4/2010 - Leporello
4/2010 - Leporello
4/2010 - Leporello
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Von wegen Liebe...<br />
„Das Maß der Dinge“ in den Kammerspielen des Mainfranken Theater Würzburg<br />
„Das Maß der Dinge“ – was ist das?<br />
Neil LaBute zeigt in seinem Stück in<br />
den Würzburger Kammerspielen:<br />
Es ist der Mensch, die Menschlichkeit<br />
– jedenfalls sollte er das sein.<br />
Sobald er aber bewusst für irgendwelche<br />
Zwecke instrumentalisiert<br />
wird, so dass er seine Selbstachtung<br />
verliert, läuft das mitmenschlichen<br />
Grundsätzen zuwider. Freiheit der<br />
Kunst? Grenzen? Wahrheit oder Lüge?<br />
Um solche Fragen kreist das unterhaltsame,<br />
aber auch nachdenklich<br />
stimmende Stück. Es fängt ganz<br />
harmlos an, heiter, in einem Museum.<br />
Student Adam, leicht ungepflegt,<br />
schüchtern, jobbt als Wärter,<br />
bewacht Skulpturen. Die attraktive<br />
Kunststudentin Evelyn reizt ihn,<br />
baggert ihn an. In seiner Unsicherheit<br />
fühlt er sich geschmeichelt von<br />
ihren Wünschen: Also verändert<br />
er sein Äußeres, nimmt ab, treibt<br />
Fitness, legt sich ein vorteilhaftere<br />
Frisur zu, eine neue Nase und<br />
neue Kleidung, und er verliebt sich<br />
wahnsinnig in die rätselhafte, stets<br />
kontrollierte Schöne. Schließlich<br />
gibt er für sie seine Freunde auf, die<br />
leicht spießige, aber ehrliche Jenny<br />
und ihren großspurigen Verlobten<br />
Phil. Nur als Evelyn öffentlich ihre<br />
Diplomarbeit vorstellt, geht ihm<br />
ein Licht auf, zu spät. Er wurde nur<br />
benutzt, als lebende Skulptur. Die<br />
Regie von Marcus Rehberger ließ<br />
auf der Bühne mit verschiebbaren<br />
Würfel-Elementen das Ganze wie<br />
eine Versuchsanordnung ablaufen,<br />
in eher salopp-beiläufigem Plauderton.<br />
Manches schien da sogar<br />
witzig, nur schade, dass die Darsteller<br />
so schnell und leise sprachen,<br />
dass man in den hinteren Reihen<br />
vieles nicht verstand. Dadurch<br />
zog sich der Beginn ziemlich hin.<br />
Die wackeligen Videos brachten<br />
wenigstens etwas Abwechslung.<br />
Philipp Reinheimer überzeugte als<br />
knuddeliger Adam, Anne Diemer<br />
umgarnte ihn als chice, selbstbewusst<br />
kühle Evelyn, während Anna<br />
Sjöström als brave, nette Jenny<br />
wirklich Sympathie für Adam zeigt,<br />
von ihrem lässigen, oberflächlichen<br />
Phil, Christian Manuel Oliveira, immer<br />
mehr abrückt. Das Ende: Ernüchterung.<br />
Von wegen Liebe…<br />
Renate Freyeisen<br />
Foto: nico manGer<br />
nicht zu verzeihen…<br />
Ballast sind sie, die Alten, die nicht so bald sterben wollen und nur die Budgets schmälern.<br />
Stinkender Ballast sind sie, hässlich, spleenig, Nervensägen. Besser nicht konfrontiert<br />
werden mit diesem Ballast. Und gleichzeitig damit, dass man bald selbst zu diesem<br />
Ballast gehören wird. Also an den Rand mit ihnen. Mit sprachlich-selbstverliebtem Einfallsreichtum<br />
will der 1973 geborene Däne Christian Lollike in seinem Stück „Verzeihung,<br />
ihr Alten, wo finde ich Zeit, Liebe und ansteckenden Irrsinn?“ die Brutalität der Ballast-<br />
Einstellung gegenüber den Alten aufdecken. „Pflegeheimdrama“ nennt sich sein Stück,<br />
das Deborah Epstein für das Mainfranken Theater in Szene setzte. Irrsinnig ist das vor<br />
Exzentrik triefende Stück in der Tat. Irrsinnig inkompetent etwa sind die in weißen Reinraumanzügen<br />
agierenden Pfleger des Heims „Frydendal“. Irrsinnig ebenso die zu „Gästen“<br />
deklarierten Bewohner. Mit dem Thema „Pflegeheim“ jedoch hat das Stück nichts,<br />
aber auch nicht das Allergeringste zu tun. An Einfalt und Peinlichkeit nicht zu überbieten<br />
sind jene Szenen, in denen sich Valentin (Kai Markus Brecklinghaus) in die 81jährige<br />
Vera (Maria Vogt) verliebt. Dass eine solche Liebe „zum Kotzen“ ist, wird überdeutlich<br />
demonstriert. Die permanent überforderte Heimleiterin (Maria Brendel) stößt ab in ihrer<br />
albernen Inkompetenz, Anne Simmerings inkontinente, Windel schwingende Sängerin<br />
vermag in keiner Weise, Betroffenheit zu erregen. Zwei Szenen hätten berühren können:<br />
Das gemeinsame Essenschlürfen vor zweckmäßig-abwaschbarem Plastiktischtuch<br />
und die Badeszene. Beide Szenen werden ohne Not plump zerstört, bevor sie ihre empathische<br />
Kraft entfalten können. Dass sich Epstein entschied, Kinder als Kommentatoren<br />
einzuflechten, als sei es nicht genug, dass in<br />
Würzburg die Straßenbahn unbedingt Kinderstimmen<br />
zur Ansage einfangen musste,<br />
vermag weder für Kontraste noch für kritische<br />
Distanz zu sorgen. Allenfalls verweist<br />
es auf das inhaltliche Niveau der Inszenierung,<br />
die keineswegs, wie angekündigt, „liebevoll,<br />
schonungslos und voller Poesie“ ist.<br />
Wie sagte doch der ältere Herr in der achten<br />
Reihe nach zwei Stunden Irrsinnsdarbietung:<br />
„Das ist Theater zum Abgewöhnen.“<br />
Fotos: Falk von Traubenberg Pat Christ<br />
bühne<br />
Rezension<br />
ernüchterung als resümee,<br />
überzeugend dargeboten von<br />
Philipp reinheimer, Anne Diener,<br />
Christian Manuel Oliveira<br />
und Anna Sjöström (v.l.n.r.)<br />
<strong>Leporello</strong> l 19