Spectrum_03_2022
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KULTUR
Text Helene-Shirley Ermel
Foto Johanna A. Ullrich
Agnes ist eher nicht tot
Der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm hielt am 6. April eine
Lesung an der Universität Freiburg. Mit Spectrum sprach er über
seine Schriftstellerkarriere.
Wann haben Sie mit dem Schreiben
begonnen? Wovon handelte
Ihre erste Geschichte?
Ich war keiner dieser Autor*innen, die mit
zehn Jahren ihre ersten Bücher geschrieben
hatten. So ungefähr mit zwanzig habe
ich entschieden, dass ich schreiben will. Ich
habe vorher schon gern geschrieben, auch
in der Schule. Es war jedoch nie so, dass ich
dachte, ich schreibe jetzt ein Buch.
Mein erstes Buch spielt in Soglio, einem
Bergdorf im Bergell. Es war schon eine Beziehungsgeschichte,
wie ich sie heute auch
schreibe, aber es war viel zu durchgeplant,
viel zu gewollt. Es war auf jeden Fall gar
nicht gut.
An welchem Werk hat Ihnen die Arbeit
am meisten Freude bereitet?
Also im Grunde ist es von Buch zu Buch
nicht so verschieden. Bei dem Buch, das ich
gerade geschrieben habe, hatte ich wirklich
grossen Spass, weil die Erzählerin eine sehr
lustige Person ist. Ich wollte immer ein lustiges
Buch schreiben und ich glaube, jetzt ist
es mir zum ersten Mal gelungen. Obwohl
gewisse Leute sagen, es sei überhaupt nicht
lustig, finde ich es ziemlich lustig.
Spiegeln die Beziehungen in Ihren
Büchern Ihre eigenen Beziehungen
wieder?
Natürlich, wenn ich nie verliebt gewesen
wäre, würde ich nicht über verliebte Leute
schreiben. Ich schreibe oft über kreative
Menschen, die in kreativen Berufen arbeiten.
Natürlich hat das damit zu tun, dass ich
diese Berufe einfach kenne und mich gut in
sie hineinfühlen kann. Ich habe so ein Spektrum
von Figuren, die ich beschreiben kann,
aber nie die Absicht gehabt, irgendwas über
mich zu veröffentlichen.
Das Ende ihres Debütromans
«Agnes» ist relativ offen. Wissen Sie
selbst, warum?
Wenn meine Enden offen sind, dann weiss
ich auch nicht mehr. Es ist nicht so, dass ich
das Ende weiss, es aber nicht verrate. Das
wäre fies. Wenn es nicht im Buch entschieden
ist, dann ist es auch in meinem Kopf
Peter Stamm an der Lesung in der Miséricorde
«Man sollte sich nicht
täuschen und glauben, es
gäbe eine Wirklichkeit.
Das Buch ist das Buch,
mehr ist da nicht.»
Peter Stamm
nicht entschieden. Ich kann meine Bücher
natürlich interpretieren, aber die Interpretation
ändert sich über die Jahre. Damals
habe ich gedacht, Agnes ist tot. Heute denke
ich, sie ist eher nicht tot. Das steht nicht
im Buch, das ist meine persönliche Meinung
als Leser und nicht als Autor. Man sollte sich
nicht täuschen und glauben, es gäbe eine
Wirklichkeit. Das Buch ist das Buch, mehr
ist da nicht.
«Agnes» ist 1998 erschienen. Wieso
sind Ihre Romane noch relevant?
Naja, ob sie das sind… Ich hoffe, dass Literatur
eine längere Halbwertszeit hat als ein
Zeitungsartikel. Letztendlich muss immer
das Publikum entscheiden, ob sie noch relevant
sind. Mir ist erst aufgegangen, als
ich mit «Agnes» in Schulen war, dass dieses
Bildnis-Thema heute noch viel stärker ist,
als es damals war – dieses Sich-ein-Bild-machen
von den anderen, von sich selbst. Wir
haben oft gesagt, es ist fast ein Facebook-
Roman. Es geht darum, wie wir Bilder von
uns machen und diese Bilder wiederum eine
Wirkung auf uns haben und uns schaden
können.
Welchen Ratschlag würden Sie denen
geben, die auch gerne irgendwann
vom Schreiben leben möchten?
Ich sage immer, ich kann diesen Beruf niemandem
empfehlen, aber ich finde es den
tollsten Beruf überhaupt. Es ist kein Beruf,
den man bei der Berufsberatung empfohlen
kriegt, weil es wahnsinnig schwierig ist. Man
muss das Schreiben ernst nehmen und viel
arbeiten. Viel lesen und viel leben vor allem.
In meinem nächsten Buch geht es um einen
Autor; der wichtigste Satz für ihn wäre vielleicht
I don’t give a shit. Einfach sagen, es
ist mir egal, was die Leute denken. Wenn
ich Erfolg haben will, muss ich meinen Weg
gehen und nicht den Weg, den sich andere
für mich vorstellen. Ob es dann gelingt, ist
eine andere Frage. Wenn man es aber nicht
einmal versucht, dann hat es überhaupt keinen
Sinn. P
Das volle Interview
findet ihr hier
8 spectrum 05.22