2022_05_20_Kent_Nagano

Ewige Frage,
schweigende Druiden
Charles Ives’
»The Unanswered Question«
Wer sich mit Leben und Werk des USamerikanischen
Komponisten Charles
Ives beschäftigt, stößt immer wieder auf
eine eigenartige, scheinbar widersprüchliche
Mischung aus Bodenständigkeit
und Mystizismus, aus Realitätssinn und
gedanklicher Radikalität. Schon Ives’
Vater George muss als Organist und Chorleiter,
Musiklehrer und Dirigent diverser
Blaskapellen ein sehr praktischer Mann
gewesen sein – einerseits. Doch andererseits
experimentierte er mit Vierteltönen,
Polytonalität und Raumklangwirkungen,
lange bevor diese Eingang in die neue
Musik fanden. Ihn trieb dabei nicht
kompositorischer Ehrgeiz, sondern reine
Neugier. Anders als sein Vater entschied
sich Charles Ives gegen eine Musiker-
Laufbahn. Er arbeitete zunächst bei einer
Versicherungsgesellschaft und führte
später erfolgreich ein eigenes Unternehmen;
das Komponieren betrachtete er als
Freizeitbeschäftigung, auch wenn es ihn
zeitweise kaum weniger beanspruchte als
sein Brotberuf. An Aufführungen seiner
Musik dachte er nicht, und so musste er
auch keine Rücksicht auf Interpreten und
Publikum nehmen. Er konnte mit den
Traditionen der europäischen Klassik
brechen, zahlreiche Neuerungen des
20. Jahrhunderts vorwegnehmen und
zum ersten wirklich eigenständigen Komponisten
der USA werden.
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