flip-Joker_2022-05
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THEATER KULTUR JOKER 5
Von der Elbe ausgespuckt
Im Theater Freiburg wird Stef Lernous‘ Inszenierung von „Draußen vor der Tür“ von der Wirklichkeit überholt
Ein solcher Mann kommt nach
Deutschland: graues Haar, Militärmantel,
schleppender Gang,
lächerliche Brille. 1947 konnte
man noch wissen, was eine Gasmaskenbrille
ist. Jetzt könnte es
einen wieder kümmern. In Stef
Lernous‘ Inszenierung für das
Theater Freiburg ist Hartmut
Stanke der heimkehrende Beckmann
in Wolfgang Borcherts
Nachkriegsstück „Draußen vor
der Tür“. Stanke ist 1943 geborenen
und der Text gehört zu
seinen ersten Erfahrungen mit
dramatischer Literatur. Ende der
1950er Jahre sprach er in einem
Hörspiel Walter Kempowskis den
Beckmann. Eine kurze Sequenz
aus dieser Aufnahme ist jetzt
auch am Anfang der Aufführung
im Kleinen Haus zu hören. Dass
Stanke nun als Beckmann auf
der Bühne steht, ist neben der
biografischen Koinzidenz auch
interessant für die Inszenierung.
Beckmann, der in Borcherts
Stück ein 25-jähriger ehemaliger
Kriegsgefangener ist, wird so zu
einem alten Mann, den der Krieg
ganz um sein Leben gebracht
hat. Er ist ein Wiedergänger aller
Kriege, die seitdem die Erde
überzogen haben. Und jetzt nicht
an den Angriffskrieg Russlands
gegen die Ukraine zu denken,
würde sehr viel Abstraktionsvermögen
voraussetzen.
Die Elbe hat Beckmann auf
den Kai gespuckt. Da liegt er
nun als vereitelter Selbstmörder
neben einem ganzen Schwall
toter Fische. In Sven Van Kuijks
Von Serien kennt man das
Phänomen des Prequels. Wenn
der Stoff sich als tauglich erwiesen
hat, folgt er der Produktionslogik
und wird durch
Vorgeschichten und Nebenhandlungen
erweitert. Auf
der Bühne ist das eher ungewöhnlich.
Zumal, wenn es
um Goethes Faust geht. Nur
wenige wagen sich an Faust
II, der dem Autor selbst so
ungeheuerlich erschien, dass
das Drama erst nach dessen
Tod veröffentlich wurde. Im
Februar 2021 hatte Krzysztof
Garbaczewskis Inszenierung
des zweiten Teils am Theater
Freiburg Premiere, jetzt
mehr als ein Jahr später folgt
der erste Teil, dessen Handlungsgerüst
der zeittypischen
Tragödie einer Kindsmörderin
entspricht. Garbaczewskis
vorherige Inszenierung stand
unter den Vorzeichen von Corona.
Jetzt im Zuschauerraum
zeigt die VR-Technik, die der
Henry Meyer, Anja Schweitzer, Hartmut Stanke
Foto: Ackermann-Simonow-Kahn
polnische Regisseur bereits
vor einem Jahr anwendete, viel
stärker ihre Qualität als beim
Livestream. Wenn Stefanie
Mrachacz auf der Bühne des
Großen Hauses die Worte des
Direktors im Vorspiel spricht,
dass im engen Bretterhaus der
ganze Kreis der Schöpfung
ausgeschritten werde, sind wir
wirklich in der Gegenwart angekommen.
Und das Spiel mit
den Avataren funktioniert erstaunlich
gut, ist es ja auch bei
Goethe selbst angelegt. Faust
als Marionettentheater wäre
auch noch eine Option.
Wer Garbaczewskis „Faust
II“ bereits kennt und tatsächlich
lohnt es sich, beide Teile zu
sehen, dem wird die Ästhetik
bekannt vorkommen. Die metallen
schimmernden Bäumchen,
die verschiedenfarbig
angestrahlt werden, die bergige
Gegend, die gezackte Säule,
erst recht die virtuellen Podeste,
Schränke und Altäre sehen
ein bisschen so aus als hätte
jemand unter Drogeneinfluss
(oder Hexengebräueinfluss)
eine Dekohölle entworfen und
dabei Anleihen am Comic und
bei Caspar David Friedrichs
Eismeer gemacht (Ausstattung:
Aleksandra Wasilkowska, VR-
Design: Mateusz Korsak, Anastasiia
Vorobiova). In Shirt
und schmalen Hosen steht Victor
Calero auf der Bühne, das
Gesicht mit einer VR-Brille
bedeckt. Sein virtuelles Alter
Bühnenbild ist das Ufer zugleich
Trottoir, an ihm liegt ein Backsteinbau
mit großer, angelaufener
Glasfront, rechts führt eine
Treppe in eine weitere Wohnung.
Die Tapete sieht aus als sei sie
im Bombenkrieg erst versengt,
dann gelöscht worden. Seitdem
zersetzt der Schimmel das Blumenmuster.
Nur wenige Scheinwerfer
beleuchten diese Szenerie.
Im Verlauf der gut 90-minütigen
Vorstellung wird das Geschehen
vor allem von Lichtquellen
auf der Bühne aus dem Dunkel
gerissen. Mehrere Neonröhren
und das kalte Licht der Lampen
lassen alle wie Gespenster wirken
(Licht: Dorothee Hoff), aber
auch, weil sie weiß geschminkt
sind mit blutunterlaufenen Augen
oder großflächigen roten
Hautpartien. Beckmann ist Täter
(was Borchert kaum reflektiert)
und Opfer, das der Nachkriegsgesellschaft,
vertreten durch die
Andere (Angela Falkenhan) oder
dem Kabarettdirektor (Martin
Hohner), ihre Schuld vorhält und
deswegen gemieden wird. Diese
Nebenrollen, die ein bisschen
zu Mitspielern in Beckmanns
Totentanz werden, sind in Stef
Lernous‘ Inszenierung kaum
mehr als Karikaturen und Spielbudenfiguren.
Besucht er seinen
alten Oberst (Henry Meyer), der
ihn an der Ostfront in einen Kamikazeeinsatz
schickte, zuckt
dieser jedes Mal zusammen,
wenn die Wörter „deutsch“ oder
„Deutschland“ fallen. Auch seine
Frau (Anja Schweitzer) und
die Tochter (Nola Friedrich) beginnen
zu salutieren. Ein bisschen
erinnern diese Figuren an
die Grafiken von Otto Dix oder
George Grosz. Jede Geste ist eine
Überschussentladung. Da rempelt
die junge Frau (Nola Friedrich)
gefühlte Minuten mit einem
Einkaufswagen an den Treppenansatz
und wird später unzählige
Male Beckmann die Tür vor die
Nase schlagen.
Wenn man nicht an die Darstellungen
von Kriegsversehrten
denken muss, dann an das Pariser
Grand Guignol und seine
Horrorshow. Doch alle erdachten
Grausamkeiten wurden vom Holocaust
übertroffen. Anfang der
1960er Jahre schloss es, weil es
mit der Wirklichkeit nicht mehr
standhalten konnte. Und so geht
es einem auch bei dieser Inszenierung.
Wenn sich für Beckmann
der Kreis schließt und er
wieder einmal vor einer Tür
steht, hört man erst eine Detonation,
dann sieht man durch eine
Fensterreihe Feuer. Der Krieg
gegen die Ukraine lässt Lernous‘
Inszenierung überholt aussehen.
Denn die Nebenfiguren sind so
oberflächig, dass sie kein Widerpart
für Stankes beeindruckende
Leistung sind. Beckmann bleibt
so in seinem Alptraum gefangen
und dies obwohl sich längst ein
neuer aufgetan hat.
Weitere Vorstellungen: 3. und
8. Mai im Kleinen Haus des Theater
Freiburg.
Annette Hoffmann
Im Faust-Labor
Am Theater Freiburg setzt Krzysztof Garbaczewski seine Auseinandersetzung mit Goethes Klassiker fort
Ego trägt blauen Bart, einen
Mantel mit Geheimzeichen und
hat sehr stechend blaue Augen.
Wenn ihn der Pudel besucht,
kämpft Faust gegen eine virtuelle
schwarze Bestie an, auf
der Bühne jedoch bewegt sich
ein flauschiges Etwas, das erst
Wagner (Antonis Antoniadis)
verschlingt und dann Mephisto
(Thieß Brammer) ausspuckt.
Nur wenig später werden die
beiden nicht nur die Kleidung,
sondern auch die Rollen tauschen
und Calero wird als mephistophelischer
Schamane in
rosafarbenem Overall mit langen
Mohairfransen nach Belieben
intrigieren und morden
(Marthe: Janna Horstmann,
Valentin: Antonis Antoniadis).
Gretchen (Laura Friedmann)
jedoch wird sich ihm und Faust
am Ende entziehen.
Das virtuelle und analoge
Bühnengeschehen lässt sich
auch als Symptom dafür nehmen,
dass Garbaczewskis Inszenierung
etwas von einer
Collage hat. Neben den virtuellen
Welten, den Projektionen
des Bühnengeschehens, sieht
man immer mal wieder Martin
Heidegger in Großaufnahme
auf der Projektionsfläche,
während Texte von Gretchens
Sexleben erzählen und auch
ein Gedicht Paul Celans eingesprochen
wird. Vieles an dieser
Aufführung wirkt manieristisch.
So wiederholt sich das
aufgerissene Maul eines riesigen
Textilvorhanges sowohl
auf Mephistos Knieschonern
als auch auf dem Rucksack
Gretchens. Das muss man nicht
verstehen. Und doch reflektiert
diese Inszenierung die Fragen
an den Stoff so schillernd wie
die vielen glitzernden Oberflächen
und Kostüme das Licht.
Und das ist ein wirklich schönes
Schauspiel.
Weitere Vorstellungen: 20.
und 26. Mai, 12. Juli.
Annette Hoffmann