonders gut hören, wie sie integriert wurde: untransformiert, mehr oder weniger transformiert, transponiert, moduliert usw. Je<br />

selbstverständlicher <strong>das</strong> WAS, umso aufmerksamer wird man <strong>für</strong> <strong>das</strong> WIE.<br />

Natürlich sind Nationalhymnen mehr als <strong>das</strong>: sie sind >geladen< mit Zeit, mit Geschichte - mit Vergangenheit, Gegenwart und<br />

Zukunft. Sie betonen die Subjektivität von Völkern in einer Zeit, in der Universalität allzusehr mit Uniformität verwechselt wird.<br />

Subjektivität - und Wechselwirkungen zwischen musikalischen Subjekten - muss man auch unterscheiden von individualistischer<br />

Absonderung und Trennung. Die Komposition HYMNEN ist keine Collage. Vielseitige Wechselwirkungen sind auskomponiert<br />

zwischen verschiedenen Hymnen untereinander sowie zwischen diesen Hymnen und neuen abstrakten Klangformen, <strong>für</strong> die wir<br />

keine Namen haben. Zahlreiche kompositorische Prozesse der Inter-Modulation sind in den HYMNEN angewandt worden. Zum<br />

Beispiel wird der Rhythmus einer Hymne mit der Harmonik einer anderen Hymne, <strong>das</strong> Ergebnis mit der Lautstärkekurve einer<br />

37 Zusatztext <strong>für</strong> die Schallplatte "Hymnen" der DGG, August 1968


48<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

dritten Hymne, dieses Ergebnis wiederum mit der Klangfarbenkonstellation und mit dem melodischen Verlauf elektronischer Klänge<br />

moduliert, und schließlich wird diesem Ergebnis noch eine räumliche Bewegungsform aufgeprägt. Manchmal werden Teile einer<br />

Hymne roh, nahezu unmoduliert, in die Umgebung elektronischer Klangereignisse eingelassen, manchmal führen Modulationen bis<br />

an die Grenze der Unkenntlichkeit. Dazwischen gibt es viele Grade, viele Stufen der Erkennbarkeit.<br />

Außer den Nationalhymnen wurden weitere >gefundene Objekte< verwendet: Sprachfetzen, Volksklänge, aufgenommene<br />

Gespräche, Ereignisse aus Kurzwellenempfängern, Aufnahmen von öffentlichen Veranstaltungen, Manifestationen, eine<br />

Schiffseinweihung, ein chinesischer Kaufladen, ein Staatsempfang usw.<br />

Die großen D<strong>im</strong>ensionen in Zeit, Dynamik, Harmonik, Klangfarbe, räumlicher Bewegung, Gesamtdauer und die<br />

Unabgeschlossenheit der Komposition ergaben sich <strong>im</strong> Verlauf der Arbeit aus dem universalen Charakter des Materials und aus der<br />

Weite und Offenheit, die ich selbst in der Auseinandersetzung mit diesem Projekt - Vereinigung, Integration scheinbar<br />

beziehungsloser alter und neuer Phänomene - erfahren habe.<br />

Film: Das zerbrochene Lied der Deutschen:<br />

http://www.youtube.com/watch?v=VkBlQTjY__I


49<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Gospel: The Reverend Kelsey: I'm A Royal Child (14. 10. 1951, Temple Church of God and Christ, Washington)<br />

Hear the Lord ‘nd say Amen. (Amen.) I wanna call your<br />

attention to the second chapter of first Peter and the ninth verse<br />

– Amen – in the words of holy Peter:<br />

But ye are a chosen generation, a royal priesthood, a holy<br />

nation, a peculiar people; that ye should shew forth the<br />

praises of h<strong>im</strong> who called you from darkness into his<br />

marvellous light.<br />

Amen. (Amen.)<br />

And what we hear at night<br />

the glorify h<strong>im</strong><br />

We´ve been adopted into the royal family,<br />

called from sining in sin,<br />

sanctified, baptized in feel (?)...<br />

with the holy Ghost in father,<br />

we have a right to glorify God.<br />

Amen. (Amen.)<br />

It’s just wonderful what the Lord has done for us.<br />

Amen. Hallelujah.<br />

And since he saved us<br />

We´ve been adopted into the royal family.<br />

I’m a royal Child! I’m a royal Child! Royal Child! Royal Child!<br />

(I) would not be a liar,<br />

(I´ll) tell you the reason why.<br />

That my Lord has called me,<br />

Wouldn´t be ready to die.<br />

I’m a royal Child! Royal Child! Royal Child! Royal Child!<br />

(I) would not be a sinner,<br />

(I´ll) tell you the reason why,<br />

That my Lord has called me,<br />

Wouldn´t be ready to die.<br />

Royal Child! Royal Child! Royal Child! Royal Child! Royal<br />

Child! Royal Child!<br />

(I) would not be a liar,<br />

(I´ll) tell you the reason why,<br />

That my Lord has called me,<br />

Wouldn´t be ready to die.<br />

Royal Child! Royal Child! Royal Child! Royal Child!<br />

http://www.youtube.com/watch?v=q9klXnM2lbM<br />

Hört den Herrn und sagt Amen. (Amen.) Ich möchte eure<br />

Aufmerksamkeit lenken auf <strong>das</strong> 2. Kapitel des 1. Petrusbriefes,<br />

Vers 9 (Amen) in den Worten des heiligen Petrus:<br />

Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche<br />

Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, <strong>das</strong> sein<br />

besonderes Eigentum wurde, damit ihr die großen Taten<br />

dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein<br />

wunderbares Licht gerufen hat.<br />

Amen. (Amen.)<br />

Und was wir heute Abend hören,<br />

gepriesen sei Gott,<br />

Wir sind in seine Königsfamilie aufgenommen worden,<br />

wir wurden aus der Sünde gerufen ,<br />

geheiligt, getauft ...<br />

mit dem Heiligen Geist <strong>im</strong> Vater.<br />

Wir haben Grund, Gott zu preisen.<br />

Amen. (Amen.)<br />

Es ist wunderbar, was der Herr <strong>für</strong> uns getan hat.<br />

Amen. Halleluja.<br />

Und seit er uns gerettet hat,<br />

sind wir in seine Königsfamilie aufgenommen worden.<br />

Ich bin ein Königskind! ... Ein Königskind! ...<br />

Ich bin kein Lügner,<br />

ich sage euch auch warum.<br />

Der Herr hat mich gerufen,<br />

ich bin nicht zum Sterben best<strong>im</strong>mt.<br />

Ich bin ein Königskind! ... Ein Königskind! ...<br />

Ich bin kein Sünder,<br />

ich sage euch auch warum.<br />

Der Herr hat mich gerufen,<br />

ich bin nicht zum Sterben best<strong>im</strong>mt.<br />

Ein Königskind! .....<br />

Ich bin kein Lügner,<br />

ich sage auch warum.<br />

Der Herr hat mich gerufen,<br />

ich bin nicht zum Sterben best<strong>im</strong>mt.<br />

Ein Königskind! ...<br />

Reverend Kelsey gehört der 1897 von Charles H. Mason gegründeten „Church Of God In Christ“ (COGIC) an, einer großen<br />

schwarzen Pfingstkirche in Amerika.<br />

Die Thematik des 1. Petrusbriefes ist angesichts der Sklaventradition und der Rassendiskr<strong>im</strong>inierung <strong>für</strong> schwarze Amerikaner von<br />

besonderer Bedeutung. Der wiederholte Ruf I am a royal child bezieht sich auf Gal 4,7 (Daher bist du nicht mehr Sklave, sondern<br />

Sohn; bist du aber Sohn, dann auch Erbe, Erbe durch Gott) und Röm 8,17.<br />

Die afrikanische Tradition der getanzten Kulte mit Call & Response hat sich mit christlichen Inhalten gefüllt. Ekstatisierend wirkt<br />

vor allem der rhythmische Bewegungsrausch. Der Reverend (Geistliche) fungiert hier wie der Cult-Leader in einem afrikanischen<br />

Ritual.


50<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Gospel<br />

Gospel heißt „frohe Botschaft“. Gospels sind ursprünglich Evangelienlieder. Sie entstanden in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts<br />

als „schwarze“ Gegenbewegung gegen die zunehmende Vereinnahmung der Spirituals durch die Weißen. Sie sind stark von der<br />

Pfingstbewegung geprägt, die - entsprechend dem Pfingstbericht der Bibel – in ekstatischen Gottesdiensten <strong>das</strong> "Reden (bzw.<br />

Singen) in Zungen" wiederbelebt. Das kommt den afrikanischen Traditionen der Schwarzen sehr entgegen.<br />

Kennzeichen des Gospels sind:<br />

- ein hoher Anteil perkussiver Elemente (ursprünglich Trommeln, später Schlagzeug)<br />

- Körperpraktiken (Klatschen, Stampfen, Tanzen)<br />

- die off beat-Phrasierung (off beat = weg vom beat, vom Taktschlag/Grundschlag). Während best<strong>im</strong>mte Elemente des Stückes<br />

(z.B. die Perkussionsinstrumente) den beat markieren, etwa: 1-2-3-4 / 1-2-3-4 usw., überspielen andere diese Grundschläge,<br />

indem sie min<strong>im</strong>al gegenüber diesen verschoben sind. Auf diese Weise entsteht eine körperlich fühlbare Spannung, die man<br />

auch „swing“ nennt.)<br />

- dirty tones (= ‚schmutzige’ Töne, sie sind höher oder tiefer als die <strong>im</strong> europäischen 12-Notensystem festgelegten Töne.<br />

- shouts (Rufe, Schreie, ekstatische Gefühlsäußerungen <strong>im</strong> Zusammenhang mit Tanzbewegungen)<br />

- hot intonation (‚heißer’ St<strong>im</strong>mklang, gepresstes und geräuschnahes Singen als Zeichen des gefühlsmäßigen Engagements)<br />

- Call & Response (Ruf – Gegenruf, Wechselgesang zwischen Vorsänger und refrainartig antwortendem Chor)<br />

- spontanes Musizieren, hoher Anteil von Improvisation (erfinden und gestalten aus dem Augenblick heraus), vor allem be<strong>im</strong><br />

Solisten, aber auch bei der „Gemeinde“. Die Improvisation ist allerdings keine freie, sondern eine an Muster gebundene, ein<br />

best<strong>im</strong>mtes Schema <strong>im</strong>mer wieder abwandelnde.<br />

.<br />

Es findet keine rational-exegetische Auseinandersetzung mit dem Text statt, wie <strong>das</strong> in Predigten in unserem Kulturraum meist<br />

geschieht. Die Botschaft wird vielmehr ‚leibhaftig’ und emotional erfahrbar gemacht. Das ‚Vorlesen’ des Bibeltextes ist viel<br />

expressiver, als wir es gewohnt sind. Die Gemeinde verharrt dabei nicht ruhig. Man hört kurze spontane Einwürfe, vor allem <strong>im</strong>mer<br />

wieder Amen. (Bei uns erscheint <strong>das</strong> Amen – als zust<strong>im</strong>mender Zuruf der Gemeinde - nur geregelt und gemeinsam.) Zunehmend<br />

treten der Text und die ihn kurz kommentierenden Äußerungen - it’s just wonderful, what the Lord has done for us - zurück und <strong>das</strong><br />

Ganze verdichtet sich zu dem die Botschaft zusammenfassenden Ruf I’m a royal child. Das Sprechen geht ins Singen über: Man hebt<br />

ab in die Beschwörung einer ‚paradiesischen’ Situation des Erlöstseins.<br />

Das Notenbeispiel zeigt den hohen Shout-Ton c’’. Ansonsten wird der Text (wie in der Psalmodie) auf dem Ton f’ rezitiert,<br />

allerdings in mitreißenden Rhythmen. (In diesem schnellen rhythmischen Rezitieren auf einem Ton kann man eine Vorform des Rap<br />

sehen.) Das Ganze ist ein Refrain, der <strong>im</strong>mer wiederkehrt.<br />

Die Ekstase wird durch die Rhythmen der Instrumentalbegleitung (Klavier, Posaune, Tambourine) und <strong>das</strong> Klatschen gesteigert.<br />

Geklatscht wird nicht auf den betonten Taktzeiten (beat) – 1 2 3 4 – sondern auf den unbetonten (after beat) – 1 2 3 4 –. Dadurch<br />

wird ein Ausgleich von Spannung / Entspannung (betont - unbetont) verhindert und eine dauernde Hochspannung erreicht.<br />

‚Attraktives' Anschauungsmaterial zum Gospelgottesdienst:<br />

- der Film Blues Brothers von 1980 (Video Universal 400059 und DVD) mit einer Parodie auf einen Gospelgottesdienst<br />

(16:05 – 23:00) http://www.youtube.com/watch?v=P1KZKZs-2YM<br />

- <strong>das</strong> Hail Holy Queen aus dem Film Sister Act, 1992 (Unterschied zwischen andächtig-verinnerlichter und extrovertiertekstatischer<br />

Singweise) http://www.youtube.com/watch?v=rHASQg8fR0s ZUm Inhalt des Films:<br />

http://de.wikipedia.org/wiki/Blues_Brothers<br />

- der Film Say Amen, Somebody von George T. Nierenberg, 1982 (XE XP 3032DVD, 2001). Track 6, One Thousand Tricks,<br />

vermittelt eine Vorstellung von der kommunikativen Atmosphäre zwischen Prediger und Gemeinde, Track 8, His Name Is<br />

Jesus, ein deutliches Bild vom Klatschen zur ekstatischen <strong>Musik</strong>.


51<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012


Lösungsblatt<br />

52<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

a -----....--b . a--------- b a verlängert------b verlängert b1 (augm.) b1’ b2 (nochmals verlängert)<br />

"We shall overcome" ist die moderne Version eines alten Kirchenliedes ("I'll overcome someday") der Schwarzamerikaner. Während<br />

eines Streiks der Schwarzengewerkschaft in Charleston, South Carolina, sangen Arbeiter dieses Lied und brachten es in die<br />

Highlander-Folk-School nach Tennessee, wo es 1947 von Zilphia Horten aufgezeichnet wurde. Der Song wurde schließlich zur<br />

„inoffiziellen Hymne“ der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre. Heute ist er in der ganzen Welt verbreitet.<br />

Die Idee gewaltlosen Widerstandes ging von Henry David Thoreau aus (1849) und wirkt über Mahatma Gandhi, Martin Luther King,<br />

Nelson Mandela und die Friedensbewegung bis in unsere Zeit. Grundlage <strong>für</strong> diese Idee sind Jes 53,7-10 (Lied vom Gottesknecht)<br />

und Mt 5,39-45 (Jesu Rede auf dem Berg). In dem „We are not afraid“ klingt die biblische Botschaft „Fürchtet euch nicht“ an.<br />

Der Liedtext spiegelt die Lage der Schwarzen in den amerikanischen Südstaaten der 50er und frühen 60er Jahren, speziell die<br />

Rassendiskr<strong>im</strong>inierung. Trotz seiner Verwendung bei politischen Demonstrationen ist <strong>das</strong> Lied kein Protestlied <strong>im</strong> Sinne der<br />

Liedermacher, sondern eher ein Spiritual/Gospel. Nicht die aggressive Anklage steht <strong>im</strong> Vordergrund, sondern der Appell an die<br />

Frieden stiftende Kraft der Mitmenschlichkeit. Es fehlt jeglicher Aufruf zu gewaltsamer Aktion und Hass.<br />

Die Melodie spiegelt diese Friedens-Haltung: Die Konturen sind weich. Tonschritte herrschen vor. Die Melodie hängt an der<br />

schwebenden Mittelachse ‚g’ und umschreibt diese zunächst zwe<strong>im</strong>al in einer engen Kurve. Die Wiederholung und der etwas<br />

fallende Duktus suggerieren Gelassenheit, aber auch Beharrlichkeit. Ab „deep in my heart“ sinkt die Melodie in drei Abwärtswellen<br />

zum Grundton ab. Deutlicher kann man demütiges Vertrauen nicht ausdrücken. Auch <strong>das</strong> Aufbäumen der Melodie in der Mitte<br />

(„some day“), wo auf fast spektakuläre Weise die obere Tonraumgrenze (c’’) durchbrochen wird, ist nicht aggressiv, denn sie senkt<br />

sich sofort in einem langen Melisma wieder zur Mittelachse. Dieser expressive Höhepunkt ist tiefinnerer Ausdruck der Hoffnung<br />

(some day). Die Bewegungsgestik der Melodie ist eine akustische Nachbildung der inneren Bewegung.<br />

Wenn man die Melodie wie notiert singt, empfindet man sie als „weiße“ Melodie. Ihr Anfang erinnert an „O du fröhliche“. Die<br />

‚schwarzen’ Elemente kommen meist erst durch die Art des Vortrages zum Vorschein.<br />

Joan Baez (1963, CD "Joan Baez in Concert, Part 2", VMD 2123) singt <strong>das</strong> Lied eher ‚weiß’: <strong>im</strong> Folk-Stil mit Begleitung einer<br />

akustischen Gitarre. Die weiche St<strong>im</strong>mgebung und <strong>das</strong> Summen haben eine beruhigende, nach innen gerichtete Wirkung. Das<br />

Mitsingen des Publikums signalisiert Identifikation und Zusammengehörigkeit.<br />

http://www.youtube.com/watch?v=qilhC0f1o8E<br />

In der Interpretation der "The Johnny Thomson Singers" (1990, CD "The Best of Gospel", LC7224) werden nur noch einzelne<br />

Elemente des Textes und der Melodie benutzt und in freiem, teils <strong>im</strong>provisierten Gospelstil verarbeitet (call & response,<br />

beschwörende Wiederholungen einzelner Worte und Motive, hot intonation, shouts, ekstatische 'Vergegenwärtigung' des ersehnten<br />

Zustandes).


53<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Zu den ältesten Liedern der nach Amerika verschleppten und wie Vieh versteigerten Schwarzen gehören die Slave Songs. Mit einem<br />

dieser Lieder hat <strong>das</strong> spätere „We shall overcome“ große Ähnlichkeit:<br />

1. No more auction block for me, no more, no more, no more auction block for me, many thousand gone.<br />

2, No more peck o' corn for me,<br />

3. No more driver's lash for me,<br />

4. No more pint o' salt for me,<br />

5. No more mistress' call for me,<br />

6. No more hundred lash for me,<br />

1. Nie mehr ein Versteigerungspodest <strong>für</strong> mich. Viele tausend sind gegangen.<br />

2. Nie mehr einen Kornnapf <strong>für</strong> mich. Viele tausend sind gegangen.<br />

3. Nie mehr die Peitsche des Antreibers <strong>für</strong> mich. Viele tausend sind gegangen.<br />

4. Nie mehr eine Ration Salz <strong>für</strong> mich. Viele tausend sind gegangen.<br />

5. Nie mehr eine Herrin, die nach mir ruft. Viele tausend sind gegangen.<br />

6. Nie mehr hundert Peitschenhiebe <strong>für</strong> mich. Viele tausend sind gegangen.<br />

http://www.youtube.com/watch?v=IYiVKhbOtcs<br />

Manfred Sievritts: 38<br />

"Die wohl am weitesten verbreiteten Gefangenenlieder sind die >Slave SongsHaustiere< verkauft<br />

wurden. Man brannte den Negern, so wie es bei der Tierhaltung üblich war, mit Brandeisen Zeichen in die Haut, um nach einer<br />

mißlungenen Flucht <strong>das</strong> Eigentum nachweisen zu können. Die weitaus meisten Neger waren Arbeitssklaven, die unter teilweise<br />

grauenhaften Bedingungen und drastischen Strafen bei kleinsten Vergehen zur Arbeit auf den Feldern oder <strong>im</strong> Haus gezwungen<br />

wurden. Es war seit dem 18. Jahrhundert üblich, <strong>das</strong>s Neger christlich getauft wurden und ihnen die Religion ihrer Herren<br />

anerzogen wurde. Die christliche Lehre von einem besseren Leben nach dem Tode war in ihrer hoffnungslosen Lage der oftmals<br />

einzige Trost, den sie hatten. Aus diesem Grunde, aber auch, weil die Geschichten aus der Bibel be<strong>im</strong> Nacherzählen reichlich<br />

Gelegenheit boten, Wünsche und Hoffnungen zu verschlüsseln, hatten die meisten >Slave Songs< religiösen Charakter (Negro-<br />

Spirituals). Sie zu singen, war ihnen in der Regel ebenso erlaubt, wie Lieder, die die Arbeitsleistung erhöhten (z. B. Plantation<br />

Songs). Kaum <strong>im</strong> Beisein von Weißen dürften Lieder wie <strong>das</strong> nebenstehende gesungen worden sein, in dem die Forderung nach<br />

Abschaffung der Sklaverei zum Ausdruck kommt.<br />

Die Schlußzeile >Many thousend gone< ist mehrdeutig. Sie ist einmal zu verstehen als Hinweis auf die vielen Leidensgenossen,<br />

die bereits in der Sklaverei gestorben sind, zum anderen möglicherweise als Andeutung, <strong>das</strong>s es vielen bereits geglückt ist, in<br />

benachbarte Staaten zu fliehen, in denen die Sklaverei bereits abgeschafft war. Aber es ist auch möglich, <strong>das</strong>s sich der Text auf<br />

die von dem amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln 1862 durchgesetzte ‚Emancipation Proclamation’ bezieht, die den<br />

Sklaven der Südstaaten Amerikas die Freiheit verlieh. Negro Spirituals wurden ursprünglich vermutlich einst<strong>im</strong>mig oder mit<br />

einfacher, <strong>im</strong>provisierter Mehrst<strong>im</strong>migkeit gesungen. Der Gesang wird durch Händeklatschen auf den leichten Taktteilen 2 und 4<br />

sowie durch Aufstampfen mit den Füßen auf den Schwerpunkten 1 und 3 begleitet.“<br />

38 "Politisch Lied, ein garstig Lied?", Wiesbaden 1984, S. 101ff.<br />

Sklavenverkauf <strong>im</strong> Süden der USA,<br />

Stich 19. Jh.


Public Enemy: Fight The Power (1989) Album: Fear Of A Black Planet<br />

1989 the number another summer (get down)<br />

Sound of the funky drummer<br />

Music hittin' your heart cause I know you got soul<br />

(Brothers and sisters hey)<br />

Listen if you're missin' y'all<br />

Swingin' while I'm singin'<br />

Givin' whatcha gettin'<br />

Knowin' what I know<br />

While the Black bands sweatin'<br />

And the rhythm rhymes rollin'<br />

Got to give us what we want<br />

Gotta give us what we need<br />

Our freedom of speech is freedom or death<br />

We got to fight the powers that be<br />

Lemme hear you say<br />

Fight the power<br />

Chorus<br />

As the rhythm designed to bounce<br />

What counts is that the rhymes<br />

Designed to fill your mind<br />

Now that you've realized the prides arrived<br />

We got to pump the stuff to make us tough<br />

from the heart<br />

It's a start, a work of art<br />

To revolutionize make a change nothin's strange<br />

People, people we are the same<br />

No we're not the same<br />

Cause we don't know the game<br />

What we need is awareness, we can't get careless<br />

You say what is this?<br />

My beloved lets get down to business<br />

Mental self defensive fitness<br />

(Yo) bum rush the show<br />

You gotta go for what you know<br />

Make everybody see, in order to fight the powers that be<br />

Lemme hear you say...<br />

Fight the Power<br />

Chorus<br />

Elvis was a hero to most<br />

But he never meant ---- to me you see<br />

Straight up racist that sucker was<br />

S<strong>im</strong>ple and plain<br />

Mother---- h<strong>im</strong> and John Wayne<br />

Cause I'm Black and I'm proud<br />

I'm ready and hyped plus I'm amped<br />

Most of my heroes don't appear on no stamps<br />

Sample a look back you look and find<br />

Nothing but rednecks for 400 years if you check<br />

Don't worry be happy<br />

Was a number one jam<br />

Damn if I say it you can slap me right here<br />

(Get it) lets get this party started right<br />

Right on, c'mon<br />

What we got to say<br />

Power to the people no delay<br />

To make everybody see<br />

In order to fight the powers that be<br />

(Fight the Power)<br />

54<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012


55<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Videos:<br />

Das originale Video 39 darf aus urheberrechtlichen Gründen auf Youtube nicht abgespielt werden.<br />

Es gibt dort aber verschiedene andere Versionen:<br />

Ein Video mit "March on Washington", Aufnahmen von der Bürgerrechtsbewegung 1963 mit Martin Luther King, We shall<br />

overcome u. Ä:<br />

http://www.myvideo.de/watch/2175701/Public_Enemy_Fight_The_Power_Uncut<br />

weitere:<br />

http://www.dailymotion.com/video/xta4g_public-enemy-fight-the-power_music<br />

http://www.youtube.com/watch?v=UwhJxRWKSnQ<br />

http://www.youtube.com/watch?v=oJplXM9KiNo<br />

Video: http://www.youtube.com/watch?v=Jzon2j4q0pM<br />

Public Enemy ("Staatsfeind") ist eine in Image und Botschaft militante Hip Hop Band. Sie kämpft gegen Rassismus und ruft zum<br />

Aufstand gegen die Mächte (powers that be), die die Dominanz der Weißen stützen.<br />

Der Auftritt der boys aus der Bronx gleicht einem Militärcamp und signalisiert Aufruhr und Kampfbereitschaft.<br />

Im Mittelpunkt stehen die beiden Rapper Chuck D und Flavor Flav (Markenzeichen des letzteren sind die Sonnenbrille, eine<br />

Riesen-Uhr um den Hals und viel zu große Klamotten)<br />

"Fight the Power" erschien zuerst 1989 <strong>im</strong> Soundtrack des Films "Do The Right Thing":<br />

http://www.youtube.com/watch?v=TQ4y7GPeFBY&feature=fvst<br />

Vgl. dazu: http://de.wikipedia.org/wiki/Do_the_Right_Thing<br />

Gospel Fight the power<br />

rhythmisiertes Sprechen, Sprechgesang (call) mit reagierendem<br />

Umfeld (response)<br />

dto.<br />

ekstatische riffs: "I'm a royal child"<br />

Drive der Instrumentalbegleitung<br />

after beats in der Begleitung (Betonung auf 2 und 4)<br />

Harmoniewechsel<br />

viele aufpeitschende Wiederholungen<br />

dto. "fight the power"<br />

dto. Drum-Computer, Samplerloops, Schallplatten-Scratching<br />

dto.: die "2" besonders stark betont<br />

stehende Fläche: h-Moll, mit min<strong>im</strong>almelodischen Wendungen:<br />

Trichordtöne e'-d'-h<br />

dto., gesampelte Loops<br />

Die <strong>Musik</strong> dient dem Einhämmern der Parolen, dem Überwältigen. Es fehlt ihr jede Distanz, jeder Widerspruch, jede selbstkritische<br />

Reflexion.<br />

Es gibt also kein (musikalisches) 'Argumentieren'/'Reflektieren' (wie bei Beethoven).<br />

Sound und körperliche Präsenz sind wichtiger als melodisch-harmonische Profiliertheit.<br />

Rap<br />

Der Slangausdruck „rap“ bedeutet ‚quasseln’. Der Rap ist ursprünglich eine Form des Sch<strong>im</strong>pfens und Besch<strong>im</strong>pfens, des<br />

‚Heruntermachens’ („Dissing“). Oft geschah <strong>das</strong> in verbalen Duellen. Als sich daraus – auch unter dem Einfluss der rhythmischen<br />

Schnellsprechpraxis afroamerikanischer Diskjockeys - eine <strong>Musik</strong>form entwickelte, behielt der Rap etwas von seinem ursprünglichen<br />

Charakter.<br />

HipHop entstand als Einheit von Rap, Breakdance, DJing und Graffiti.<br />

Ob in Graffiti, Rap, Breakdance oder DJing, überall <strong>im</strong> HipHop kommen fließende Verläufe vor, di e plötzlich unterbrochen<br />

werden, sowie die Überlagerung verschiedener bedeutungstragender Elemente.<br />

Die zu Beginn der 80er-Jahre eingeführten Sampler ermöglichten es, sehr kurze Sequenzen aufzunehmen und sehr viele Samples<br />

übereinander zu schichten.<br />

Peter Kemper u. a. (Hrsg.): "but I like it". Jugendkultur und PopmusikStuttgart 1998, S. 100 ff.<br />

... aus dem Klassenkampf sind kleine, partikularistische Scharmützel zwischen gesellschaftlichen Fraktionen und Minderheiten<br />

geworden. Sprache in der Popmusik, insbesondere <strong>im</strong> Rap, ist Produkt dieser Konflikte.<br />

»Real rap comes from the soul and the mind, from the inner self«, erklärte Chuck D. von Public ENEMY und meinte vor allem <strong>das</strong><br />

Bewusstsein der schwarzen Minderheit in Amerika, die sich mit Rap in noch nie dagewesener Heftigkeit ins breite öffentliche<br />

Bewusstsein des weiß regierten Amerika einschrieb. Aufgrund der medialen Verbreitung von Rap-<strong>Musik</strong> gefährdeten die Raps auch<br />

die Sprachhoheit des weißen Amerika. Ein Merkmal der Sprachgewalt durch die herrschende Klasse ist <strong>das</strong> Bemühen — so<br />

Volosinov —, »dem ideologischen Zeichen einen über den Klassen stehenden, ewigen Charakter zu verleihen, den in ihm<br />

stattfindenden Kampf der gesellschaftlichen Wertungen zu unterdrücken oder nach innen zu verlagern, es eindeutig zu machen«. Der<br />

schwarze Umgang mit Sprache ist von Anfang an bestrebt, diesen ewigen Charakter zu unterminieren und die Sprache zum<br />

Schwingen zu bringen. »Signifying« wird <strong>im</strong> Wörterbuch mit »Wortgeplänkel« übersetzt. Das schwarze »Signifying« versucht,<br />

Sprache aus der Eindeutigkeit der weißen Herrschaft zu reißen und die Wörter in einen neuen Kontext zu werfen, um zu sehen, was<br />

dann noch überlebt. Signifying ist Spiel und gleichzeitig Selbstsetzung, die über den Gewinn einer eigenen Sprache Selbstbewußtsein<br />

verschafft.<br />

39 Auf diesem Video dringen sie in Kampfanzügen gewaltsam in ein TV-Studio ein, überwältigen die Angestellten und geben ihre eigenen Tapes auf<br />

den Sender.


56<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Schwarze Sprachbeherrschung richtet sich gegen die Sprache der Herrschenden. Public ENEMY erklärten in »Fight the Power« ihre<br />

Re<strong>im</strong>e programmatisch zur Arena eines Minderheitenkampfes:<br />

As the rhythm's designed to bounce<br />

What count's is that the rhyme's<br />

Designed to fall your mind<br />

Now that you've realized the pride's arrived<br />

We got to pump the stuff to make us tough<br />

From the heart<br />

It's a star, a work of art<br />

To revolutionize, make a change, nothin' strange.<br />

Analyse: 40<br />

Musical structure<br />

"Fight the Power" begins with a vocal sample of civil rights attorney and activist Thomas "TNT" Todd, speechifying in a resonant,<br />

agitated voice, "Yet our best trained, best educated, best equipped, best prepared troops refuse to fight. Matter of fact, it's safe to say<br />

that they would rather switch than fight". [6] This 16-second passage is the longest of the numerous samples incorporated to the<br />

track. [6] It is followed by a brief three-measure section (0:17–0:24) that is carried by the dotted rhythm of a vocal sample repeated six<br />

t<strong>im</strong>es; the line "pump me up" from Trouble Funk's 1982 song of the same name played backwards indistinctly. [6] The rhythmic<br />

measure-section also features a melodic line, Branford Marsalis' saxophone playing in triplets that is buried in the mix, eight snare<br />

drum hits in the second measure, and vocal exclamations in the third measure. [6] One of the exclamations, a nonsemantic "chuck<br />

chuck" taken from the 1972 song "Whatcha See Is Whatcha Get" by The Dramatics, serves as a reference to Chuck D. [6]<br />

The three-measure section crescendos into the following section (0:24–0:44), which leads to the entrance of the rappers and features<br />

more complex production. [9][10] In the first four seconds of the section, no less than 10 distinct samples are looped into a whole<br />

texture, which is then repeated four more t<strong>im</strong>es as a meta-loop. [9] The whole section contains samples of guitar, synthesizer, bass,<br />

including that of James Brown's 1971 recording "Hot Pants", four fragmented vocal samples, including those of Brown's famous<br />

grunts in his recordings, and various percussion samples. [9] Although it is obscured by the other samples, Clyde Stubblefield's drum<br />

break from James Brown's 1970 song "Funky Drummer", one of the most frequently sampled rhythmic breaks in hip hop, [11] makes<br />

an appearance, with only the break's first two eighth notes in the bass drum and the snare hit in clarity. [9] This section has a sharp,<br />

funky guitar riff playing over staccato rhythms, as a course voice exhorts the line "Come on, get down". [10]<br />

Lyrical content<br />

The song references musician James Brown with samples of his music and allusions to his lyrics.<br />

The song's lyrics features revolutionary rhetoric calling to fight the "powers that be". [2] They are delivered by Chuck D, who raps in a<br />

confrontational, unapologetic tone. [10] David Stubbs of The Quietus writes that the song "sh<strong>im</strong>mies and seethes with all the<br />

controlled, incendiary rage and intent of Public Enemy at their height. It's set in the <strong>im</strong>mediate future tense, a condition of<br />

permanently <strong>im</strong>pending insurrection". [12]<br />

"Fight the Power" opens with Chuck D roaring "1989!" [12] His lyrics declare an African-American perspective in the first verse, as he<br />

addresses the "brothers and sisters" who are "swingin' while I’m singin' / Givin' whatcha gettin'". [10] He also clarifies his group's<br />

platform as a musical artist: "Now that you've realized the pride's arrived / We've got to pump the stuff to make us tough / From the<br />

heart / It's a start, a work of art / To revolutionize". [13] In addressing race, the lyrics dismiss the liberal notion of racial equality and<br />

the dynamic of transcending one's circumstances as it pertains to his group of people: "'People, people we are the same' / No, we're<br />

not the same / 'Cause we don't know the game". [10][14] Chuck D goes on to call from the power structure to "give us what we want/<br />

Gotta give us what we need", and intelligent activism and organization from his African-American community: "What we need is<br />

awareness / We can't get careless [...] Let's get down to business / Mental self-defensive fitness". [10] In the line, Chuck D references<br />

his audience as "my beloved", an allusion to Martin Luther King, Jr.'s vision of the "beloved community". [13]<br />

The samples incorporated to "Fight the Power" largely draw from African-American culture, and their original recording artists are<br />

mostly <strong>im</strong>portant figues in the development of late 20th-century African-American popular music. [15] Vocal elements characteristic<br />

of this are various exhortations common in African-American music and church services, including the lines "Let me hear you say",<br />

"Come on and get down", and "Brothers and sisters", as well as James Brown's grunts and Afrika Bambaataa's electronically<br />

processed exclamations, taken from his 1982 song "Planet Rock". [15] The samples are reinforced by textual allusions to such music,<br />

quoted by Chuck D in his lyrics, including "sound of the funky drummer" (James Brown and Clyde Stubblefield), "I know you got<br />

soul" (Bobby Byrd and Eric B. & Rak<strong>im</strong>), "freedom or death" (Stetsasonic), "people, people" (Brown's "Funky President"), and "I'm<br />

black and I'm proud" (Brown's "Say It Loud – I'm Black and I'm Proud"). [15] The track's title itself invokes the Isley Brothers' song of<br />

the same name. [15]<br />

Third verse<br />

The song's third verse contains disparaging lyrics about popular American icons Elvis Presley and John Wayne, [16] as Chuck D raps,<br />

"Elvis was a hero to most / But he never meant shit to me / Straight up racist, the sucker was / S<strong>im</strong>ple and plain", with Flavor Flav<br />

following, "Muthafuck h<strong>im</strong> and John Wayne!". [17] The lyrics were shocking and offensive to many listeners upon the single's<br />

release. [17] Chuck D was inspired to write the lines after hearing proto-rap artist Clarence "Blowfly" Reid's "Blowfly Rapp" (1980), in<br />

which Reid engages in a battle of insults with a fictitious Klansman who makes a s<strong>im</strong>ilarly phrased, racist insult against h<strong>im</strong> and<br />

boxer Muhammad Ali. [17] The third verse expresses the identification of Presley with racism—either personally or symbolically—and<br />

the largely held notion among Blacks that Presley, whose musical and visual performances owed much to African-American sources,<br />

unfairly achieved the cultural acknowledgment and commercial success largely denied his black peers in rock and roll. [16][18] The line<br />

disparaging John Wayne is a reference to his controversial personal views, including racist remarks made in his 1971 interview for<br />

Playboy, in which Wayne stated, "I believe in white supremacy until the blacks are educated to a point of responsibility. I don't<br />

believe in giving authority and positions of leadership and judgement to irresponsible people." [16]<br />

Chuck D clarifies previous remarks in the verse's subsequent lines: "Cause I'm black and I'm proud / I'm ready and hyped, plus I'm<br />

amped / Most of my heroes don’t appear on no stamps / Sample a look back you look and find / Nothing but rednecks for 400 years if<br />

you check". [10][14] Laura K. Warrell of Salon interprets the verse as an attack on embod<strong>im</strong>ents of the white American ideal in Presley<br />

and Wayne, as well as its discr<strong>im</strong>inative culture. [10]<br />

40 http://en.wikipedia.org/wiki/Fight_the_Power:


Die 3. Generation: Glaub nicht alles (2001)<br />

Intro<br />

Glaub nicht alles, glaub nicht alles, was du siehst.<br />

1. Strophe<br />

a: Erster Sänger:<br />

Ich sehe so vieles, was mir gefällt.<br />

Ich lenke meine Sehnsucht hinein in diese weite Welt.<br />

Ich steh’ auf den Tag und ich lebe die Nacht.<br />

Vieles was mich tief berührt, mein Herz glücklich macht.<br />

b: Zweiter Sänger:<br />

Es gibt nicht nur Sterne, wenn man in den H<strong>im</strong>mel schaut.<br />

Man sollte wissen, wem man vertraut.<br />

Es gibt viele Menschen, die mich inspirieren,<br />

doch ihr Wort nicht halten, sich andauernd verlieren<br />

c: Dritter Sänger:<br />

in den Flüssen der Lügen, der Ströme der Intrigen,<br />

die nur darauf aus sind, jeden Feind zu besiegen,<br />

die gut aussehen, dich in ihr Weltbild fügen<br />

und hinter deinem Rücken dich einfach nur betrügen.<br />

Refrain<br />

Alle drei:<br />

Glaub, was du willst, wenn du meinst, was du fühlst, ist richtig.<br />

Doch glaub nicht alles, glaub nicht alles, was du siehst.<br />

Tu was du willst, wenn du fühlst, was du machst, ist richtig.<br />

Doch glaub nicht alles, glaub nicht alles, was du siehst.<br />

Doch glaub nicht alles, glaub nicht alles, was du siehst.<br />

2. Strophe<br />

a: Erster Sänger:<br />

Ich gehe meine Wege, öffne meine Seele.<br />

Ich sehe nur <strong>das</strong> Gute auf dem Weg, den ich wähle.<br />

Ich lerne zu vertrauen, warum sollt ich es auch nicht.<br />

Ich weiß doch ganz genau: Nicht jeder ist so wie ich.<br />

b: Zweiter Sänger:<br />

Ich geh trotzdem auf die Reise, um, zumindest ansatzweise,<br />

die Blender zu erkennen, die meiner Lebensweise<br />

mit Abscheu begegnen, meine Wege nicht segnen,<br />

<strong>für</strong> die soll es ihr ganzes Leben Mitleid regnen.<br />

c: Dritter Sänger:<br />

Im ersten Augenblick kriegst du die großen Versprechen,<br />

viele Gedanken, die deinen Wünschen entsprechen.<br />

Ja niemand will deine Erwartung brechen,<br />

und dann siehst du zu, wie die Versprechen zerbrechen.<br />

Refrain<br />

3. Strophe<br />

Zweiter Sänger:<br />

Mach deinen Kopf frei von gut gemeinten Meinungen.<br />

Beschütze dich gut vor allen Folgeerscheinungen<br />

der Menschen, die dich in die falsche Richtung locken wollen,<br />

die selber nur <strong>das</strong> tun, was sie nicht wollen, sondern sollen.<br />

Dritter Sänger:<br />

Lasse dir nichts erzählen, was dir selber nicht schmeckt,<br />

sondern finde heraus, was hinter der Fassade steckt.<br />

Sieh zu, <strong>das</strong>s du nicht vor deiner Wahrheit fliehst<br />

und vor allem: glaub nicht alles, was du siehst!<br />

Refrain<br />

Melodie der 1. Strophe<br />

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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012


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Die Gruppe „Die 3. Generation“ (mit Darko, Julian und Tolga) besteht seit 1998. Am Anfang wurde sie besonders von den BRAVO-<br />

Lesern favorisiert. Text und <strong>Musik</strong> des Stücks stammen von den bekannten Produzenten Thorsten Brötzmann, T<strong>im</strong> Brettschneider<br />

und Alex Geringas.<br />

Verglichen mit Public Enemys "Fight the Power" (1889 wirkt "Glaubt nicht alles"(2001) regelrecht 'weichgespült'.<br />

Traditionelle musiksprachliche Muster kommen wieder mehr zum Tragen. Es gibt wieder Kadenzharmonik (z. B.: B-g-Es-B), ein<br />

(streckenweise) stärkeres melodisches Profil und wechselnde textbezogene Ausdrucksebenen.<br />

Es geht auch nicht mehr um politische Inhalte, sondern mit der Thematik der dritten Strophe („Wahrheit – Fassade“) um ein Problem,<br />

<strong>das</strong> Jugendliche in der Phase der Selbstfindung stark beschäftigt.<br />

Die drei Teile (a, b, c) der einzelnen Strophen sind deutlich unterschieden:<br />

a wird gesungen, und zwar sehr ausdrucksvoll.<br />

b wird in die <strong>Musik</strong> hineingesprochen, und zwar hektisch. Der Sprecher fällt dem Vor-Sänger ins Wort. Gerade <strong>das</strong><br />

ausschwingende lyrisch-gefühlige Melisma („glücklich macht“) wird dadurch ‚zerstört’. An die Stelle der Illusion einer<br />

schönen Welt tritt die ‚Realität’. Es handelt sich um ein schnelles, gere<strong>im</strong>tes, rhythmisiertes Sprechen <strong>im</strong> Rapstil. Es greift an<br />

und n<strong>im</strong>mt genau die Gegenposition zum Singen ein.<br />

c wird noch schneller <strong>im</strong> Rapstil gesprochen. Erstaunlich ist, <strong>das</strong>s dieser ‚reißende Strom’ der Wortkaskaden von einer ruhigen,<br />

‚romantischen’ Streichermelodie überwölbt wird. - In der 3. Strophe werden die Streicher durch verhallte Summ-Chorklänge<br />

(uh) ersetzt, die die gleiche Funktion haben: Darstellung des Illusionären. - In diesem Kontrast wird der Textsinn (Aufdecken<br />

der Scheinhaftigkeit des Schönen, der Doppelgesichtigkeit des Menschen) genau getroffen.<br />

Zum Notenbeispiel: Die Melodie der 1. Zeile ist absteigend. Das passt zum Gestus des Vertrauens, der die Dinge auf sich zukommen<br />

lässt. Zu Beginn der 2. Zeile wird die Abwärtslinie wiederholt und dadurch bekräftigt. Doch dann antwortet <strong>das</strong> Individuum auf <strong>das</strong><br />

Entgegenkommen der Welt, indem es selbst auf diese zugeht („in diese weite Welt“). Die 3. Zeile ist der ausdrucksmäßige<br />

Höhepunkt dieser inneren Bewegung. Der höchste Ton fällt – nicht zufällig – mit dem Wort „Tag“ zusammen, der sich stark abhebt<br />

von der folgenden „Nacht“. In der letzten Zeile findet die Melodie ihre ‚Mitte’, in der sie ruhig und „glücklich“ kreist. Das Melisma<br />

am Schluss bestätigt diese abgehobene St<strong>im</strong>mung.<br />

Der Refrain, der textlich <strong>das</strong> Resumee zieht, enthält auch musikalisch beide Haltungen: <strong>das</strong> melodische Singen und <strong>das</strong> schnelle,<br />

rhythmisierte Rezitieren. Auch alle anderen Elemente sind einbezogen.<br />

Das Intro exponiert beide Haltungen mit harten, desillusionierenden Schlägen auf der einen und gefühligen, stark verhallten Summ-<br />

Chorklängen (uh) auf der anderen Seite.


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Hans Werner Henze: El C<strong>im</strong>arrón 41 (1969/70).<br />

Rezital <strong>für</strong> vier <strong>Musik</strong>er. Biographie des geflohenen Sklaven Esteban Montejo<br />

Text aus dem Buch von Miguel Barnet übersetzt und <strong>für</strong> <strong>Musik</strong> eingerichtet von Hans Magnus Enzensberger<br />

Norbert Grote: 42<br />

Hans Werner Henzes El C<strong>im</strong>arrón ist, wie schon Das Floß der Medusa (1968), eng verknüpft mit dem langwierigen Prozess seiner<br />

Selbstfindung und musikalischer Ausdruck seines entschiedenen politischen Engagements.<br />

Mit den Bassariden (1965) war ein Endpunkt in Sachen bürgerlicher Oper erreicht. Henze lernte Zusammenhänge zu sehen, sich<br />

selber in diesen Zusammenhängen. Er versuchte seine Arbeiten in neue Zusammenhänge zu stellen und so zu montieren, <strong>das</strong>s die<br />

Resultate unmissverständlicher wurden. Die Wurzeln seines heutigen musikalischen Denkens, <strong>das</strong> die Loslösung von "elitären und<br />

klassizistischen Monologen" fordert, liegen in dieser "Zeit politischer Bewusstwerdung".<br />

Die eigene Arbeit muss von der eigenen Person und der eigenen Vergangenheit abgelöst werden; die eigenen Erfahrungen müssen<br />

selber umfunktioniert und "in etwas Neues, etwas Brauchbares" eingebracht werden. Es gilt, sich <strong>für</strong> viele mitteilsam zu machen und<br />

so die Trennung zwischen Künstler und Publikum zu verringern ....<br />

Das Stück basiert auf den Lebenserfahrungen Esteban Montejos, des C<strong>im</strong>arrón, die der kubanische Schriftsteller und Ethnologe<br />

Miguel Barnet verfasste. Hans Magnus Enzensberger verschmolz fünfzehn Episoden zu einem Libretto.<br />

Die Art, wie der C<strong>im</strong>arrón konzipiert ist, macht ihn zu etwas, <strong>das</strong> zwischen Konzert und Theater steht: ein Rezital <strong>für</strong> einen<br />

Vokalsolisten (Bariton und Sprecher), einen Flötisten (mit einem Arsenal von Flöten ausgestattet), einem Gitarristen (dessen Part<br />

auch noch durch Bongos und Woodblocks ergänzt wird) und einem Schlagzeuger (mit einem Apparat von mehr als fünfzig<br />

Instrumenten). Er erfordert die kreative Zusammenarbeit einer kleinen Gruppe. Neben exakt determinierten Partien stehen solche, in<br />

denen musikalische Verläufe mit Hilfe von grafischen Symbolen nur angedeutet sind. So bleiben offene Stellen und theatralische<br />

Elemente, die <strong>für</strong> eine Aufführung vom Ensemble <strong>im</strong>mer neu erfunden und erarbeitet werden müssen. Die Partitur ist stellenweise<br />

nur Anregung, nur ein Wegweiser. Oftmals ist nur der Ton vorgegeben: Lautstärke, Phrasierung und Rhythmus sollen von den<br />

Spielern erfunden werden. Sie werden so aktiv an der Komposition beteiligt.<br />

Alle Spieler haben nicht nur mehr als ein Instrument zu spielen, sondern sind auch noch durch gelegentliches Singen, Pfeifen, Reden<br />

und Schreien beteiligt. Der bisherige Vokalstil wird verlassen, die Singst<strong>im</strong>me ausdrucksvoller, weniger gesanglich eingesetzt. Von<br />

den neuen Möglichkeiten der Vokalproduktion wird extremer Gebrauch gemacht, neue Ausdrucksbereiche werden erschlossen.<br />

Das erste Stück, Die Welt, beginnt mit Lauten auf undeterminierten Tonhöhen: der Flötist erzeugt mit einem Violinbogen Geräusche<br />

am Rand eines hängenden Beckens; der Gitarrist hält sein Instrument wie eine Gambe und produziert mit einem Bogen verschiedene<br />

Töne, während der Schlagzeuger Tempelglocken in Schwingungen versetzt und der Sänger den Vokal „u" produziert. Dazu zitiert<br />

Henze einen Rhythmus aus der Yoruba-<strong>Musik</strong> (Yoruba ist eine der in Kuba lebendig gebliebenen afrikanischen Religionen). Im<br />

weiteren Verlauf zitiert Henze mehrfach Rhythmen und melodische Fragmente und unterstreicht so die direkte Verbindung zur<br />

kubanischen <strong>Musik</strong>.<br />

In Die Frauen versucht er einen „Son" zu schreiben, einen afro-kubanischen Tanz mit Kehrre<strong>im</strong> aus dem 19. Jahrhundert, der heute<br />

noch als kubanische <strong>Musik</strong> gilt. Auch in der Episode Der Wald zitiert Henze an der Stelle „Ich bin viele Jahre <strong>im</strong> Wald geblieben"<br />

wörtlich einen „Toque" (rhythmisches Thema aus der Lukumi-<strong>Musik</strong>), der bei Beschwörungen von Babalú-Ayé, der Göttin der<br />

Krankheiten, gespielt wird, damit der C<strong>im</strong>arrón die noch vor ihm liegende Zeit <strong>im</strong> Wald durchstehen kann und nicht wieder<br />

eingefangen wird. Die Melodie ist eine Abwandlung afro-kubanischer Intervalle.<br />

Deutliche theatralische Momente der Verfremdung <strong>im</strong> Brechtschen Sinne zeigt Die Flucht. Der <strong>Musik</strong> wird ihre Abstraktheit<br />

genommen, und sie wird an klare, eindeutige Funktionen gebunden. Esteban hält eine Kette in den Händen und berichtet: „Da habe<br />

ich einen Stein genommen und ihn mitten in seine Fresse geworfen." Augenblicklich lässt er die Kette auf eine Eisenplatte fallen.<br />

Gleichzeitig hört man die Maultrommel (Flötist vor Mikrophon), ein Effekt, der hier eine Bedeutung erhält wie die Sterne, die in<br />

solchen Situationen <strong>im</strong>mer in Comic Strips zu sehen sind. Der Gitarrist brüllt in ein Megaphon:„Haltet ihn fest!” In die folgende<br />

Schilderung der Flucht mischen sich Trillerpfeifen, Hecheln und Keuchen: Assoziationen von Flucht und Verfolgung. Der Phantasie<br />

der Spieler bleibt hier nahezu alles überlassen. Gleich in der zweiten Episode, Der C<strong>im</strong>arr6n, parodiert Henze eine Habanera, wenn<br />

von den Tafelfreuden der weißen Reichen die Rede ist, und in Der schlechte Sieg erklingt hispano-amerikanische Tanzmusik, zudem<br />

werden nordamerikanische Melodiefetzen auf der Mundharmonika zitiert.<br />

Gelangweilter Litaneigesang, <strong>das</strong> Heulen eines verst<strong>im</strong>mten Harmoniums und leere barocke Phrasen charakterisieren Die Pfarrer.<br />

Henzes angestrebte „Identität von Kunst und Leben" ist <strong>im</strong> C<strong>im</strong>arrón (wie auch <strong>im</strong> Floß der Medusa und in Voices) schon angelegt<br />

und mündet dort vielleicht auch am konsequentesten zu Ende geführt — in eines seiner exponiertesten Theaterwerke: Wir erreichen<br />

den Fluss (1974/76).<br />

Werner Klüppelholz: 43<br />

... rein musikalische Kriterien werden diesem Werk nicht gerecht. Er komponiere nur noch, „um dem Sozialismus zu helfen", sagt<br />

Henze schließlich. Er muss sich gefallen lassen, be<strong>im</strong> Wort genommen zu werden. Was vom „C<strong>im</strong>arrón" hilft dem Sozialismus? Die<br />

<strong>Musik</strong>, die auf Lustgewinn sensibler Ohren angelegt ist? Der Text, der zur Hälfte aus Abschnitten wie „Der Wald" oder „Die<br />

Geister" besteht, spannend und kurzweilig, ein Bilderbogen, aus dem die soziale Wirklichkeit, auf die der Inhalt des „C<strong>im</strong>arrón"<br />

zurückgeht, zugunsten einer Robinsonaden-Atmosphäre verdrängt ist? Die Rezeption, Aldeburgh Festival, Berliner Philharmonie<br />

oder jetzt Doppelkassette der DGG, also <strong>für</strong> die normale E-<strong>Musik</strong>-Minorität produziert?<br />

Ausdrücklich weist Henze auf die Verbindung des C<strong>im</strong>arrón-Inhalts zur heutigen Zeit hin: „Während Esteban in die Freiheit rennt,<br />

stellen Kommandos durch Megaphon und Polizeipfeifen eine realistische Verbindung zur heutigen Zeit her." — „Ein Telephon auf<br />

der Bühne macht noch kein modernes Theaterstück" (Gottfried Benn). Und wenn dieser Gegenwartsbezug angestrebt ist, der eben bis<br />

auf <strong>das</strong> genannte Beispiel nie sichtbar wird, wieso dann dieses musikalische Pamphlet gegen den Klerus („Die Pfarrer")? Immerhin<br />

scheint dieser doch heute eine der wenigen fortschrittlichen Kräfte in Südamerika zu sein.<br />

Man sollte „EI C<strong>im</strong>arrón" von Hans Werner Henze be<strong>im</strong> Namen nennen: Die leicht exotischen Lebenserinnerungen des C<strong>im</strong>arrón<br />

n<strong>im</strong>mt Henze zum Vorwand, leicht exotische <strong>Musik</strong> zu machen, exotische Instrumente zu gebrauchen wie Trinidad Steel Drum oder<br />

ryùteki, kubanische Tänze oder afro-kubanische Rhythmen, wobei <strong>das</strong> musikalische Material, <strong>im</strong>merhin handelt es sich ja um Neue<br />

<strong>Musik</strong>, auf der Stelle tritt. Doch die Produktion mancher Komponisten, unter ihnen Henze, ähnelt ohnehin der Modellpolitik von<br />

Automobilkonzernen: Das Neue eines neuen Modells liegt in kleinen Schönheitskorrekturen der Karosserie, während der Auspuff<br />

41 c<strong>im</strong>arrón bedeutet <strong>im</strong> lateinamerikanischen Spanisch "entlaufenes Haustier" bzw. "entlaufener Sklave"<br />

42 Booklet der CD "Hans Werner Henze.l C<strong>im</strong>arrón", Koch 314030, 1991<br />

43 Melos 2/1972, S. 95 f.


44<br />

Interview mit Henze. Melos 4/1972, S. 208 ff.<br />

45<br />

http://www.welt.de/print-wams/article144025/Der-wilde-Wohlklang.html<br />

60<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

seine Giftgase nach wie vor unters Volk dampft.<br />

Im Licht des Sozialismus, Henzes angeblichem Schöpfungsantrieb, betrachtet, sieht „El C<strong>im</strong>arrón" ebenso trübe aus. Der<br />

Produktionsapparat Neue <strong>Musik</strong> wird beliefert, ohne ihm auch nur eine Spur von Widerstand entgegenzusetzen, ohne ihn <strong>im</strong><br />

geringsten „zugunsten des Sozialismus der herrschenden Klasse zu entfremden", wie Walter Benjamin vor nun bald vierzig Jahren<br />

bereits darlegte. „EI C<strong>im</strong>arrón" hört sich angenehm an, die <strong>Musik</strong> ist nie zu geräuschhaft, die Abschnitte sind recht kurz (<strong>im</strong><br />

Durchschnitt fünf Minuten), <strong>das</strong> erforderte keine große Konzentration, Themen wie „Der Wald", „Die Geister", „Die Frauen" oder<br />

„Die Schlacht von Mal Tiempo" lassen der Phantasie des Hörers viel Raum. Der politische Inhalt, die Sklaverei, liegt lange zurück.<br />

Vorsichtig klingt auch einmal an, <strong>das</strong>s die Lebensbedingungen der Farbigen in Amerika heute <strong>im</strong>mer noch nicht so gut sind. Die<br />

unglaublichsten und revolutionärsten Inhalte (wie sie die Sklaverei und der heutige Zustand der farbigen Bevölkerung Amerikas<br />

tatsächlich darstellen), lassen sich gut in solchen spannend-unterhaltsamen Bilderbogen bringen und in elegante <strong>Musik</strong> verpacken. So<br />

werden revolutionäre Themen auch <strong>für</strong>s bürgerliche Publikum goutierbar. Sozialismushelfer Henze passt ursprünglich revolutionäre<br />

Themen dem kapitalistischen Markt an und macht sie <strong>für</strong> diesen verwertbar, was durch den <strong>im</strong>mer wieder angemeldeten<br />

Sozialismusanpruch verschleiert wird.<br />

Hans-Klaus Jungheinrich: 44<br />

H. K. J.: Wir waren mit dem Thema „Kuba" noch nicht fertig. Außer der Sinfonie entstand dort "El C<strong>im</strong>arrón", und Sie haben<br />

Esteban Montejo, den C<strong>im</strong>arrón, ja auch persönlich getroffen und gesprochen.<br />

Henze: Der C<strong>im</strong>arrón ist ein amüsanter uralter Mann, aus dessen Geschichten man viel erfahren kann über die Welt, nicht etwa über<br />

Sozialismus: ein Mensch, der seine Entwicklungskurve hat parallel zu der seiner Umgebung, seines Landes; ein Mensch, der einen<br />

Lernprozess durchgemacht hat, der „physisch" ist. Seine Geschichte ist ein Lernprozess, nicht etwa ein Leseprozess. Was er erlebt<br />

hat, hat <strong>das</strong> ganze Land ähnlich erlebt. Ich fand es <strong>für</strong> mich als <strong>Musik</strong>er sehr erregend, einen lebenden Menschen vor mir zu sehen,<br />

den ich aufs Notenpapier zu übertragen <strong>im</strong> Begriff war; <strong>das</strong> hatte beinahe etwas Fotografisches, Kinematografisches. Ich habe<br />

versucht, ganz realistisch seine St<strong>im</strong>me, seine Atmosphäre zu übertragen in musikalische Bewegung. Dann gibt es <strong>im</strong> "C<strong>im</strong>arrón"<br />

Aleatorik in einem Maße, wie es sie vorher bei mir nicht gegeben hat, wahrscheinlich, weil ich wusste, wer die Spieler waren,<br />

wieviel kreative Phantasie ich ihnen zutrauen konnte. Das gilt besonders <strong>für</strong> den Part der Gitarre, den ja Leo Brouwer<br />

spielte, der interessanteste Komponist Kubas. Aber auch <strong>für</strong> die Perkussion, denn Yamash'ta ist auch Komponist. Also beide und<br />

Pearson und Zöller dazu sind Co-Autoren. Ein Einfluss von Folklore ist in diesem Stück auch zu bemerken, vielleicht nicht<br />

unbedingt be<strong>im</strong> ersten Hören, denn oft sind Dinge, die lateinamerikanisch klingen, von mir komponiert, während authentische<br />

Folklore verdeckter und komplexer verarbeitet wird. Es handelt sich dabei meist um afro-amerikanische, man müsste eigentlich<br />

sagen, kongolesische <strong>Musik</strong>, denn die Neger, die als Sklaven nach Kuba kamen, stammen durchweg aus dem Kongo. Ein wichtiges<br />

Beispiel <strong>für</strong> den Anteil dieser <strong>Musik</strong> kommt gleich in der Einleitung des „C<strong>im</strong>arrón" vor: Man sieht den Perkussionisten an die<br />

Rampe gehen. Dort steht eine Konga. Er schlägt einen Rhythmus auf dieser Konga; dann n<strong>im</strong>mt er die Konga und bringt sie in sein<br />

Instrumentarium hinein. Von diesem Moment an verästelt sich dieser Kongarhythmus in <strong>das</strong> ganze Stück. Alle Rhythmen entwickeln<br />

sich aus diesem einen Rhythmus, auch Habaneras, Rumbas und Sones.<br />

Dann könnte man noch von Landschaftsbeschreibungen sprechen. Wie <strong>im</strong>mer in meiner <strong>Musik</strong> sind Lichteinflüsse wichtig, Kl<strong>im</strong>a,<br />

Atmosphäre, was weder fotografisch noch 'touristisch gemeint ist, sondern etwas zu tun hat mit mir selber in einer Atmosphäre. Ich<br />

muss sagen, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Schreiben des „C<strong>im</strong>arrón", zu dem ich nur wenige Wochen gebraucht habe, zu den glücklichsten Arbeitsprozessen<br />

überhaupt gehörte, die ich je hatte, und <strong>das</strong>, obwohl die Voraussetzungen nicht so waren, wie ich es gewohnt bin. Ich hatte<br />

kein ruhiges Arbeitsz<strong>im</strong>mer, sondern war in einem Glaskasten, <strong>im</strong> 14. Stock eines schrecklichen Wolkenkratzers inmitten eines<br />

enormen Straßenlärms, der von unten heraufkam.<br />

H. K. J.: Sie sprachen von Aleatorik <strong>im</strong> „C<strong>im</strong>arrón". Ganz gewiss gibt es manche Beziehungen zwischen diesem Stück und<br />

avantgardistischen Bestrebungen des „instrumentalen Theaters". Kann man daraus schließen, <strong>das</strong>s Sie in jüngster Zeit von Kagel<br />

oder Ligeti gelernt haben?<br />

Henze: Es klingt unhöflich, aber: ich habe mich nie sehr <strong>für</strong> diese Autoren interessiert, so wichtig ihre Produktion auch sein mag.<br />

Das liegt wohl an der unterschiedlichen Art, wie Autoren sich ihre Probleme stellen und was sie als Gegenstand ihrer Bemühungen<br />

ansehen.<br />

H. K. J.: Es ist aber doch erstaunlich, wenn best<strong>im</strong>mte Phänomene, die in den Hervorbringungen von Komponisten vorkommen, die<br />

eine ganz andere Entwicklung durchgemacht haben als Sie, nun in Ihren Werken auch auftauchen, <strong>das</strong>s es also zu Überschneidungen<br />

oder Kreuzungspunkten kommt.<br />

Henze: Ich würde sagen, die Begegnung mit Dingen wie Aleatorik, die bei mir erst in den letzten Jahren stattgefunden hat, geschah<br />

nicht auf diesen Märkten wie Darmstadt oder Donaueschingen (wo ich seit bald zwanzig Jahren nicht gewesen bin), sondern eben in<br />

Kuba. Die kubanischen <strong>Musik</strong>er haben mir glaubhaft gemacht, <strong>das</strong>s eine best<strong>im</strong>mte Art, neue <strong>Musik</strong> zu machen, etwas zu tun haben<br />

kann mit neuen Gesellschaftsformen, die <strong>im</strong> Begriff sind, sich zu bilden, oder mit dem Zusammenbruch anderer, alter. Mir ist durch<br />

politische sinnliche Erfahrungen erst möglich geworden, gewisse Formen und Spielarten der Moderne in meine eigene Arbeit<br />

hineinzubringen, und wenn ich nicht vollkommen auf dem Holzweg bin, scheint es mir, <strong>das</strong>s bei mir nicht nur die Beweggründe<br />

anders waren, sondern <strong>das</strong>s auch die Resultate es sind. Sie sind politisch präziser, oder sagen wir: sie sind politisch präzis. Sie<br />

funktionieren um, was bis dahin als Abstraktum oder als „reine <strong>Musik</strong>" existierte. Mir scheint „Avantgarde" absolut system<strong>im</strong>manent<br />

und vom System getragen, <strong>das</strong> System reflektierend und bestätigend. Ich sehe da keine „Protestform" außer in system<strong>im</strong>manenter<br />

Verfassung.<br />

Jan Brachmann (25.06.2006, Welt Online): 45<br />

Henze wollte keine "reine Tonkunst", die sich gegen <strong>das</strong> Politische abschottet. Ihm schwebte eine "musica <strong>im</strong>pura" vor, eine unreine<br />

<strong>Musik</strong>, so wie der chilenische Dichter Pablo Neruda eine "unreine Poesie" feierte: "schweiß- und rauchgetränkt, mit dem Geruch von<br />

Lilien und Urin". Henze freilich, der raffinierte Klangkünstler, neigt eher zum Duft der Lilien.


61<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Werner Klüppelholz 46 :<br />

Warum bringt Henze <strong>das</strong> Leben eines entlaufenen Sklaven in den kubanischen Wäldern auf die Konzertbühnen westeuropäischer<br />

Großstädte? Welchen Sinn hat die Konfrontation höchst einfacher Sprache und stellenweise mythischen Denkens mit einer<br />

hochkomplexen <strong>Musik</strong>, die sich enormer Rationalisierung verdankt? Einmal ist "El C<strong>im</strong>arrón" eine Abenteuergeschichte, die erzählt,<br />

wie einer flieht, in den Wäldern lebt, dort auf Geister trifft. Ein solcher Handlungsverlauf erzeugt Spannung, und der Protagonist —<br />

schwach, unterdrückt, ausgebeutet — provoziert Einfühlung, Identifikation. Zum anderen wird erzählt von den konkreten<br />

gesellschaftlichen Verhältnissen Kubas, von der Sklaverei, unerträglichen Arbeitsbedingungen, von einem bigotten Klerus und<br />

nordamerikanischen Profitmachern. Die Identifikation mit dem C<strong>im</strong>arrón soll sich auf sein gesamtes Handeln, auch sein<br />

gesellschaftliches, erstrecken; Enzensberger sieht in Montejo ein "Beispiel <strong>für</strong> die subjektiven Möglichkeiten der Revolution".<br />

Seinem Vorgesetzten ein Werkzeug ins Gesicht werfen und dann ein autarkes Leben in den Wäldern führen, <strong>das</strong> wird kaum<br />

agitatorisch, als Handlungsanweisung <strong>für</strong> Mitglieder von Industriegesellschaften gemeint sein. Der Wille, sich gegen inhumane<br />

Verhältnisse aufzulehnen, zu kämpfen, dürfte freilich auch heute noch vielerorts fortleben, wie denn auch die Utopie des Schlusses,<br />

die "Freundlichkeit" <strong>im</strong> sozialen Verkehr, <strong>das</strong> Brecht'sche "Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist", kaum als realisiert gelten<br />

kann. Die Befriedigung der notwendigsten Bedürfnisse verläuft in hochtechnisierter Zivilisation völlig anders als in den Wäldern<br />

oder einem kubanischen Dorf, ohne <strong>das</strong>s die Bedürfnisse hier völlig andere wären. Die einfache Darstellung elementarer<br />

menschlicher Verhältnisse, Unterdrückung und Auflehnung, Ernährung und Sexualität, Einsamkeit und Volksfeste kann ebenso unter<br />

völlig anderen Lebensbedingungen von großer emotionaler Wirkung sein, weil auch den Bewohnern der Städte solche<br />

Grundprobleme menschlicher Existenz durchaus geläufig sind. Nicht zuletzt daraus mag der relative Erfolg des Stückes resultieren.<br />

Ob die musikalischen Mittel Henzes Identifikation und emotionale Wirkung des Textes unterstützen, ist freilich zweifelhaft. Die<br />

<strong>Musik</strong> des C<strong>im</strong>arrón sitzt gleichsam zwischen den Stühlen: weder ist sie so avanciert, um die Forderung nach größtmöglicher<br />

Fortgeschrittenheit politischer <strong>Musik</strong> erfüllen zu können, noch ist sie so strukturiert, um den Hörgewohnheiten eines<br />

Massenpublikums zu entsprechen. Auch lässt sich der Vorwurf kaum entkräften, <strong>das</strong> opernhafte Verhältnis von Sprache und <strong>Musik</strong><br />

zeige an, die <strong>Musik</strong> des C<strong>im</strong>arrón sei Theatermusik <strong>im</strong> alten Sinn, die nicht selbständig kommentiere, sondern textabhängig<br />

illustriere. Schließlich kann vermutet werden, die <strong>Musik</strong> des C<strong>im</strong>arrón sei ohnehin wirkungslos, selbst der Komponist, nach den<br />

Wirkungen der <strong>Musik</strong> befragt, verweist auf den Text (Vgl. L 55,163). Oder <strong>das</strong> Stück hätte Einfluss nur <strong>im</strong> kleinen Kreis derer, "who<br />

have the right mind, people who know", wie ein <strong>Musik</strong>er der Uraufführung bemerkt (Vgl. L 34,52). Am Ende ist die Geschichte aus<br />

den Wäldern doch nur ein Stück Unterhaltung, geeignet <strong>für</strong> diejenigen, welche nach differenzierter Unterhaltung verlangen. Liegt der<br />

Sinn der Erzählhandlung des C<strong>im</strong>arrón auch auf der Hand, so steht freilich keineswegs fest, was diese, politisch gemeinte <strong>Musik</strong><br />

bedeutet. Sollen subjektive Wertungen vermieden werden, so bleibt der Sinn des Ganzen unentschieden.<br />

Henze 47 :<br />

"Was <strong>im</strong> C<strong>im</strong>arr6n deutlicher als in früheren Stücken zu bemerken ist und was auf inzwischen gewonnenen Einsichten über<br />

Kommunikation beruht, ist die Tendenz, den Hörer nicht zu verblüffen, nicht einzunebeln, nicht zu hypnotisieren. Im Gegenteil: Die<br />

<strong>Musik</strong> selbst, und <strong>das</strong> nicht nur auf dem Wege über <strong>das</strong> Demonstrative der Theater-Elemente, erklärt dem Hörer, wie sie gemacht ist.<br />

Sie sagt dauernd: Schaut her, <strong>das</strong> ist ganz einfach, <strong>das</strong> ist so und so gemacht. Sie bemüht sich, den Hörer einzubeziehen, ihn dahin zu<br />

bringen, sich vorzustellen, <strong>das</strong> könne er auch. Und <strong>das</strong> versteht er, sieht Zusammenhänge, ist nicht mehr getrennt und fremd."<br />

"Ich habe vom didaktischen Theater Brechts viel gelernt. Meine <strong>Musik</strong> ist eine antielitäre, freundliche <strong>im</strong> Sinne Brechts. Und sie ist<br />

theatralisch. Alle Spieler sind unausgesetzt Teilnehmer am Drama und Interpreten des Dramas zugleich wie in einer griechischen<br />

Tragödie, bei der Chor und Schauspieler aber dieselben Personen wären. Hierdurch ist vielleicht der Brecht'sche Verfremdungseffekt<br />

transponiert aufs <strong>Musik</strong>theater".<br />

46 Modelle zur Didaktik der Neuen <strong>Musik</strong>, Wiesbaden 1981, S. 116/117<br />

47 Zit. nach: Werner Klüppelholz: Modelle zur Didaktik der Neuen <strong>Musik</strong>, Wiesbaden 1981, S. 129


Ausschnitt: Die Flucht:<br />

http://www.youtube.com/watch?v=D4n_kNIRR14&feature=player_detailpage<br />

C<strong>im</strong>: C<strong>im</strong>arrón<br />

Fl: Flöte<br />

G: Gitarre<br />

P: Perkussionist (Schlagzeuger)<br />

<strong>im</strong>provisieren<br />

<strong>im</strong>provisieren, ven der Kurve angeregt<br />

vibrato<br />

crescendo - decrescendo<br />

gesprochen auf unbest<strong>im</strong>mter Tonhöhe<br />

gesungen (freie Tonwahl des Sängers)<br />

62<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Die Flucht<br />

Von einem solchen Leben wollte ich nichts mehr wissen. Wer da blieb, der war ein Niemand. Ich wollte fliehen. Immer dachte ich an<br />

die Flucht. Oft konnte ich nicht einschlafen, weil ich an die Flucht dachte. Die meisten Sklaven <strong>für</strong>chteten sich vor dem Leben in den<br />

Bergen. Eingefangen wirst du doch, sagten sie. Ich dachte mir aber: Im Wald ist es besser. Und ich wusste, die Arbeit auf dem Feld,<br />

<strong>das</strong> war wie die Hölle. Da nahm ich mir den Aufseher vor und ließ den Hund nicht mehr aus den Augen. Ich seh' ihn heute noch. Nie<br />

nahm er seinen Hut ab. Die Schwarzen <strong>für</strong>chteten ihn. Mit einem Schlag konnte er einem <strong>das</strong> Fell in Fetzen hauen. Eines Tages hielt<br />

ich es nicht mehr aus. Die Wut fasste mich an wie ein Feuer. Ich pfiff, und er drehte sich um. Da habe ich einen Stein genommen und<br />

ihn mitten in seine Fresse geworfen. Ich habe gut getroffen. Das weiß ich, denn er schrie: Haltet ihn fest! Ich rannte und blieb nicht<br />

mehr stehen, bis ich allein war, in den Bergen, <strong>im</strong> Wald.<br />

http://www.youtube.com/watch?v=WIO84Itsqj4


Sofia Gubaidulina<br />

In tempus praesens, 2. Violinkonzert, gewidmet Anne-Sophie Mutter, UA: 30. August 2007 in Luzern<br />

63<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Lutz Lesle: 48<br />

Ich möchte <strong>im</strong>mer in einer Atmosphäre der Gottesnähe leben und arbeiten, beteuert sie. Komponieren ist <strong>für</strong> mich eine Art<br />

Gottesdienst. Doch zugleich stellte ich mir in diesem Konzert auch eine genuin musikalische Aufgabe ...<br />

Hinter der akustischen „Vorderfront" der <strong>Musik</strong> existiere noch ein geistiger Raum, gibt die Komponistin zu bedenken: eine<br />

D<strong>im</strong>ension des Unsagbaren, die sich vordergründig als formales Problem darstelle, <strong>das</strong> es zu lösen gilt. „Botschaft" ist ihr <strong>für</strong> diese<br />

metamusikalische Ebene ein zu großes Wort. Worin sie sich sicher ist: Komponieren, Formprobleme lösen, Material wählen,<br />

anordnen, verknüpfen, zu Strukturen auskristallisieren, die gegebenenfalls etwas bedeuten oder besagen — all <strong>das</strong> hat <strong>für</strong> sie mit Gott<br />

zu tun, ist — wie <strong>das</strong> Spiel Gidon Kremers oder Wlad<strong>im</strong>ir Tochas — ein religiöser Akt. Es gehe darum, Gott wieder einzuholen: Wir<br />

sind allein gelassen, ohne Gott. Es ist unmöglich, ohne Verbindung zum H<strong>im</strong>mel zu leben. Darin sei sie sich mit Alfred Schnittke<br />

einig: Komponieren heißt beten.<br />

Herwig Zack: 49<br />

Ihr 2007 komponiertes 2. Violinkonzert widmete Sofia Gubaidulina Anne-Sophie Mutter, und in der Tat hat sie ihr <strong>das</strong> halbstündige<br />

Werk in mehr als einer Hinsicht förmlich auf den Leib geschrieben. Da ist zunächst die aus der Namensgleichheit Sofia/Sophie<br />

erwachsende Referenz an jene Heilige Sophia, die in der Orthodoxie Weisheit, Kreativität, <strong>das</strong> Wesen der Kunst schlechthin<br />

verkörpert, <strong>für</strong> die Komponistin nach eigenem Bekunden Quell der Inspiration. Da wäre der in allen fünf attacca verbundenen Teilen<br />

vorherrschende deklamierende, expressiv-sprechende, oft sangliche Duktus, der auch in den lebhaften Abschnitten, in dissonanten<br />

Passagen, bei Glissandi und perkussiven Elementen (col legno-ricochet [mit Springbogen]) stets und zutiefst einem Ideal ästhetischsinnlicher<br />

Schönheit verhaftet erscheint. Und da wäre die durch die ungewöhnliche Instrumentierung – große Bläserbesetzung<br />

inklusive Kontrafagott und Wagnertuben, Klavier, Celesta, Cembalo, zwei Harfen, aber keine Violinen! – noch verstärkte Dominanz<br />

der Sologeige, die sich <strong>im</strong>mer wieder in höchste Höhen zu Helligkeit und Strahlkraft aufschwingt, während <strong>das</strong> Orchester meist die<br />

dunklen Farben und die tiefen Register dagegen setzt.<br />

Dies ist keine Sinfonie mit obligater, <strong>im</strong> Orchester eingebetteter Solovioline, sondern ein Austausch, ja in Abschnitten eine<br />

Auseinandersetzung zwischen Individuum und Kollektiv auf gleichberechtigten Ebenen. Atemberaubende Momente gibt es da, in<br />

denen sich die Spannung ins kaum mehr Erträgliche zu steigern scheint. Für mich besonders eindrucksvoll die Assoziationen eines<br />

Tribunals wachrufende Passage vor der großen Kadenz: Minutenlang fällt <strong>das</strong> Orchester unisono mit drei Akkordschlägen der Geige<br />

ins Wort, die sich verzweifelt gegen <strong>das</strong> ostinate Verdikt zur Wehr setzt. Die chromatisch-virtuose Schlusspassage der Solovioline<br />

verliert sich auf einem fis in höchsten Höhen, darunter ein orchestraler Schwebezustand zwischen D-Dur und d-Moll. Ein großartiges<br />

Werk <strong>für</strong>, trotz hohen geigerischen Anspruchs in keiner Note gegen die Violine<br />

Anne-Sophie Mutter über "In tempus praesens":<br />

http://www.youtube.com/watch?v=h2iGwGbP8ZY<br />

Wb (06.09.2008): 50<br />

48 "Eine Art Gottesdienst". Die religiöse Semantik in der <strong>Musik</strong> Gubaidulinas. In: NZ 1/1992, S. 32 und 33<br />

49 http://www.<strong>das</strong>orchester.de/de_DE/journal/showarticle,32706.html<br />

50 http://www.codexflores.ch/popular.php?art=58


64<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Die <strong>Musik</strong> der russisch-tatarischen Komponistin Sofia Gubaidulina revitalisiert in ihrer außergewöhnlichen Authentizität und<br />

Gefühlskraft Formen der <strong>Musik</strong>auffassung, welche die europäische Avantgarde nach ihrer Absage ans Espressivo offensichtlich<br />

voreilig als überwunden erklärte. Instrumentalkonzerte <strong>im</strong> Allgemeinen und die Exemplare der Gattung <strong>für</strong> Violine <strong>im</strong> Besonderen<br />

haben ihre Blüte zweifelssohne in der Hochromantik erlebt − als Sinnbild <strong>für</strong> die durch <strong>das</strong> aufkommende Bürgertum verkörpernde<br />

Individualisierung des Menschen: Da ist eine fühlende, unverwechselbare und zugleich in Opposition und Harmonie zum Orchester<br />

stehende Persönlichkeit zum Sinnbild des schöpferischen Geistes geworden, die ihre Kraft nicht mehr − wie noch in der Klassik<br />

Haydns und Mozarts − aus der Einbettung in eine ewige Weltordnung, sondern aus dem persönlichen Drang zur Selbstwerdung<br />

schöpft. Diese Verkörperung des Romantischen schien in Alban Bergs Violinkonzert («Dem Andenken eines Engels») voller Trauer<br />

und Todessehnsucht zu einem unwiderruflichen Ende gekommen zu sein, <strong>das</strong> Gefühlsgenie und seine Selbstbehauptung in einer<br />

kalten, materialistischen Welt endgültig démodé [unzeitgemäß].<br />

Sofia Gubaidulina ist es allerdings gelungen, die Form mit ihrem ganzen existentialistischen Pathos glaubwürdig und in ihrem<br />

seelischen Drama scheinbar nahtlos weiterzutragen.... Unter Beweis gestellt hat sie dies bereits mit dem 1981 uraufgeführten<br />

«Offertorium». Damals musste die Partitur dem Geiger Gidon Kremer noch auf abenteuerlichen Wegen zugespielt werden, hatte<br />

dieser sich doch gerade erst dazu entschieden, nicht mehr in den damals noch kommunistischen Osten zurückzukehren, in dem die<br />

Komponistin weiter ausharrte.<br />

...<br />

«In tempus praesens» geht in seiner emotionalen Dichte noch über «Offertorium» hinaus. Es wirkt noch klangmächtiger, strenger<br />

und rätselhafter, so als wolle es die Apokalypse einer untergehenden Welt beschwören, in welcher der Richter H<strong>im</strong>mel und Hölle<br />

teilt und wieder zusammenfügt. Das Soloinstrument wird dabei − als stünde es auf der Anklagebank − vom Orchester abgesondert.<br />

Technisch wird dies durch einen frappanten Kunstgriff realisiert: Die Streicher des Orchesters bestehen einzig aus Bratschen, Celli<br />

und Bässen und überlassen <strong>das</strong> oberste Register alleine der Solistin.<br />

Sofia Gubaidulina: «In tempus praesens», Bach Konzerte <strong>für</strong> Violine und Orchester BWV 1041 und 1042, Anne Sophie Mutter<br />

(Violine), Trondhe<strong>im</strong> Soloists, London Symphony Orchestra, Valery Gergiev (Leitung), Deutsche Grammophon, CD 00289 477<br />

7450.


65<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Reinmar Wagner: 51<br />

’In tempus praesens' betitelte die russische Komponistin ihr Werk, <strong>das</strong> ganz <strong>im</strong> Jetzt sein will, statt Vergangenheit und Zukunft<br />

gegeneinander auszuspielen. Doch in ihrer Komposition stehen einer sehr melodiösen Solo-Violine futuristisch anmutende<br />

Orchesterklänge gegenüber wie <strong>das</strong> Vorgestern dem Übermorgen und versinnbildlichen gerade jenen Taumel zwischen den Zeiten,<br />

der <strong>das</strong> Jetzt auszumachen scheint.“ (Basler Zeitung, 1.9.07)<br />

„Im Zentrum des Interesses aber stand am Donnerstag die Uraufführung von ‚In tempus praesens’, dem zweiten Violinkonzert von<br />

Sofia Gubaidulina mit Anne-Sophie Mutter als Solistin. Die Namensverwandtschaft inspirierte die tatarische Komponistin, der<br />

Sologeige die allegorische Gestalt der Sophia, der göttlichen Weisheit und schöpferischen Kraft, zu verleihen. Sonst gibt es nur tiefe<br />

Streicher, meistens schwebt die Solistin in stratosphärischen Höhen, unbehelligt von den Stürmen des tiefen Blechs unter ihr. Wie<br />

<strong>im</strong>mer ist Gubaidulina enorm dramatisch in ihren Aussagen, sucht die klanglichen Gegensatze und manchmal Extreme, kann aber<br />

auch witzig und neckisch sein.<br />

Robert Jungwirth: 52<br />

„Mit suchender, fast flehentlicher Geste schraubt sich zu Beginn die Sologeige in die Höhe. Schließlich fällt <strong>das</strong> Orchester mit<br />

flirrend silbrig glänzenden Klängen ein. Der Gestus des Suchens bleibt während des gesamten Stücks erhalten. Sofia Gubaidulinas<br />

zweites Violinkonzert ist zweifellos ein Werk der Suche, der Suche nach Wahrheit und Schönheit. Verzweifelt schön klingt denn<br />

auch oft die Solovioline in ihren kantilenenhaften Sequenzen. Natürlich ist <strong>das</strong> Werk auch inspiriert von der Geigerin, <strong>für</strong> die es<br />

geschrieben wurde: Anne Sophie Mutter. Wobei vor allem die Namensgleichheit von Komponistin und Solistin <strong>für</strong> Gubaidulina von<br />

Bedeutung war. Sophia ist die Göttin der Weisheit, die auch in der russischen Orthodoxie verehrt wird. Sie steht <strong>für</strong> <strong>das</strong><br />

schöpferische Prinzip des Daseins, somit <strong>für</strong> die Kunst. ‚Be<strong>im</strong> Komponieren des Stücks hat mich diese Figur <strong>im</strong>mer begleitet’, sagt<br />

Gubaidulina. Der Titel des Werks ‚In tempus praesens’ soll die Hörer zudem <strong>für</strong> <strong>das</strong> Gegenwärtige sensibilisieren, schon lange ein<br />

besonderes Anliegen Gubaidulinas. Sie kritisiert die Gegenwartslosigkeit unserer Zeit, in der <strong>das</strong> Jetzt oft nur als Übergang vom<br />

Vergangenen zum Zukünftigen angesehen wird. Gerade die <strong>Musik</strong> als absolute Gegenwartskunst erhält <strong>für</strong> die Komponistin<br />

philosophische D<strong>im</strong>ensionen. <strong>Musik</strong> ist Aufmerksamkeitskunst, sie fordert die Konzentration auf den Augenblick. Und so ist auch<br />

dieses Stück in der <strong>für</strong> Gubaidulina so bezeichnenden Verbindung aus Innerlichkeit und Expressivität in jedem Moment spannend<br />

und zieht die Aufmerksamkeit des Hörers jederzeit auf sich. Anne-Sopie Mutter lässt den Solopart in warmen Farben leuchten,<br />

vermittelt aber auch <strong>im</strong>mer wieder viel von der Zerbrechlichkeit und Gefährdetheit, die in dieser <strong>Musik</strong> ebenfalls mitschwingt. Vor<br />

allem ausgedrückt durch eine gewisse Bedrohlichkeit <strong>im</strong> Orchester. Differenziert aufgefächert spielt es unter der einfühlsam präzisen<br />

Leitung von S<strong>im</strong>on Rattle. Die hellen Streicher, erste und zweite Geigen, hat Gubaidulina aus dem Stück verbannt. Dadurch entsteht<br />

eine ganz besondere Klangfarbe, die den Kontrast zur oft strahlenden Geige verstärkt. Anne-Sophie Mutter spielt <strong>das</strong> mit nobler<br />

Geste, alles andere als vordergründig, vielmehr mit geradezu meditativem Gehalt.“<br />

Sibylle Ehrismann: 53<br />

„Im Zentrum des Interesses stand die Uraufführung eines neuen Violinkonzerts. Die Paul-Sacher-Stiftung Basel hat es <strong>für</strong> die<br />

Geigerin Anne-Sophie Mutter bei der russisch-tatarischen Komponistin Sofia Gubaidulina in Auftrag gegeben. Gubaidulina, welche<br />

heute bei Hamburg lebt, hat die sowjetische Unterdrückungsherrschaft hautnah erlebt. Im Westen wurde ihre <strong>Musik</strong> erst spät<br />

bekannt, über eine denkwürdige Uraufführung an den Berliner Festwochen 1986, die ihr <strong>das</strong> Tor in den Westen öffnete. Ihre mit<br />

Vorliebe aus den tiefen Klangregionen aufsteigende <strong>Musik</strong>, deren Hang zum Mystisch-Philosophischen eine organisch wachsende<br />

Gestaltungsdynamik energisch belebt, machte Gubaidulina <strong>im</strong> Westen schnell zur internationalen Größe.... Für Anne-Sophie Mutter,<br />

die ihren Kontakt zu führenden Komponisten über den Basler Mäzen Paul Sacher bekam und mehrere bedeutende neue<br />

Violinkonzerte uraufführte, ist Gubaidulinas zweites Violinkonzert ‚In tempus praesens’ eine tongestalterische Herausforderung.<br />

Klanglich ist die solistische Violine sehr exponiert, verzichtet Gubaidulina <strong>im</strong> Orchester doch gänzlich auf die Violinen, es spielen<br />

Bratschen, Celli und Bässe in großer Besetzung. Dazu kommt vierfaches Holz und eine große Blechgruppe mit zusätzlich drei<br />

Wagner-Tuben. Die Solo-Violine wird <strong>im</strong> höchsten Register unhe<strong>im</strong>lich sensibel, vielschichtig und leicht geführt, in h<strong>im</strong>mlischen<br />

Gefilden eben. Mutter vermochte ihren Ton trotz dieser exponierten Lagen jeder neuen Klangfarbe <strong>im</strong> Orchester feinhörig<br />

anzuschmiegen. Und die von S<strong>im</strong>on Rattle transparent und souverän geführten Berliner Philharmoniker integrierten den solistischen<br />

Geigenton mit kammermusikalischer Agilität. Es entwickelte sich eine dialektische Spannkraft zwischen feinsten Nuancen und<br />

eruptiven Tutti, formal stringent und beseelt gespielt.<br />

51 SDA Berner Zeitung, 3.9.07.<br />

http://www.sikorski.de/1806/de/balsam_fuer_die_ohren_presse_zu_sofia_gubaidulinas_violinkonzert_in_tempus_praesens_fuer_anne_sophie_mutter<br />

_in_luzern.html<br />

52 KlassikInfo 3.9.07. ebda.<br />

53 Zürichseezeitung, 1.9.07. ebda.


66<br />

Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW <strong>Musik</strong> <strong>2014</strong>, Teil a, Stand 28.12.2012<br />

Albert Rauch: 54<br />

Bekannt ist aus der Lebensbeschreibung des heiligen Slawenapostels Konstantin-Kyrill, der auch „der Philosoph“ genannt wird, <strong>das</strong>s<br />

er als Jugendlicher in einer Vision <strong>im</strong> Kreis von jungen Mädchen eine sah, die er besonders schön und liebenswert fand und die er<br />

sich als Braut erwählte. Sie offenbarte ihm ihren Namen „Sophia“. Ihr weihte er sein Leben, er wurde „Liebhaber der Weisheit –<br />

Philo-Sophos“- und vielleicht ist dies auch einer der Gründe, warum die nun sich zum Christentum bekehrenden Slawen eine ganz<br />

besondere Beziehung haben zu Sophia – der Göttlichen Weisheit, der sie die ersten Kirchen in Kiew, Nowgorod, Polotzk usw.<br />

weihten und deren Ikonen in gehe<strong>im</strong>nisvoller Weise sich unterscheiden von der griechischen Vorstellung von Sophia und die doch<br />

auch wieder ganz in der christlichen Tradition stehen.<br />

Auch die russischen Denker, so besonders als erster Vlad<strong>im</strong>ir S. Solov’ev, stellen sich <strong>im</strong>mer wieder die Frage, die einst Goethe am<br />

Anfang des Dramas „Dr. Faustus“ formulierte: „Was ist es, was die Welt - <strong>im</strong> Innersten zusammenhält?“ Nur fragen diese östlichen<br />

Menschen: „Wer ist es, der die Welt – <strong>im</strong> Innersten zusammenhält?“ Sie fragen nicht nach einer unpersönlichen Kraft, sie fragen<br />

nicht nach einer platonischen Idee, sondern nach der „Seele des Ganzen“, also eher schon, wie es Goethe am Schluss seines<br />

Faustdramas formuliert: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“. Und wir staunen darüber, <strong>das</strong>s dieser Protestant und Freidenker<br />

Goethe diese ewig-weibliche Gestalt als eine Frau sieht, die er am Schönsten <strong>im</strong> Bild der Gottesmutter erscheinen lässt. Wer ist<br />

diese Gestalt: die An<strong>im</strong>a mundi, die Seele der Welt –duša mira?<br />

Die Antwort ist: Das Weltall ist nicht bloß ein Haufen von leblosen Körpern bis hinunter zu den Molekülen und Atomen, mehr oder<br />

minder geordnet durch Gesetzmäßigkeiten, die man „noch nicht“ ganz erforscht hat, deren Erforschung und Enträtselung sich aber<br />

die menschliche Hybris zutraut.<br />

Sondern diese Schöpfung hat eine Seele, sie ist ein lebendiges Wesen, <strong>das</strong> <strong>das</strong> All als Ganzes beseelt, wie auch jedes seiner Teile,<br />

und <strong>das</strong> <strong>das</strong> Ganze zu einem lebendigen Organismus macht, liebenswert und von Gott grenzenlos geliebt, als Braut, Jungfrau und<br />

Mutter zugleich. Vlad<strong>im</strong>ir S. Solov’ev, dem dre<strong>im</strong>al in seinem Leben diese Gestalt als „Sophia – Allweisheit“ erschienen ist, nennt<br />

sie seine „ewige Freundin“, „die Schönheit, die uns rettet“, die “herrliche Jungfrau“ oder einfach mit dem altrussischen Ausdruck:<br />

Premudrost’ Bošija – Göttliche Weisheit oder Allweisheit, wörtlich „Über-Weisheit“, „Υπερ−Σοφια, Pre-Mudrost“.<br />

Und während bis zur Missionstätigkeit bei den Slawen <strong>im</strong> griechischen Bereich die Weisheit eindeutig identifiziert wurde mit<br />

Christus, dem Logos, „Gottes Kraft und Gottes Weisheit“, kommt nun bei den Slawen ein neuer Aspekt dazu: sie sehen mehr die<br />

geschöpflich-menschliche Seite Christi, die er mit seiner reinsten Mutter gemeinsam hat (Consubstantialis Patri secundum<br />

divinitatem, consubstantialis Matri secundum humanitatem, Papst Leo der Große). Die große Verehrung der „Mutter Erde“ und<br />

verschiedene andere vorchristliche Ahnungen haben ihr nun weibliche Züge gegeben, so ist auch in der altrussischen Sprache die<br />

Übersetzung von Sophia nicht einfach mudrost‘ - Weisheit, sondern Pre-mudrost‘: All-Weisheit, Über-Weisheit. Und ihr zu Ehren<br />

wurden die größten damaligen Sophia-Kirchen gebaut, die ihr Patrozinium jeweils an den Festtagen der Muttergottes haben (Geburt<br />

Mariens 8. September oder Entschlafung Mariens 15. August).<br />

.<br />

54 http://nikowy.homepage.t-online.de/sophia.pdf Albert Rauch

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