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Nr. 83 - Sommer 2022

Mont Saint-Michel: die Geheimnisse des "Gefängnisbergs" Drôme: die Schönheit der Dörfer Okzitanien: Céret, das "Mekka des Kubismus" Territoire de Belfort: die Stärke der Kleinen

Mont Saint-Michel: die Geheimnisse des "Gefängnisbergs"
Drôme: die Schönheit der Dörfer
Okzitanien: Céret, das "Mekka des Kubismus"
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UNTERWEGS IN FRANKREICH Normandie / Manche<br />

Die Wandvertäfelung aus Holz in der Kirche Saint-Pierre zu Füßen<br />

des Klosterbergs. Heute vergisst man oft, dass diese schöne Arbeit<br />

von Inhaftierten des ehemaligen Gefängnisses realisiert wurde.<br />

Für alle, die noch tiefer einsteigen möchten:<br />

Jérémie Halais recherchiert seit vielen Jahren über den<br />

Mont Saint-Michel als Haftanstalt. Er wertete zahlreiche<br />

Quellen aus dem Staatsarchiv und aus den Archiven<br />

des Departements Manche aus. Vor Kurzem beendete<br />

er eine sehr umfassende Studie über dieses Thema.<br />

Er ist der Erste, der sich so intensiv mit dieser Zeit<br />

auseinandergesetzt hat. Quasi<br />

als Vorpremiere stellte uns der<br />

Autor für diese Reportage einige<br />

Auszüge zur Verfügung, wofür wir<br />

ihm herzlich danken. Das Werk ist<br />

Ende des Jahres im Buchhandel<br />

erhältlich, und wird zweifellos ein<br />

unumgängliches Referenzwerk<br />

über die Zeit des Mont Saint-Michel<br />

als Gefängnis werden.<br />

Jérémie Halais, La prison du mont<br />

Saint-Michel 1792-1864, Éditions<br />

Lemme Edit, circa 500 Seiten, Preis<br />

noch nicht bekannt, ISBN 978-<br />

2492818134. Im Buchhandel<br />

erhältlich ab 24. November<br />

<strong>2022</strong>.<br />

zeigen unter anderem elegante Frauen, die während eines<br />

Besuchs im Gefängnis posieren, vor allem im Kreuzgang,<br />

manchmal an der Seite von Häftlingen. Im Grunde ging<br />

vom Mont und dem Gefängnis eine gewisse Faszination<br />

aus. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass berühmte<br />

Autoren sich für ihn zu interessieren begannen. Einer<br />

von ihnen war Victor Hugo (1802-1885). « Ein sehr seltsamer<br />

Ort, dieser Mont Saint-Michel! », schrieb er 1<strong>83</strong>6<br />

anlässlich eines Besuchs. Aus der Ferne war er zunächst<br />

von diesem « erhabenen Etwas », dieser « wundervollen<br />

Pyramide » angetan, beim Näherkommen faszinierte ihn<br />

die Arbeit der Menschen, die dazu beigetragen hatten,<br />

dieses « Wunder » zu konstruieren. Als er jedoch die Insel<br />

betrat, war die Ernüchterung groß: Seinen Worten nach<br />

war das Dorf « ekelhaft », von einer « schrecklichen Unsauberkeit<br />

». Was das Gefängnis anging, so betrachtete<br />

er es als erbärmlich. Einige Tage nach seinem Besuch<br />

schrieb er Folgendes an seine Frau: « Stell dir ein Gefängnis<br />

vor, das in dieser herrlichen Hülle für Priester und<br />

Ritter aus dem vierzehnten Jahrhundert eingerichtet ist.<br />

Eine Kröte in einem Reliquienschrein. » Zurück in der<br />

Hauptstadt berichtete der große Schriftsteller und Politiker,<br />

gegenüber jedem, der es hören wollte, detailliert über<br />

seine Eindrücke anlässlich des Besuches und prangerte<br />

offen die Nutzung der Abtei als Gefängnis an. Aus dem<br />

romanischen Kirchenschiff war, so schrieb er, ein « widerlicher<br />

Speisesaal », geworden, der « charmante Kreuzgang<br />

mit den zierlichen Spitzbögen » war in einen schmutzigen<br />

Gang verwandelt worden und der Rittersaal, das<br />

ehemalige Skriptorium, in eine « Spinnerei, in der sich<br />

Gefangene abrackern ». Als größten Frevel prangerte<br />

Hugo nachdrücklich die Installation eines ausgesprochen<br />

unschönen « Teils » auf der Spitze der Abteikirche<br />

an, das eine Respektlosigkeit gegenüber dem Ort sei: ein<br />

Telegraf, der Vorläufer des Telefons. Seine Worte und die<br />

zahlreicher anderer Persönlichkeiten und Intellektueller<br />

trugen Früchte: Am 20. Oktober 1863 ordnete ein kaiserliches<br />

Dekret die definitive Schließung des Gefängnisses<br />

an. Was folgte, war ein neues Abenteuer: die Restaurierung<br />

und die Öffnung im großen Stil für den Tourismus.<br />

Das Kapitel « Gefängnis » in der Geschichte des Mont<br />

Saint-Michel war auf jeden Fall abgeschlossen.<br />

Bevor wir den Klosterberg verlassen, erinnert uns<br />

François Saint-James jedoch daran, dass man diese Zeit<br />

auf keinen Fall vergessen darf. Als wir in seiner Begleitung<br />

von der Abtei die Grand‘Rue hinuntergehen, biegt<br />

er plötzlich nach rechts zur kleinen Kirche Saint-Pierre<br />

ab, die zu Füßen des Hügels liegt. Die meisten Touristen<br />

gehen an ihr vorbei, ohne sie zu beachten. Sie besitzt<br />

ein kostbares Holzmobiliar, unter anderem eine fein geschnitzte<br />

Wandtäfelung in einer der Kapellen. « Fast niemand<br />

beachtet sie heute, aber sie wurde von Häftlingen<br />

des Gefängnisses geschnitzt », erfahren wir von François<br />

Saint-James. Mit diesem Wissen erhält ihr Anblick eine<br />

ganz neue Bedeutung. Genauso wie dieser Besuch des<br />

Mont Saint-Michel abseits der ausgetretenen Pfade.<br />

34 · Frankreich erleben · <strong>Sommer</strong> <strong>2022</strong>

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