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6 KULTUR JOKER THEATER Theater

Das Wunder Rosemarie

Leben und Tod der Frankfurter Edelprostituierten

Rosemarie Nitribitt als entlarvendes Zeitporträt der

Fünfzigerjahre im Theater der Immoralisten

Chris Meiser

spielt die Rosemarie

Foto: Immoralisten

Die Person

Rosemarie Nitribitt stammte

aus ärmlichen und zerrütteten

Verhältnissen. Einweisungen in

Kinderheime, später in eine Pflegefamilie

und eine Vergewaltigung

mit elf Jahren prägten ihre

früheste Jugend. Auf sich allein

gestellt arbeitete sie noch minderjährig

als Kellnerin, Mannequin

und schon früh als Prostituierte.

Sie landete zwangsweise für ein

Jahr in einer Erziehungsanstalt.

Dort nach Ausbrüchen entlassen,

baute sie sich in Frankfurt

mit einer Mischung aus Mut,

höchster Willenskraft und Sparsamkeit

eine Existenz als selbstbestimmte

Sexarbeiterin auf.

Ihre Kunden kamen zum Teil

aus höchsten Gesellschaftskreisen,

aus Wirtschaft, Politik und

Sport. Rosemarie Nitribitt avancierte

im Zuge der Nachkriegs-

Wirtschaftswunderjahre zur

Großverdienerin. Man fand sie

am 1. November 1957 ermordet

und halb verwest in ihrem Appartement.

Das Stück

Das Stück aus der Feder von

Theaterleiter Manuel Kreitmeier

beginnt mit diesem tragischen

Ende: Schon beim Einlass des Publikums

liegt im Bühnenraum die

Titelfigur (Chris Meiser) in einer

Blutlache am Boden eines bis ins

Detail sorgfältig komponierten

Appartements aus den Fünfzigern

des vergangenen Jahrhunderts.

In einem Prolog erscheinen

nacheinander die Personen ihres

unmittelbaren Umfelds: Da ist

der Kurzwaren-Vertreter Heinz

Pohlmann (Jochen Kruß), der als

Rosemaries Hausfreund eine gewisse

Beschützerfunktion erfüllt

und in ihrem Lichte sich sonnend

an ihrem materiellen Aufstieg

partizipiert. Als Homosexueller

steht er durch den damals existierenden

§175 permanent mit

einem Bein im Gefängnis. Dazu

gehört auch die nur vermeintlich

tollpatschige Putzfrau Erna

Kröger (Christina Beer), die sehr

geschickt und zielgenau ihren eigenen

Vorteil anpeilt. Schließlich

noch der historisch wohl letzte

Freier von Rosemarie, der Ladenbesitzer

Rudolf Endler (Sebastian

Ridder) aus München,

der mit heruntergelassener Hose,

Schiesser-Doppelripp Slip und

Strumpfhaltern hinter einem Paravent

hervorkommt, wo er auf

Rosemarie gewartet hatte, damit

sie ihm die ersehnten Schläge

mit der Reitpeitsche gibt. Es

dauert eine Weile, bis die drei

den Leichnam Rosemaries wahrnehmen.

Der erste Schreck legt

sich bald und die scheinheiligen

Lobreden auf Rosemarie und die

blumigen Versprechungen, den

Mord aufzuklären, mutieren zur

verbalen Leichenfledderei. Denn

vor allem gilt ihr Interesse der der

mit Bargeld wohlgefüllten Schublade

im Schrank und der eigenen

Zukunft.

Inmitten dieses Vorspiels

kommt Rosemarie zu sich und

wird im Folgenden zur souveränen

Herrin der Lage. Sie

durchschaut die erbärmliche

Selbstsucht ihrer Umgebung

und hält den dreien ihren durch

harte Arbeit und strengste Disziplin

erworbenen Erfolg entgegen.

Sie habe es geschafft. Sie

könne jederzeit ihren ein-Karat-

Brillantring durch einen von

drei-Karat Gewicht ersetzen und

ihren Mercedes 190 durch einen

300-er. Gleichwohl erkennt sie:

„Ich bin eine Ware, wie wir alle

nur noch eine Ware sind. Und ich

will mich zum bestmöglichen

Preis verkaufen“. Das ist aber nur

der Weg zum eigentlichen Ziel,

den sie nüchtern und drastisch

beschreibt: „Verkaufen und kaufen,

sich vögeln lassen und investieren,

und dann irgendwann

einmal leben.“ Damit ist nicht

noch mehr materieller, sondern

gesellschaftlicher Aufstieg gemeint.

Sie weiß: Jemand wie

sie kann nur durch eine Ehe mit

einem Mann aus besten Kreisen

dorthin gelangen. Konkret hat

sie „Harry“ im Auge. Gemeint ist

Harald von Bohlen und Halbach,

der millionenschwere in der Villa

Hügel residierende Erbe aus der

Krupp-Dynastie, der auch real zu

Rosemaries Kunden zählte. Dieser

kommt nach der Pause (Florian

Wetter) ins Spiel. Im Dialog

mit ihm zerstiebt Rosemaries Illusion.

Harry sucht und findet bei

ihr Ruhe, Verständnis und einen

temporären Fluchtpunkt aus dem

normierten High-Society-Leben

seiner Familie, denkt aber trotz

durchaus vorhandener Zuneigung

nicht im Traum daran, die

Beziehung zu ihr offen zu leben.

Hier wird das Stück endgültig zur

Tragikomödie und die Inszenierung

bietet reichlich Stoff, über

die eigentlichen Gewinner und

Verlierer dieser Affäre nachzudenken.

Der Mord wurde niemals

aufgeklärt, jede Menge Indizien

sprechen für eine bewusst mangelhaft

betriebene Aufklärung

des Verbrechens.

In Personalunion in der Verantwortung

von Text, Bühne, Kostüm

und Regie gebührt Manuel

Kreitmeier zweifellos der Hauptanteil

an dieser fulminanten

Analyse der doppelten Moral des

prosperierenden Wirtschaftsbooms

der Fünfzigerjahre. Ein großer

Wurf nach der erzwungenen

Corona-Pause.

Weitere Termine: www.immoralisten.de

Auf ein Neues

Das Freiburg Festival „Performing Democracy“ findet vom 26. Mai bis 2. Juni statt

Man kann verstehen, dass das

Team des Freiburg Festival wenig

Anlass sah, das Motto der letzten

Ausgabe „Performing Democracy“

zu ändern. Mehr denn je,

muss Demokratie ausgehandelt

werden und wer sie schätzt, darf

sie nicht voraussetzen. Und das

Selbstbewusstsein, dass das Theater

nicht der schlechteste Ort ist,

sie einzuüben oder sichtbar zu

machen, konnten auch diverse

Lockdowns nicht schmälern.

Nachdem die letzte Ausgabe

2020 der Pandemie zum Opfer

fiel, darf man für 2022 einigermaßen

optimistisch sein, dass

das Freiburg Festival vom 26.

Mai bis 2. Juni stattfinden kann.

Mit einem Volumen von 240.000

Euro ist es kaum das Festival

mit dem üppigsten Etat, aber das

Besondere an ihm ist, dass sich

mit dem Theater Freiburg, dem

E-Werk und dem Theater im Marienbad

gleich drei Institutionen

der Stadt zusammentun, es inhaltlich

zu planen und durchzuführen.

Der Verschiebung bringt mit

sich, dass nun auch ältere Arbeiten

zu sehen sind, die bislang ihr

Publikum kaum fanden. „Oratorium“

von She She Pop ist so eine

Produktion, die 2019 Premiere

feierte und von der Gruppe selbst

als „Kollektive Andacht zu einem

wohlgehüteten Geheimnis“ bezeichnet

wird. Es wird um Geld

gehen und da dies alle angeht,

wird das Thema am 1. und 2. Juni

von Chören behandelt. Und weil

Demokratie Teilhabe ist und diese

nicht allein über Geld – über dieses

aber auch – funktioniert, wird

ein programmatischer Strang

Partizipation sein. So haben sich

drei ehemalige Profi-Fußballer

aus Kamerun und Nigeria zum

Star Boy Collective vereint und

fordern in der Performance „Reverse

Colonialism!“ einen neuen

Staat für afrikanische Europäer

und europäische Afrikaner (26.

und 27. Mai). Die Produktion

wird das Festival eröffnen. Und

auch junge Erwachsene wollen

ihre Zukunft selbst gestalten.

In der Koproduktion vom jungen

Theater Basel und Henrike

Iglesias klärt eine Gruppe von

Jugendlichen ihr Verhältnis zu

sich selbst und zur Welt (31. Mai

und 1. Juni). Eine europäische

Dekolonisation betreibt Nicoleta

Esinencu mit „Sinfonie des

Fortschritts“. Die Performance

der moldawischen Künstlerin,

die Anfang dieses Jahres im

HAU uraufgeführt wurde, fragt

nach den Arbeitsbedingungen

von Osteuropäern in Westeuropa

und auch nach unserer Solidarität.

Weiter geht es mit einer installativen

Performance „Mount

Agerage“ von Julian Hetzel über

Geschichtsschreibung durch

Denkmäler, während Silke Huysmans

und Hannes Dereere in ihrem

Stück „Pleasant Island“ vom

Inselstaat Nauru erzählen, dem

seine Phosphatvorkommen kein

Glück brachten. Heute ist Nauru

verarmt und lebt von den Geldern,

die Australien dafür zahlt,

auf Nauru ein Internierungslager

für Geflüchtete zu führen.

Ein Rahmenprogramm zeigt

mit „Die wärmsten Jahre“, „Die

Traumfabrik“ und einer Performance

von Jasmine Tutum

jeweils eine Produktion der beteiligten

Häuser sowie Filme von

Milo Rau und Renaud Barret im

Koki. Ein Ukraine-Abend ist in

Planung.

Weitere Informationen unter

www.freiburgfestival.de

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