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THEATER KULTUR JOKER 5

Von der Elbe ausgespuckt

Im Theater Freiburg wird Stef Lernous‘ Inszenierung von „Draußen vor der Tür“ von der Wirklichkeit überholt

Ein solcher Mann kommt nach

Deutschland: graues Haar, Militärmantel,

schleppender Gang,

lächerliche Brille. 1947 konnte

man noch wissen, was eine Gasmaskenbrille

ist. Jetzt könnte es

einen wieder kümmern. In Stef

Lernous‘ Inszenierung für das

Theater Freiburg ist Hartmut

Stanke der heimkehrende Beckmann

in Wolfgang Borcherts

Nachkriegsstück „Draußen vor

der Tür“. Stanke ist 1943 geborenen

und der Text gehört zu

seinen ersten Erfahrungen mit

dramatischer Literatur. Ende der

1950er Jahre sprach er in einem

Hörspiel Walter Kempowskis den

Beckmann. Eine kurze Sequenz

aus dieser Aufnahme ist jetzt

auch am Anfang der Aufführung

im Kleinen Haus zu hören. Dass

Stanke nun als Beckmann auf

der Bühne steht, ist neben der

biografischen Koinzidenz auch

interessant für die Inszenierung.

Beckmann, der in Borcherts

Stück ein 25-jähriger ehemaliger

Kriegsgefangener ist, wird so zu

einem alten Mann, den der Krieg

ganz um sein Leben gebracht

hat. Er ist ein Wiedergänger aller

Kriege, die seitdem die Erde

überzogen haben. Und jetzt nicht

an den Angriffskrieg Russlands

gegen die Ukraine zu denken,

würde sehr viel Abstraktionsvermögen

voraussetzen.

Die Elbe hat Beckmann auf

den Kai gespuckt. Da liegt er

nun als vereitelter Selbstmörder

neben einem ganzen Schwall

toter Fische. In Sven Van Kuijks

Von Serien kennt man das

Phänomen des Prequels. Wenn

der Stoff sich als tauglich erwiesen

hat, folgt er der Produktionslogik

und wird durch

Vorgeschichten und Nebenhandlungen

erweitert. Auf

der Bühne ist das eher ungewöhnlich.

Zumal, wenn es

um Goethes Faust geht. Nur

wenige wagen sich an Faust

II, der dem Autor selbst so

ungeheuerlich erschien, dass

das Drama erst nach dessen

Tod veröffentlich wurde. Im

Februar 2021 hatte Krzysztof

Garbaczewskis Inszenierung

des zweiten Teils am Theater

Freiburg Premiere, jetzt

mehr als ein Jahr später folgt

der erste Teil, dessen Handlungsgerüst

der zeittypischen

Tragödie einer Kindsmörderin

entspricht. Garbaczewskis

vorherige Inszenierung stand

unter den Vorzeichen von Corona.

Jetzt im Zuschauerraum

zeigt die VR-Technik, die der

Henry Meyer, Anja Schweitzer, Hartmut Stanke

Foto: Ackermann-Simonow-Kahn

polnische Regisseur bereits

vor einem Jahr anwendete, viel

stärker ihre Qualität als beim

Livestream. Wenn Stefanie

Mrachacz auf der Bühne des

Großen Hauses die Worte des

Direktors im Vorspiel spricht,

dass im engen Bretterhaus der

ganze Kreis der Schöpfung

ausgeschritten werde, sind wir

wirklich in der Gegenwart angekommen.

Und das Spiel mit

den Avataren funktioniert erstaunlich

gut, ist es ja auch bei

Goethe selbst angelegt. Faust

als Marionettentheater wäre

auch noch eine Option.

Wer Garbaczewskis „Faust

II“ bereits kennt und tatsächlich

lohnt es sich, beide Teile zu

sehen, dem wird die Ästhetik

bekannt vorkommen. Die metallen

schimmernden Bäumchen,

die verschiedenfarbig

angestrahlt werden, die bergige

Gegend, die gezackte Säule,

erst recht die virtuellen Podeste,

Schränke und Altäre sehen

ein bisschen so aus als hätte

jemand unter Drogeneinfluss

(oder Hexengebräueinfluss)

eine Dekohölle entworfen und

dabei Anleihen am Comic und

bei Caspar David Friedrichs

Eismeer gemacht (Ausstattung:

Aleksandra Wasilkowska, VR-

Design: Mateusz Korsak, Anastasiia

Vorobiova). In Shirt

und schmalen Hosen steht Victor

Calero auf der Bühne, das

Gesicht mit einer VR-Brille

bedeckt. Sein virtuelles Alter

Bühnenbild ist das Ufer zugleich

Trottoir, an ihm liegt ein Backsteinbau

mit großer, angelaufener

Glasfront, rechts führt eine

Treppe in eine weitere Wohnung.

Die Tapete sieht aus als sei sie

im Bombenkrieg erst versengt,

dann gelöscht worden. Seitdem

zersetzt der Schimmel das Blumenmuster.

Nur wenige Scheinwerfer

beleuchten diese Szenerie.

Im Verlauf der gut 90-minütigen

Vorstellung wird das Geschehen

vor allem von Lichtquellen

auf der Bühne aus dem Dunkel

gerissen. Mehrere Neonröhren

und das kalte Licht der Lampen

lassen alle wie Gespenster wirken

(Licht: Dorothee Hoff), aber

auch, weil sie weiß geschminkt

sind mit blutunterlaufenen Augen

oder großflächigen roten

Hautpartien. Beckmann ist Täter

(was Borchert kaum reflektiert)

und Opfer, das der Nachkriegsgesellschaft,

vertreten durch die

Andere (Angela Falkenhan) oder

dem Kabarettdirektor (Martin

Hohner), ihre Schuld vorhält und

deswegen gemieden wird. Diese

Nebenrollen, die ein bisschen

zu Mitspielern in Beckmanns

Totentanz werden, sind in Stef

Lernous‘ Inszenierung kaum

mehr als Karikaturen und Spielbudenfiguren.

Besucht er seinen

alten Oberst (Henry Meyer), der

ihn an der Ostfront in einen Kamikazeeinsatz

schickte, zuckt

dieser jedes Mal zusammen,

wenn die Wörter „deutsch“ oder

„Deutschland“ fallen. Auch seine

Frau (Anja Schweitzer) und

die Tochter (Nola Friedrich) beginnen

zu salutieren. Ein bisschen

erinnern diese Figuren an

die Grafiken von Otto Dix oder

George Grosz. Jede Geste ist eine

Überschussentladung. Da rempelt

die junge Frau (Nola Friedrich)

gefühlte Minuten mit einem

Einkaufswagen an den Treppenansatz

und wird später unzählige

Male Beckmann die Tür vor die

Nase schlagen.

Wenn man nicht an die Darstellungen

von Kriegsversehrten

denken muss, dann an das Pariser

Grand Guignol und seine

Horrorshow. Doch alle erdachten

Grausamkeiten wurden vom Holocaust

übertroffen. Anfang der

1960er Jahre schloss es, weil es

mit der Wirklichkeit nicht mehr

standhalten konnte. Und so geht

es einem auch bei dieser Inszenierung.

Wenn sich für Beckmann

der Kreis schließt und er

wieder einmal vor einer Tür

steht, hört man erst eine Detonation,

dann sieht man durch eine

Fensterreihe Feuer. Der Krieg

gegen die Ukraine lässt Lernous‘

Inszenierung überholt aussehen.

Denn die Nebenfiguren sind so

oberflächig, dass sie kein Widerpart

für Stankes beeindruckende

Leistung sind. Beckmann bleibt

so in seinem Alptraum gefangen

und dies obwohl sich längst ein

neuer aufgetan hat.

Weitere Vorstellungen: 3. und

8. Mai im Kleinen Haus des Theater

Freiburg.

Annette Hoffmann

Im Faust-Labor

Am Theater Freiburg setzt Krzysztof Garbaczewski seine Auseinandersetzung mit Goethes Klassiker fort

Ego trägt blauen Bart, einen

Mantel mit Geheimzeichen und

hat sehr stechend blaue Augen.

Wenn ihn der Pudel besucht,

kämpft Faust gegen eine virtuelle

schwarze Bestie an, auf

der Bühne jedoch bewegt sich

ein flauschiges Etwas, das erst

Wagner (Antonis Antoniadis)

verschlingt und dann Mephisto

(Thieß Brammer) ausspuckt.

Nur wenig später werden die

beiden nicht nur die Kleidung,

sondern auch die Rollen tauschen

und Calero wird als mephistophelischer

Schamane in

rosafarbenem Overall mit langen

Mohairfransen nach Belieben

intrigieren und morden

(Marthe: Janna Horstmann,

Valentin: Antonis Antoniadis).

Gretchen (Laura Friedmann)

jedoch wird sich ihm und Faust

am Ende entziehen.

Das virtuelle und analoge

Bühnengeschehen lässt sich

auch als Symptom dafür nehmen,

dass Garbaczewskis Inszenierung

etwas von einer

Collage hat. Neben den virtuellen

Welten, den Projektionen

des Bühnengeschehens, sieht

man immer mal wieder Martin

Heidegger in Großaufnahme

auf der Projektionsfläche,

während Texte von Gretchens

Sexleben erzählen und auch

ein Gedicht Paul Celans eingesprochen

wird. Vieles an dieser

Aufführung wirkt manieristisch.

So wiederholt sich das

aufgerissene Maul eines riesigen

Textilvorhanges sowohl

auf Mephistos Knieschonern

als auch auf dem Rucksack

Gretchens. Das muss man nicht

verstehen. Und doch reflektiert

diese Inszenierung die Fragen

an den Stoff so schillernd wie

die vielen glitzernden Oberflächen

und Kostüme das Licht.

Und das ist ein wirklich schönes

Schauspiel.

Weitere Vorstellungen: 20.

und 26. Mai, 12. Juli.

Annette Hoffmann

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