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Nr. 83 - Sommer 2022

Mont Saint-Michel: die Geheimnisse des "Gefängnisbergs" Drôme: die Schönheit der Dörfer Okzitanien: Céret, das "Mekka des Kubismus" Territoire de Belfort: die Stärke der Kleinen

Mont Saint-Michel: die Geheimnisse des "Gefängnisbergs"
Drôme: die Schönheit der Dörfer
Okzitanien: Céret, das "Mekka des Kubismus"
Territoire de Belfort: die Stärke der Kleinen

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der Inhaftierten waren keine Aspekte, an die man einen<br />

Gedanken verschwendete. Offenbar ging es nur darum,<br />

alles « so gut wie eben möglich » zu machen. Der Gipfel<br />

der Ironie: Im Bestreben, Kosten zu sparen, schreckte die<br />

Staatsgewalt nicht einmal davor zurück, die Gefangenen<br />

selbst für bestimmte Arbeiten einzusetzen. Man war<br />

demzufolge sehr weit von dem entfernt, was man unter<br />

einem modernen Gefängnis versteht. In vielen Fällen<br />

nutzte man die bestehende Gebäudestruktur, beispielsweise<br />

vorhandene Zellen und Kerker. In anderen Fällen,<br />

zum Beispiel im ehemaligen Refektorium der Mönche,<br />

zog man eine Decke ein, sodass der obere Teil als Schlafsaal<br />

genutzt werden konnte, während unten eine Werkstatt<br />

eingerichtet wurde. Nach demselben Prinzip wurde<br />

auch das Kirchenschiff der ehemaligen Abtei verwandelt:<br />

Eingezogene Decken teilten den Raum in drei Ebenen<br />

auf. François Saint-James weist bei Besichtigungen regelmäßig<br />

darauf hin, dass deren Spuren heute noch zu sehen<br />

sind. Auf diese Weise entstanden ein Speisesaal für die<br />

Häftlinge, ein Schlafsaal und ebenfalls eine Werkstatt.<br />

In den angrenzenden Kapellen wurden Webereien und<br />

Schuhmachereien eingerichtet, der ehemalige Rittersaal<br />

wurde zur Spinnerei umfunktioniert, der Wandelgang des<br />

Klosters diente als Hutfabrik. Die Abtei war kaum mehr<br />

wiederzuerkennen.<br />

Eine Art ausgedehnte « Fabrik »<br />

Die Gefängnisverwaltung beschränkte sich demnach<br />

nicht nur darauf, aus der Abtei eine Haftanstalt zu machen,<br />

sondern sie verwandelte sie gleichzeitig in eine Art<br />

ausgedehnte « Fabrik », deren offizielle Bestimmung es<br />

war, die Gefangenen « zu beschäftigen », damit diese mit<br />

den Früchten ihrer Arbeit einen großen Teil ihrer Unterbringungskosten<br />

selbst finanzierten. Überall entstanden<br />

unterschiedlichste Arbeitsbereiche, in denen Wolle gesponnen<br />

wurde, Stoffe gewoben oder Strohhüte gefertigt<br />

wurden. Insofern darf man sich die Abtei in dieser Epoche<br />

nicht – wie es naheliegend wäre – als Ort vorstellen,<br />

an dem Mönche ein ruhiges Leben mit Beten und Arbeiten<br />

zubrachten; es war vielmehr eine Ansammlung von<br />

Ein umstrittenes Thema: Hat das Gefängnis den<br />

Mont Saint-Michel vor dem Verfall gerettet?<br />

Standpunkt von Jérémie Halais, Doktor für<br />

Geschichte, Experte für die Geschichte der<br />

Normandie im 19. Jahrhundert und Autor<br />

eines demnächst erscheinenden Werkes<br />

über das Gefängnis auf dem Mont Saint-<br />

Michel.<br />

Jérémie Halais, man sagt manchmal, dass das<br />

Gefängnis, das sich von 1792 bis 1864 auf dem<br />

Klosterberg befand, diesen – und vor allem die Abtei – vor<br />

dem Verfall gerettet habe. Wie denken Sie darüber?<br />

Sicher ist, dass sich die Abtei Ende des 18. Jahrhunderts<br />

in einem sehr schlechten Zustand befand, dass sie zum<br />

Großteil verlassen war. Aufgrund der Tatsache, dass dort<br />

ein Gefängnis eingerichtet wurde, führte man einige<br />

Arbeiten durch, und die riesigen Gebäude wurden im<br />

Laufe der Jahre zumindest minimal instand gehalten.<br />

Unter diesem Aspekt hat das Gefängnis sicher dazu<br />

beigetragen, einen Verfall der Abtei zu verhindern,<br />

zumindest was das Gebäude an sich angeht. Dennoch<br />

glaube ich nicht, dass die Abtei ohne das Gefängnis<br />

« eingestürzt » wäre, wie manche behaupten. Oft wird<br />

der furchtbare Brand im Jahr 1<strong>83</strong>4 zitiert, bei dem die<br />

Abtei in der Tat beinahe zerstört worden wäre. Sicher, in<br />

diesem Zusammenhang erinnert man gerne daran, dass<br />

Aufseher und Gefangene dabei halfen, die Flammen zu<br />

löschen und so das Gebäude retteten. Doch dabei vergisst<br />

man gerne, dass es während der « Gefängniszeit » der<br />

Abtei mindestens zehn Brände gab, die gerade von den<br />

Häftlingen oder dem Personal ausgelöst wurden … Daher<br />

ist es schwierig, diese Zeit als « positiv » für den Mont Saint-<br />

Michel einzustufen. Man darf zudem nicht vergessen,<br />

dass der Staat für den Unterhalt seines Gefängnisses so<br />

wenig Geld wie möglich ausgeben wollte. Eine « Null-<br />

Kosten-Politik », aufgrund derer beispielsweise einer der<br />

Direktoren auf der Suche nach Material für dringende<br />

Reparaturarbeiten in der Abtei gezwungen war, Steine<br />

direkt aus der Stadtmauer zu entnehmen. Auch auf die<br />

Gefahr hin, dass diese einstürzt … Insofern betrachte ich<br />

die Aussage, das Gefängnis habe die Abtei « gerettet » sehr<br />

differenziert. Man kann vielleicht sagen, dass es die Abtei<br />

« am Leben erhalten » hat. Im Übrigen muss man sich nur<br />

die Berichte der Architekten der Monuments historiques<br />

nach Schließung des Gefängnisses ansehen: Alle sind sich<br />

darin einig, dass es eine regelrechte Ruine war!<br />

Frankreich erleben · <strong>Sommer</strong> <strong>2022</strong> · 31

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