4/2010 - Leporello
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4/2010 - Leporello
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individuum<br />
oder Dividuum?<br />
<strong>Leporello</strong> im Gespräch mit Dr. Gerhard Schweppenhäuser, Professor für Design-,<br />
Kommunikations- und Medientheorie an der Fachhochschule Würzburg<br />
„Dein Selbst sind andere Leute,<br />
all die Leute, mit denen du verbunden<br />
bist, und ist es nur ein Faden“.<br />
Mit diesem Zitat von Tom<br />
Wolfe aus „The Bonfire of Vanities“,<br />
New York 1987, wird der<br />
neue Design & Geschichte-Band,<br />
querfeldein 2, aus der Schriftenreihe<br />
der Fakultät Gestaltung der<br />
FH Würzburg-Schweinfurt eingeläutet.<br />
Im Gespräch mit Professor<br />
Dr. Gerhard Schweppenhäuser,<br />
einem der Autoren des Bandes,<br />
sind wir vom Hundertsten ins<br />
Tausendste gekommen, vom Individuum<br />
über l´art pur l´art im<br />
Elfenbeinturm und Designer als<br />
neue Gestalter der „Ware“ Interaktion<br />
bis hin zu der Frage:<br />
„Was ist kulturelle Identität?“. Im<br />
ersten Teil eines sich über mehrere<br />
Ausgaben erstreckenden Artikels<br />
werden wir die Büchse der<br />
Pandora öffnen und über uns,<br />
das Individuum, sprechen, bevor<br />
wir aus dem Elfenbeinturm heraus<br />
nach anderen „Individuen“<br />
Steine werfen…<br />
Nach Ulrich Beck, einem der<br />
bekanntesten Soziologen der<br />
Gegenwart, ist das eigene Leben<br />
die Schnittstelle zweier Unendlichkeiten,<br />
die einmal nach innen<br />
und einmal nach außen verlaufen<br />
und sich verlieren. Demnach<br />
ist das Individuum nicht wie<br />
Nietzsche behauptet das Unteilbare,<br />
sondern das Teilbare, das<br />
Dividuum. Wie sehen Sie das Dr.<br />
Schweppenhäuser? „Die Diskussion<br />
über den Begriff 'Individuum'<br />
steht meiner Meinung nach<br />
auf wackeligen Beinen, da meist<br />
mit einem normativen Begriff<br />
von 'Individuum' operiert wird,<br />
den es so nicht gibt. Bei Individualiät<br />
geht Selbstbestimmtheit<br />
und die Einsicht einher, dass es<br />
ein Trugschluss ist, dass ich eigene<br />
Entscheidungen treffe. Aber<br />
gerade, indem ich das reflektiere,<br />
handle ich selbstbestimmt!“ Das<br />
reflexive Ich ist also der „bodyguard“,<br />
der sich ständig selbst<br />
beobachtet, über sich berichtet<br />
und sich so selbst beschützt.<br />
Dadurch entsteht ein sozial verbindlicher<br />
Diskursraum, der das<br />
eigene Leben nach allen Seiten<br />
hin öffnet. Dieses „Leck“ im eigenen<br />
Ich ist kein Manko und auch<br />
nicht behebbar, es ist die eigene<br />
Welt, die alle Umwelten in sich<br />
vereint, quasi die „kleine Welt<br />
der Umwelten“. So ist das Individuum<br />
doch ein Dividuum, q.e.d.!<br />
Laut Prof. Dr. Gerhard Schweppenhäuser<br />
gibt es kein Individuum,<br />
das sich nicht in Interaktion<br />
mit seiner Umwelt befindet…<br />
und so sind wir beim nächsten<br />
Schlüsselbegriff angekommen.<br />
Ist Interaktion die neue „Ware“<br />
unserer Dienstleistungsgesellschaft,<br />
haben wir den Professor<br />
für angehende Designer und Gestalter,<br />
also Dienstleister, gefragt?<br />
„Wenn Interaktion nur noch<br />
'Ware' ist, verliert sie ihre eigentliche<br />
Qualität als Bestandteil<br />
kommunikativen Handelns. Interaktion<br />
definiert sich für mich<br />
als Austausch von Information<br />
mit der zusätzlichen Erschließung<br />
von Sinn bei der Kommunikation,“<br />
betont Schweppenhäuser.<br />
In unserer Informationsgesellschaft<br />
wird uns Vieles<br />
als „interaktiv“ verkauft, was<br />
das „Label“ nicht verdient. Ein<br />
Computerspiel beispielsweise ist<br />
nicht interaktiv, zumindest nicht<br />
im Sinne Max Webers, der von<br />
einem aktiv handelnden Menschen<br />
ausgeht, und nicht nur von<br />
einem Reagierenden (actio versus<br />
reactio). Während beim „Bloggen“<br />
im Netz Interaktion möglich<br />
ist, da hier eine Sinngebung beim<br />
Austausch von Information nicht<br />
ausgeschlossen ist. „Interaktivität“<br />
und „Vernetzheit“ geht heute<br />
ja soweit, dass Gerhard Schweppenhäuser<br />
von „Interpassivität“<br />
spricht. „Interpassivität“ meint:<br />
Ein User bringt seinen Kommunikationsapparat<br />
in Stellung, damit<br />
dieser mit dem Kommunikationsapparat,<br />
den ein anderer User in<br />
Stellung gebracht hat, kommunizieren<br />
kann“, erklärt der Kommunikations-<br />
und Medienexperte<br />
Schweppenhäuser das Phänomen,<br />
wenn man miteinander<br />
kommuniziert, indem man sich<br />
gegenseitig Nachrichten auf den<br />
Anrufbeantworter spricht. Wenn<br />
wir in einer vernünftigen Welt<br />
leben würden, hätte man durch<br />
diese „Interpassivität“ wieder<br />
Zeit für die wirklich wichtigen<br />
Dinge des Lebens…, aber wir leben<br />
in keiner vernünftigen Zeit…<br />
Fortsetzung folgt…<br />
Susanna Khoury<br />
Foto: schWeppenhäuser, desiGn & Geschichte 2009<br />
Das Interview mit Professor Dr.<br />
Gerhard Schweppenhäuser führte<br />
<strong>Leporello</strong> Chefredakteurin Susanna<br />
Khoury.<br />
kontakt<br />
frank grun<br />
weingartenstraße 20<br />
telefon 0931.7848010<br />
öffnungszeiten<br />
dienstag, mittwoch,<br />
freitag 9 bis 18 uhr<br />
donnerstag 9 bis 21 uhr<br />
samstag 9 bis 14 uhr<br />
spezial<br />
Diskurs<br />
Design & Geschichte, querfeldein<br />
2, Uli Braun, Hans<br />
Höger und Kerstin Stutterheim<br />
(Hrsg.), iSBN: 978-3-<br />
939615-06-4, 330 Seiten,<br />
1. Auflage 2009, 9,80 euro<br />
<strong>Leporello</strong> l 5