Nr. 83 - Sommer 2022
Mont Saint-Michel: die Geheimnisse des "Gefängnisbergs" Drôme: die Schönheit der Dörfer Okzitanien: Céret, das "Mekka des Kubismus" Territoire de Belfort: die Stärke der Kleinen
Mont Saint-Michel: die Geheimnisse des "Gefängnisbergs"
Drôme: die Schönheit der Dörfer
Okzitanien: Céret, das "Mekka des Kubismus"
Territoire de Belfort: die Stärke der Kleinen
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
UNTERWEGS IN FRANKREICH Île-de-France / Yvelines<br />
senden. Es scheint, als ob der spanische König – über die<br />
Blutsbande zu Ludwig XVI. hinaus – wohl an den jüngsten<br />
Entdeckungen der Franzosen interessiert war, vor allem was<br />
die Bodenbestellung anging. So kam es, dass der französische<br />
Botschafter am spanischen Hof die Erlaubnis bekam,<br />
Merinoschafe auszuwählen – und das noch dazu bei den<br />
zehn besten Züchtern des Landes. Karl III. ging sogar so<br />
weit, die Schafbesitzer aufzufordern,<br />
ihre besten Tiere zu präsentieren<br />
und die Zusammenstellung der<br />
Herde für seinen Cousin zu erleichtern.<br />
So kam es also dazu, dass am<br />
12. Oktober 1786 die berühmten<br />
366 Merinoschafe in Rambouillet<br />
ankamen.<br />
Der Krieg der Schafe<br />
In den Jahren nach der Ankunft<br />
der Schafe nahm die Bergerie<br />
royale de Rambouillet allmählich<br />
Gestalt an. Die imposanten<br />
Gebäude waren schließlich fertig<br />
und der Ort entwickelte sich zu<br />
einer Art « Drehscheibe » für das<br />
damalige Wissen, vor allem was<br />
Zuchttechniken anging. Man begann<br />
mit ersten fundierten wissenschaftlichen<br />
Forschungen über die<br />
Reproduktion der Merinoschafe.<br />
Abgesehen davon zeichnete sich<br />
nach und nach ein neues Ziel für<br />
die Schäferei ab: Sie sollte eine<br />
führende Rolle im Rahmen eines<br />
ausgedehnten Projektes für die<br />
Entwicklung der Wollproduktion<br />
spielen, zunächst in Frankreich<br />
und dann, im Zuge der revolutionären<br />
und kaiserlichen Eroberungen, in den angeschlossenen<br />
Ländern. Napoleon Bonaparte (1769-1821) sah<br />
darin eine gute und willkommene Möglichkeit, durch<br />
die Herstellung von Wolle im eigenen Land die englische<br />
Dominanz im Handel anzugreifen. Er beschloss, aus der<br />
Schäferei in Rambouillet eine « kaiserliche Schäferei » zu<br />
machen, die das zentrale Element im Rahmen der geplanten<br />
« Merinosierung » nicht nur des französischen, sondern<br />
des europäischen Tierbestandes sein sollte. Die Schäferei<br />
in Rambouillet wurde damit de facto ein politisches und<br />
strategisches Werkzeug des Kaisers. Was folgte, war ein<br />
Wirtschafts- und Handelskrieg zwischen den verschiedenen<br />
Nationen, ein regelrechter « Krieg der Schafe »!<br />
« Depots reinrassiger Merinowidder »<br />
Für alle, die noch tiefer<br />
einsteigen möchten:<br />
Für die Einkreuzung von Merinoschafen in die französischen<br />
Herden stützte sich Napoleon auf das kleine<br />
Wenn Sie sich für dieses Thema<br />
interessieren, empfehlen wir Ihnen<br />
das exzellente Buch La guerre des<br />
Moutons: Le Mérinos à la conquête<br />
du monde 1786-2021 (Pierre Cornu<br />
und Henri Pinoteau, Gourcuff<br />
Gradenigo, 208 Seiten, 2021, 29 €,<br />
ISBN 978-2353403431). Das Werk ist<br />
ausgesprochen umfassend und<br />
gut belegt, es enthält zahlreiche<br />
Grafiken, Aquarelle und Fotografien.<br />
Eine Fundgrube interessanter<br />
Informationen!<br />
bestehende Netz an Schäfereien, welches die Krone nach<br />
und nach aufgebaut hatte. Die erste Schäferei war beispielsweise<br />
in Perpignan gegründet worden, in der Nähe<br />
von Betrieben mit Schafen einer lokalen Rasse, die vor<br />
der Ankunft der spanischen Merinoschafe in Rambouillet<br />
zu den Tieren mit der besten Wolle des Königreiches<br />
zählten. Der Ansatz, die lokalen Schafrassen mit den<br />
Merinoschafen aus Rambouillet<br />
zu kreuzen, wurde allmählich auf<br />
rund zehn Schäfereien im Land<br />
ausgeweitet. Diese Schäfereien arbeiteten<br />
in ihrer Gesamtheit jedoch<br />
nur mittelmäßig und Frankreich<br />
war noch weit von den <strong>83</strong>3 000<br />
Tieren entfernt, die man Schätzungen<br />
zufolge benötigte, um die Manufakturen<br />
des Landes zu betreiben,<br />
ohne Wolle aus dem Ausland<br />
importieren zu müssen. Daher entschied<br />
sich Napoleon für eine noch<br />
viel dirigistischere Vorgehensweise.<br />
Er kreierte sogenannte « Depots<br />
reinrassiger Merinowidder », welche<br />
als einzige die französischen<br />
Schafe decken durften. Per Dekret<br />
vom 8. März 1811 verfügte er, dass<br />
die « autorisierten Zuchttiere » in<br />
« von Privatpersonen geführten Depots<br />
» untergebracht würden, « die<br />
zur kostenlosen Verfügung aller<br />
Züchter stehen, die, wenn sie sich<br />
in der Nähe eines Depots befinden,<br />
alle gekreuzten männlichen Tiere<br />
kastrieren müssen ». Um dies zu<br />
kontrollieren, wurde ein regelrechter<br />
Verwaltungsapparat eingerichtet,<br />
doch das System war ein Misserfolg.<br />
Aufgrund fehlender Mittel<br />
gab es Anfang 1813 lediglich 28 solcher Depots, anstatt<br />
der geplanten 60. Selbst mit Napoleon war Frankreich<br />
weit davon entfernt, seinen Tierbestand « merinosiert » zu<br />
haben.<br />
Die letzten reinrassigen Merinoschafe<br />
Das Ende des Ersten Kaiserreichs war gleichzeitig<br />
auch das Ende der französischen Pläne für eine Vormachtstellung<br />
in der europäischen Wollindustrie. Um<br />
die Zukunft der Schäferei in Rambouillet war es dagegen<br />
besser bestellt, denn sie besaß immer noch ihren unbezahlbaren<br />
Schatz, nämlich die Herde reinrassiger Merinoschafe.<br />
Vor allem aber hatte sie sich im Laufe der Jahre<br />
ein wertvolles Know-how angeeignet. Dieses trug in den<br />
folgenden Jahrzehnten zu ihrem Ruf bei, als sich plötzlich<br />
Länder der südlichen Hemisphäre (Australien, Neuseeland,<br />
Südafrika) ebenfalls für Wolle, Merinoschafe und<br />
52 · Frankreich erleben · <strong>Sommer</strong> <strong>2022</strong>