Forschungsreport Daten – Innovation – Privatheit

Mit Inverser Transparenz das Gestaltungsdilemma der digitalen Arbeitswelt lösen. Forschungsreport von Andreas Boes, Thomas Hess, Alexander Pretschner, Tobias Kämpf, Elisabeth Vogl (Hrsg.) Mit Inverser Transparenz das Gestaltungsdilemma der digitalen Arbeitswelt lösen. Forschungsreport von Andreas Boes, Thomas Hess, Alexander Pretschner, Tobias Kämpf, Elisabeth Vogl (Hrsg.)

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19.05.2022 Aufrufe

Menschen Zugriff auf die Kameras und die von ihnen erzeugtenDaten hätten.Im Zeitalter einer voranschreitenden Digitalisierung bestehtfür ihn die Gefahr vor allem darin, dass die Datennutzungin Zukunft in den Händen weniger monopolisiert wird und soim Sinne von George Orwells „Big Brother“ einer neuen Qualitätvon Überwachung Vorschub leisten könnte. Die Verbreitungneuer Technologien abzuwehren, erscheint ihm als ein „Kampfgegen Windmühlen“. Vielmehr ist für ihn Offenheit und dasEmpowerment der „Gefilmten“ der zentrale Schlüssel, uminformationelle Selbstbestimmung zu stärken. Seine Idee „reziprokerTransparenz“ setzt deshalb auf das Prinzip „Watch theWatcher“: Transparenz meint dann vor allem, dass Individuen,deren Daten erhoben werden, selbst nachvollziehen können,welche Daten über sie entstehen, wer diese konkret nutzt, wiesie genutzt werden oder auch wie sie miteinander verknüpftwerden. Brin geht davon aus, dass die „Datensubjekte“ hierdurchprinzipiell Handlungsmacht gewinnen und zum Beispieldie Möglichkeit erhalten, die Verletzung von Freiheits- undPrivatheitsrechten zu erkennen und zu problematisieren.Mit unserem Ansatz der Inversen Transparenz knüpfen wiran diese vielschichtigen Überlegungen an. Die entscheidendeHerausforderung ist dabei, dieses „Gedankenexperiment“ zueinem konkreten Gestaltungsansatz weiterzuentwickeln.Insbesondere stellt sich die Frage, wie sich dieser Ansatz aufein Feld wie die Arbeitswelt übertragen lässt und wie er hierumgesetzt werden kann. Gerade mit Blick auf die besonderensozialen Beziehungen, die charakteristischen asymmetrischenMachtverhältnisse und die persönliche Abhängigkeitder Beschäftigten vom Arbeitgeber bestehen hier besondereHerausforderungen.2_ Transparenz in der Arbeitswelt: Informatisierungals soziologische Perspektive26Für eine Operationalisierung und Umsetzung InverserTransparenz gelten in der Arbeitswelt spezifische, mitunterwidersprüchliche Ausgangsbedingungen. Das Spannungsfeldzwischen Innovation und Kontrolle kommt hier sehr zugespitztzum Ausdruck. Die Arbeitswelt ist auf der einen Seite der Ort,an dem heute die Potenziale und neuen Möglichkeiten derInformationsökonomie entwickelt und umgesetzt werden.Sie bildet den Maschinenraum und das Innovationslaborder digitalen Transformation. Neue Anforderungen an dieInnovationsprozesse können dabei auch gewachsene Organisationenmit hierarchischen Arbeitskulturen in Bewegungbringen. Auf der anderen Seite bleibt jedoch in diesem sozialenFeld weiterhin das asymmetrische Machtverhältnis zwischenArbeitgeber und Arbeitnehmer konstitutiv. Dieses kommt zumBeispiel im Weisungsrecht des Arbeitgebers zum Ausdruck,das heißt dieser kann über Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauerund Ort der Arbeitsleistung bestimmen. a Wer etwa als Konsumentoder Konsumentin Apps und digitale Anwendungennutzt, hat zumindest prinzipiell das Recht, einer Erfassungund Nutzung der dabei anfallenden Daten zu widersprechen.Als Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer hingegen, der oderdie in einem Abhängigkeitsverhältnis zu seinem oder ihremArbeitgeber steht, hat man diese Option kaum. Auch wennder Einsatz von IT-Systemen der kollektiven Mitbestimmungunterliegt, hat der einzelne Beschäftigte bei deren Nutzungkaum Entscheidungsmöglichkeiten. Als integraler Bestandteilder Arbeitsprozesse ist diese für die meisten Beschäftigtenein nicht zu hintergehender „Sachzwang“ im betrieblichenArbeitsalltag. Insbesondere die dabei anfallenden Daten undihre Verwendung bleiben hier für die meisten eine kaum zukontrollierende „Black-Box“.Für einen differenzierten Blick auf Inverse Transparenz unddie damit verbundenen Potentiale für eine nachhaltige Gestaltungder digitalen Arbeitswelt erweist sich vor allem die Soziologieals fruchtbarer Ausgangspunkt. Zum einen eignet sicheine soziologische Perspektive in besonderer Weise dafür, diespezifischen Machtasymmetrien in der Sphäre Arbeit gezielt zureflektieren. Zum anderen gibt es gerade in der Arbeitssoziologieeine lange Tradition, sich mit der Entwicklung von Transparenzund Kontrolle in der Arbeitswelt auseinanderzusetzen.Eine wichtige theoretisch-konzeptionelle Grundlage dafürbildet der Ansatz der Informatisierung (vgl. dazu z.B. Boes 7 ;Schmiede 23 ). Aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektivewerden hier die Entwicklung von Informationssystemenund die damit verbundene Erzeugung von Transparenz überdie Vorgänge in der Welt systematisch zum Gegenstand gemachtund als wesentliches Moment der gesellschaftlichenProduktivkraftentwicklung gefasst. So rückt nicht nur dieSphäre der Arbeit in den Fokus, sondern es wird zugleich eindialektischer Zugang eröffnet: in den Blick geraten sowohl dieII – BERICHTE

neuen Gefahren von Überwachung und Kontrolle wie auchdie gesellschaftlichen Potenziale einer neuen Qualität datenbasierterTransparenz.2.1 Was ist Informatisierung?Das, was wir heute landläufig als „Transparenz“ oder „gläserneGesellschaft“ bezeichnen, ist soziologisch gefasst, Ausdruckeines immer weiter fortschreitenden gesellschaftlichenProzesses der Informatisierung. Informatisierung beschreibtzunächst sehr allgemein die Materialisierung von individuellem,an einzelne Personen gebundenem Wissen in allgemeinnutzbare Informationen und deren systematische Erfassungund Weiterverarbeitung in Informationssystemen (vgl. dazuauch Boes 7 ). Frühe Beispiele dafür sind die Verschriftlichungund der Buchdruck oder auch die Entwicklung der doppeltenBuchführung in den Handelsgesellschaften des ausgehendenMittelalters. Was auf den ersten Blick wie ein akademischesNischenthema erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtungals eine grundlegende Triebkraft der Entwicklung vonArbeit und der gesellschaftlichen Produktivkräfte. Wie derEinsatz immer neuer Werkzeuge – vom Hammer bis zu denkomplexen Maschinensystemen der „großen Industrie“ (Marx)– die Handarbeit revolutionierte, bildet die Informatisierungdas Pendant für die historische Entfaltung der Produktivkräftevon Kopfarbeit.Im Kern geht es dabei darum, geistige Tätigkeiten zuvergegenständlichen und in eine materielle Form zu bringen,damit das, was – salopp formuliert – im Kopf eines Menschenpassiert, auch für andere Menschen anschlussfähig, nutzbarund zugänglich wird: Aus personengebundenem Wissen wirdüberindividuell nutzbare Information, aus situativen Beobachtungenwerden kontinuierliche Aufzeichnungen über dieVorgänge in der Welt, die schließlich in Informationssystemenimmer weiter systematisiert werden und ein immer genaueresAbbild der Welt erzeugen. Diese „Materialisierung des Informationsgebrauchs“(Boes 7 , 215) schafft so zum Beispiel die Voraussetzungdafür, dass auch geistige Tätigkeit „transparent“und zu einem kollektiven Arbeitsprozess wird. Informatisierungmacht so kollektives Lernen, das systematische Aufbauen aufden Erkenntnisfortschritten anderer und damit eine gesellschaftlichorganisierte Weiterentwicklung von Produktivkräftenerst möglich. Auch ihre Methoden, Verfahren und Technikenselbst werden in der Folge immer wieder zum Gegenstand vonInnovation, Rationalisierung und Produktivitätsschüben.2.2 Informatisierung und die Entwicklungvon ArbeitFolgt man diesem Ansatz, hat der gesellschaftliche Prozessder Informatisierung und die Erzeugung von Transparenz nichterst mit der Digitalisierung begonnen. Seine grundlegendehistorische Bedeutung wird zum Beispiel deutlich im Zusammenspielmit der Herausbildung des Kapitalismus. Dieseist eng verknüpft mit wichtigen Entwicklungsschüben aufSeiten der Informatisierung wie etwa der Herausbildung derdoppelten Buchführung (siehe dazu z.B. Sombart 24 ). b Zugespitztformuliert: Ohne die Fortschritte der Informatisierungsind der Aufstieg des Kapitalismus, die damit verbundenengesellschaftlichen Umwälzungen und die damit einsetzendeEntfaltung der Produktivkräfte kaum denkbar.Auch die mit dem Kapitalismus einhergehende Industrialisierungist eng verbunden mit der Informatisierung. Siebasiert nicht allein auf der sprichwörtlichen „Dampfmaschine“,sondern zugleich auf einer sich parallel vollziehenden Informatisierungder Wertschöpfungsprozesse. Komplementär zuden gigantischen Maschinensystemen der „großen Industrie“(Marx) wächst in der von Max Weber beschriebenen „bürokratischenOrganisation“ (1967) der Industrieunternehmenein regelrechter „papierner Apparat“ (Jeidels 18 ). In immer komplexerwerdenden Informationssystemen werden hier Datenüber die materielle Welt wie zum Beispiel die Auslastung derProduktion oder die Fehlerhäufigkeit aufgezeichnet, systematisiertund zu nutzbaren Informationen ausgewertet. DieInformationssysteme werden so zu einem informatorischen„Spiegel“ der Abläufe in der Organisation, die „Ströme aus Papier“(Braverman 11 ) zum Pendant der Fließbänder in der Fabrik.Sie dienen nun einer neu entstehenden und rasch wachsendenBeschäftigtengruppe – den Angestellten in den Büros – dazu,die Arbeitsprozesse ausgehend von der Informationsebene zuplanen, zu rationalisieren und zu kontrollieren. Der damaligePräsident von General Motors, Alfred Sloan, verkündete schonAnfang des 20. Jahrhunderts, auf dieser Grundlage das Unternehmen„rein nach den Zahlen gesteuert zu haben“ (Womacket al. 26 , 44 ).Auch für die Gestaltung der Arbeitsabläufe selbst wirddie Informatisierung in den industriellen Großunternehmen zueinem zentralen Ausgangspunkt. Dafür steht insbesondere die„wissenschaftliche Betriebsführung“ des US-amerikanischenIngenieurs Frederick Taylor. Folgt man den Analysen von HarryBraverman (siehe Braverman 11 ), geht es im „Taylorismus“ umweit mehr als die berühmt gewordene „Zergliederung“ vonArbeit. Vielmehr fußt Taylors Konzept auf drei eng mit derInformatisierung verknüpften Grundprinzipien: der Loslösungdes unmittelbaren Arbeitsprozesses von den individuellenFertigkeiten der Arbeitenden, der Trennung von Planung und27II – BERICHTE

neuen Gefahren von Überwachung und Kontrolle wie auch

die gesellschaftlichen Potenziale einer neuen Qualität datenbasierter

Transparenz.

2.1 Was ist Informatisierung?

Das, was wir heute landläufig als „Transparenz“ oder „gläserne

Gesellschaft“ bezeichnen, ist soziologisch gefasst, Ausdruck

eines immer weiter fortschreitenden gesellschaftlichen

Prozesses der Informatisierung. Informatisierung beschreibt

zunächst sehr allgemein die Materialisierung von individuellem,

an einzelne Personen gebundenem Wissen in allgemein

nutzbare Informationen und deren systematische Erfassung

und Weiterverarbeitung in Informationssystemen (vgl. dazu

auch Boes 7 ). Frühe Beispiele dafür sind die Verschriftlichung

und der Buchdruck oder auch die Entwicklung der doppelten

Buchführung in den Handelsgesellschaften des ausgehenden

Mittelalters. Was auf den ersten Blick wie ein akademisches

Nischenthema erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung

als eine grundlegende Triebkraft der Entwicklung von

Arbeit und der gesellschaftlichen Produktivkräfte. Wie der

Einsatz immer neuer Werkzeuge – vom Hammer bis zu den

komplexen Maschinensystemen der „großen Industrie“ (Marx)

– die Handarbeit revolutionierte, bildet die Informatisierung

das Pendant für die historische Entfaltung der Produktivkräfte

von Kopfarbeit.

Im Kern geht es dabei darum, geistige Tätigkeiten zu

vergegenständlichen und in eine materielle Form zu bringen,

damit das, was – salopp formuliert – im Kopf eines Menschen

passiert, auch für andere Menschen anschlussfähig, nutzbar

und zugänglich wird: Aus personengebundenem Wissen wird

überindividuell nutzbare Information, aus situativen Beobachtungen

werden kontinuierliche Aufzeichnungen über die

Vorgänge in der Welt, die schließlich in Informationssystemen

immer weiter systematisiert werden und ein immer genaueres

Abbild der Welt erzeugen. Diese „Materialisierung des Informationsgebrauchs“

(Boes 7 , 215) schafft so zum Beispiel die Voraussetzung

dafür, dass auch geistige Tätigkeit „transparent“

und zu einem kollektiven Arbeitsprozess wird. Informatisierung

macht so kollektives Lernen, das systematische Aufbauen auf

den Erkenntnisfortschritten anderer und damit eine gesellschaftlich

organisierte Weiterentwicklung von Produktivkräften

erst möglich. Auch ihre Methoden, Verfahren und Techniken

selbst werden in der Folge immer wieder zum Gegenstand von

Innovation, Rationalisierung und Produktivitätsschüben.

2.2 Informatisierung und die Entwicklung

von Arbeit

Folgt man diesem Ansatz, hat der gesellschaftliche Prozess

der Informatisierung und die Erzeugung von Transparenz nicht

erst mit der Digitalisierung begonnen. Seine grundlegende

historische Bedeutung wird zum Beispiel deutlich im Zusammenspiel

mit der Herausbildung des Kapitalismus. Diese

ist eng verknüpft mit wichtigen Entwicklungsschüben auf

Seiten der Informatisierung wie etwa der Herausbildung der

doppelten Buchführung (siehe dazu z.B. Sombart 24 ). b Zugespitzt

formuliert: Ohne die Fortschritte der Informatisierung

sind der Aufstieg des Kapitalismus, die damit verbundenen

gesellschaftlichen Umwälzungen und die damit einsetzende

Entfaltung der Produktivkräfte kaum denkbar.

Auch die mit dem Kapitalismus einhergehende Industrialisierung

ist eng verbunden mit der Informatisierung. Sie

basiert nicht allein auf der sprichwörtlichen „Dampfmaschine“,

sondern zugleich auf einer sich parallel vollziehenden Informatisierung

der Wertschöpfungsprozesse. Komplementär zu

den gigantischen Maschinensystemen der „großen Industrie“

(Marx) wächst in der von Max Weber beschriebenen „bürokratischen

Organisation“ (1967) der Industrieunternehmen

ein regelrechter „papierner Apparat“ (Jeidels 18 ). In immer komplexer

werdenden Informationssystemen werden hier Daten

über die materielle Welt wie zum Beispiel die Auslastung der

Produktion oder die Fehlerhäufigkeit aufgezeichnet, systematisiert

und zu nutzbaren Informationen ausgewertet. Die

Informationssysteme werden so zu einem informatorischen

„Spiegel“ der Abläufe in der Organisation, die „Ströme aus Papier“

(Braverman 11 ) zum Pendant der Fließbänder in der Fabrik.

Sie dienen nun einer neu entstehenden und rasch wachsenden

Beschäftigtengruppe – den Angestellten in den Büros – dazu,

die Arbeitsprozesse ausgehend von der Informationsebene zu

planen, zu rationalisieren und zu kontrollieren. Der damalige

Präsident von General Motors, Alfred Sloan, verkündete schon

Anfang des 20. Jahrhunderts, auf dieser Grundlage das Unternehmen

„rein nach den Zahlen gesteuert zu haben“ (Womack

et al. 26 , 44 ).

Auch für die Gestaltung der Arbeitsabläufe selbst wird

die Informatisierung in den industriellen Großunternehmen zu

einem zentralen Ausgangspunkt. Dafür steht insbesondere die

„wissenschaftliche Betriebsführung“ des US-amerikanischen

Ingenieurs Frederick Taylor. Folgt man den Analysen von Harry

Braverman (siehe Braverman 11 ), geht es im „Taylorismus“ um

weit mehr als die berühmt gewordene „Zergliederung“ von

Arbeit. Vielmehr fußt Taylors Konzept auf drei eng mit der

Informatisierung verknüpften Grundprinzipien: der Loslösung

des unmittelbaren Arbeitsprozesses von den individuellen

Fertigkeiten der Arbeitenden, der Trennung von Planung und

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