flip-Joker_2022-05
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6 KULTUR JOKER THEATER Theater
Das Wunder Rosemarie
Leben und Tod der Frankfurter Edelprostituierten
Rosemarie Nitribitt als entlarvendes Zeitporträt der
Fünfzigerjahre im Theater der Immoralisten
Chris Meiser
spielt die Rosemarie
Foto: Immoralisten
Die Person
Rosemarie Nitribitt stammte
aus ärmlichen und zerrütteten
Verhältnissen. Einweisungen in
Kinderheime, später in eine Pflegefamilie
und eine Vergewaltigung
mit elf Jahren prägten ihre
früheste Jugend. Auf sich allein
gestellt arbeitete sie noch minderjährig
als Kellnerin, Mannequin
und schon früh als Prostituierte.
Sie landete zwangsweise für ein
Jahr in einer Erziehungsanstalt.
Dort nach Ausbrüchen entlassen,
baute sie sich in Frankfurt
mit einer Mischung aus Mut,
höchster Willenskraft und Sparsamkeit
eine Existenz als selbstbestimmte
Sexarbeiterin auf.
Ihre Kunden kamen zum Teil
aus höchsten Gesellschaftskreisen,
aus Wirtschaft, Politik und
Sport. Rosemarie Nitribitt avancierte
im Zuge der Nachkriegs-
Wirtschaftswunderjahre zur
Großverdienerin. Man fand sie
am 1. November 1957 ermordet
und halb verwest in ihrem Appartement.
Das Stück
Das Stück aus der Feder von
Theaterleiter Manuel Kreitmeier
beginnt mit diesem tragischen
Ende: Schon beim Einlass des Publikums
liegt im Bühnenraum die
Titelfigur (Chris Meiser) in einer
Blutlache am Boden eines bis ins
Detail sorgfältig komponierten
Appartements aus den Fünfzigern
des vergangenen Jahrhunderts.
In einem Prolog erscheinen
nacheinander die Personen ihres
unmittelbaren Umfelds: Da ist
der Kurzwaren-Vertreter Heinz
Pohlmann (Jochen Kruß), der als
Rosemaries Hausfreund eine gewisse
Beschützerfunktion erfüllt
und in ihrem Lichte sich sonnend
an ihrem materiellen Aufstieg
partizipiert. Als Homosexueller
steht er durch den damals existierenden
§175 permanent mit
einem Bein im Gefängnis. Dazu
gehört auch die nur vermeintlich
tollpatschige Putzfrau Erna
Kröger (Christina Beer), die sehr
geschickt und zielgenau ihren eigenen
Vorteil anpeilt. Schließlich
noch der historisch wohl letzte
Freier von Rosemarie, der Ladenbesitzer
Rudolf Endler (Sebastian
Ridder) aus München,
der mit heruntergelassener Hose,
Schiesser-Doppelripp Slip und
Strumpfhaltern hinter einem Paravent
hervorkommt, wo er auf
Rosemarie gewartet hatte, damit
sie ihm die ersehnten Schläge
mit der Reitpeitsche gibt. Es
dauert eine Weile, bis die drei
den Leichnam Rosemaries wahrnehmen.
Der erste Schreck legt
sich bald und die scheinheiligen
Lobreden auf Rosemarie und die
blumigen Versprechungen, den
Mord aufzuklären, mutieren zur
verbalen Leichenfledderei. Denn
vor allem gilt ihr Interesse der der
mit Bargeld wohlgefüllten Schublade
im Schrank und der eigenen
Zukunft.
Inmitten dieses Vorspiels
kommt Rosemarie zu sich und
wird im Folgenden zur souveränen
Herrin der Lage. Sie
durchschaut die erbärmliche
Selbstsucht ihrer Umgebung
und hält den dreien ihren durch
harte Arbeit und strengste Disziplin
erworbenen Erfolg entgegen.
Sie habe es geschafft. Sie
könne jederzeit ihren ein-Karat-
Brillantring durch einen von
drei-Karat Gewicht ersetzen und
ihren Mercedes 190 durch einen
300-er. Gleichwohl erkennt sie:
„Ich bin eine Ware, wie wir alle
nur noch eine Ware sind. Und ich
will mich zum bestmöglichen
Preis verkaufen“. Das ist aber nur
der Weg zum eigentlichen Ziel,
den sie nüchtern und drastisch
beschreibt: „Verkaufen und kaufen,
sich vögeln lassen und investieren,
und dann irgendwann
einmal leben.“ Damit ist nicht
noch mehr materieller, sondern
gesellschaftlicher Aufstieg gemeint.
Sie weiß: Jemand wie
sie kann nur durch eine Ehe mit
einem Mann aus besten Kreisen
dorthin gelangen. Konkret hat
sie „Harry“ im Auge. Gemeint ist
Harald von Bohlen und Halbach,
der millionenschwere in der Villa
Hügel residierende Erbe aus der
Krupp-Dynastie, der auch real zu
Rosemaries Kunden zählte. Dieser
kommt nach der Pause (Florian
Wetter) ins Spiel. Im Dialog
mit ihm zerstiebt Rosemaries Illusion.
Harry sucht und findet bei
ihr Ruhe, Verständnis und einen
temporären Fluchtpunkt aus dem
normierten High-Society-Leben
seiner Familie, denkt aber trotz
durchaus vorhandener Zuneigung
nicht im Traum daran, die
Beziehung zu ihr offen zu leben.
Hier wird das Stück endgültig zur
Tragikomödie und die Inszenierung
bietet reichlich Stoff, über
die eigentlichen Gewinner und
Verlierer dieser Affäre nachzudenken.
Der Mord wurde niemals
aufgeklärt, jede Menge Indizien
sprechen für eine bewusst mangelhaft
betriebene Aufklärung
des Verbrechens.
In Personalunion in der Verantwortung
von Text, Bühne, Kostüm
und Regie gebührt Manuel
Kreitmeier zweifellos der Hauptanteil
an dieser fulminanten
Analyse der doppelten Moral des
prosperierenden Wirtschaftsbooms
der Fünfzigerjahre. Ein großer
Wurf nach der erzwungenen
Corona-Pause.
Weitere Termine: www.immoralisten.de
Auf ein Neues
Das Freiburg Festival „Performing Democracy“ findet vom 26. Mai bis 2. Juni statt
Man kann verstehen, dass das
Team des Freiburg Festival wenig
Anlass sah, das Motto der letzten
Ausgabe „Performing Democracy“
zu ändern. Mehr denn je,
muss Demokratie ausgehandelt
werden und wer sie schätzt, darf
sie nicht voraussetzen. Und das
Selbstbewusstsein, dass das Theater
nicht der schlechteste Ort ist,
sie einzuüben oder sichtbar zu
machen, konnten auch diverse
Lockdowns nicht schmälern.
Nachdem die letzte Ausgabe
2020 der Pandemie zum Opfer
fiel, darf man für 2022 einigermaßen
optimistisch sein, dass
das Freiburg Festival vom 26.
Mai bis 2. Juni stattfinden kann.
Mit einem Volumen von 240.000
Euro ist es kaum das Festival
mit dem üppigsten Etat, aber das
Besondere an ihm ist, dass sich
mit dem Theater Freiburg, dem
E-Werk und dem Theater im Marienbad
gleich drei Institutionen
der Stadt zusammentun, es inhaltlich
zu planen und durchzuführen.
Der Verschiebung bringt mit
sich, dass nun auch ältere Arbeiten
zu sehen sind, die bislang ihr
Publikum kaum fanden. „Oratorium“
von She She Pop ist so eine
Produktion, die 2019 Premiere
feierte und von der Gruppe selbst
als „Kollektive Andacht zu einem
wohlgehüteten Geheimnis“ bezeichnet
wird. Es wird um Geld
gehen und da dies alle angeht,
wird das Thema am 1. und 2. Juni
von Chören behandelt. Und weil
Demokratie Teilhabe ist und diese
nicht allein über Geld – über dieses
aber auch – funktioniert, wird
ein programmatischer Strang
Partizipation sein. So haben sich
drei ehemalige Profi-Fußballer
aus Kamerun und Nigeria zum
Star Boy Collective vereint und
fordern in der Performance „Reverse
Colonialism!“ einen neuen
Staat für afrikanische Europäer
und europäische Afrikaner (26.
und 27. Mai). Die Produktion
wird das Festival eröffnen. Und
auch junge Erwachsene wollen
ihre Zukunft selbst gestalten.
In der Koproduktion vom jungen
Theater Basel und Henrike
Iglesias klärt eine Gruppe von
Jugendlichen ihr Verhältnis zu
sich selbst und zur Welt (31. Mai
und 1. Juni). Eine europäische
Dekolonisation betreibt Nicoleta
Esinencu mit „Sinfonie des
Fortschritts“. Die Performance
der moldawischen Künstlerin,
die Anfang dieses Jahres im
HAU uraufgeführt wurde, fragt
nach den Arbeitsbedingungen
von Osteuropäern in Westeuropa
und auch nach unserer Solidarität.
Weiter geht es mit einer installativen
Performance „Mount
Agerage“ von Julian Hetzel über
Geschichtsschreibung durch
Denkmäler, während Silke Huysmans
und Hannes Dereere in ihrem
Stück „Pleasant Island“ vom
Inselstaat Nauru erzählen, dem
seine Phosphatvorkommen kein
Glück brachten. Heute ist Nauru
verarmt und lebt von den Geldern,
die Australien dafür zahlt,
auf Nauru ein Internierungslager
für Geflüchtete zu führen.
Ein Rahmenprogramm zeigt
mit „Die wärmsten Jahre“, „Die
Traumfabrik“ und einer Performance
von Jasmine Tutum
jeweils eine Produktion der beteiligten
Häuser sowie Filme von
Milo Rau und Renaud Barret im
Koki. Ein Ukraine-Abend ist in
Planung.
Weitere Informationen unter
www.freiburgfestival.de