flip-Joker_2022-05
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4 KULTUR JOKER Theater
Monologe der Selbstbehauptungen
Das Wallgraben Theater zeigte im April mit „Judas“ und „Marias Testament“ zwei Inszenierungen zum Leben Jesus
Sieht man die beiden Solostücke
„Judas“ und „Marias
Testament“ in der Zusammenschau
– und nicht grundlos bot
das Wallgraben Theater im April
vereinzelt Doppelvorstellungen –
lässt sich schnell eine Leerstelle
benennen. Sie lautet Jesus, doch
damit ist nur wenig gewonnen.
Denn was lässt sich trotz der vielen
Schriften wirklich verlässlich
über diesen Propheten, Messias,
Heiland und Religionsstifter sagen?
„Judas“ von Lot Vekemans
und Colm Tóibíns „Marias Testament“
umkreisen diese Leerstelle
und erzählen aus der Perspektive
des Verräters und der Mutter vom
Leben und Sterben Jesus. Und
Vekemans‘ Solo fügt der Bibel
mit dem sogenannten Judasevangelium
zudem eine apokryphe
Schrift an. Man weiß wenig
über sie, nur, dass sie vermutlich
Mitte des 2. Jahrhundert nach
Christus entstanden ist. Es dürfte
also sehr, sehr unwahrscheinlich
sein, dass sie von Judas stammt.
Schließlich soll er sich kurz nach
Eigentlich sollte Stefan Wirths
Opernerstling „Girl with a pearl
earring“ schon vor zwei Jahren am
Züricher Opernhaus auf die Bühne
kommen, aber der Ausbruch der
Coronapandemie verhinderte die
für Mai 2020 geplante Uraufführung.
Inzwischen ist viel passiert.
Die weltweite Pandemie hat den
Musikbetrieb phasenweise zum
Stillstand gebracht. Der Krieg in
der Ukraine erschüttert Europa
in seinen Grundfesten. Von der
Kunst erwartet man in diesen
Krisenzeiten vielleicht nicht unbedingt
aktuellen Gesellschaftsbezug,
aber doch Relevanz. Die
neue, dreiaktige Oper „Girl with
a pearl earring“ wirkt im Jahr
2022 ein wenig aus der Zeit gefallen.
Der undramatische Stoff,
der auf Tracy Chevaliers gleichnamigen
Roman aus dem Jahr
(1999) zurückgeht – inspiriert von
Jan Vermeers bekanntem Porträt
seinem Verrat erhängt haben.
Doch was heißt hier schon tot?
Hans Poeschls Judas läuft ganz
lebendig über die Bühne des
Freiburger Kellertheaters, die
einem Scherbengericht gleicht.
Hinten sind mehrere Gassen zu
sehen, sie sind teilweise transparent,
steht Judas hinter einer
dieser Gazen wirkt er wie eine
Erscheinung. Die Bühne selbst
ist mit einem ockerfarbenen Boden
ausgelegt, auf dem mehrere
Steinhaufen aufgetürmt sind, die
Judas auch als Sitzgelegenheiten
dienen. Doch eben hat er sich
auf einem Podest niedergelassen,
ganz in Schwarz gekleidet und
liest aus dem besagten Judasevangelium.
Überhaupt würde
er gerne einiges zurechtrücken,
wird man eine kleine Ewigkeit
lang verflucht, geht das anscheinend
nicht spurlos an einem vorbei.
Die niederländische Autorin
Lot Vekemans löst die Figur von
dem, was wir von ihr wissen. Judas
ist das Produkt einer stillen
Post seit 2000 Jahren. Dieser Judas
spielt mit dem Publikum, er
erzählt Witze zum Aufwärmen,
dient sich als Beichtvater an –
auch so ein Witz. Das Saallicht
geht an, damit es sich keiner allzu
gemütlich machen kann. Von wegen,
der Sündenbock ist immer
der andere.
Die beiden Stücke tragen die
Handschrift der künstlerischen
Leiter des Privattheaters. „Judas“
ist als Zusammenarbeit von Regine
Effinger und Hans Poeschl
entstanden und im zweiten Stück
des Abends „Marias Testament“
wird Effinger auf der Bühne stehen.
Das Schreiben einer Textfassung
und die Regie übernahm Sahar
Amini-Jörger. Dramaturgisch
ist es klug, im Oster-Monat April
einen derartigen Schwerpunkt
über das Christentum auf den
Spielplatz zu setzen. Zumal in
einer Zeit, in der auf furchtbarste
Weise Weltpolitik gemacht wird.
Da wird die Auseinandersetzung
mit Religion und Spiritualität zu
einem notwendigen Innehalten.
Die Antworten, die die beiden
Monologe geben, dürften nicht
jedem gefallen. Sie lauten: nicht
Jesus, sondern Judas hat die Sünden
der Welt auf sich genommen
und wenn Christus doch das Opferlamm
war, dann war es das
nicht wert. Das Leid war schlicht
zu groß.
Maria ist in die Bühnen-Adaption
von Colm Tóibíns Roman
vor allem Mutter. Und so ist es
nur konsequent, dass auf die
Bühnenwand ein Bild der Hauptdarstellerin
mit ihrem Sohn projiziert
wird. Auf der Bühne trägt
sie einen langen Rock, graues
Shirt, feste Schuhe und ein Tuch,
das sie mal über die Schulter,
mal über den Kopf legt. Dann
bekommt ihre Figur tatsächlich
etwas Madonnenhaftes. Zu sehen
ist aber auch der Schattenwurf
eines frei bleibenden Stuhls,
er ist ihrem Mann bereitet, aber
auch ihrem einzigen Sohn. Beide
tot. „Marias Testament“ ist eine
sehr persönliche Abrechnung mit
den politischen und sozialen Verhältnissen
damals, die vor allem
Aus der Zeit gefallen
Stefan Wirths Oper „Girl with a pearl earring“ wird am Opernhaus Zürich uraufgeführt
„Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge“
(1665) – wird spannungsarm
erzählt (englisches Libretto:
Philipp Littell). Selbst die
bedrückende Atmosphäre und die
problematischen Machtverhältnisse
im Hause Vermeer, die in
der historischen Verfilmung des
Stoffes von Peter Webber zu erleben
sind, spürt man kaum in der
musikalischen Umsetzung von
Stefan Wirth, so dass der rund
zweistündige Abend auf Dauer zu
langatmig gerät.
Tracy Chevalier hat dem Modell
von Jan Vermeer eine Geschichte
und einen Namen gegeben. Griet
kommt als Dienstmagd in das
herrschaftliche Haus, das von der
Schwiegermutter und Hausherrin
Maria Thins dominiert wird.
Catharina Vermeer ist schwanger,
schlecht gelaunt und auf die junge
Frau eifersüchtig. Griet hilft
dem zurückgezogenen, unter Erfolgsdruck
stehenden Maler beim
Farbenmischen und steht ihm am
Ende Modell für das Bild, auf
dem sie die Perlenohrringe von
Vermeers Frau trägt. Die Autorin
erzählt die Geschichte ganz aus
Griets Sicht. Und der Komponist
übernimmt diese Perspektive. Die
junge amerikanische Sopranistin
Lauren Snouffer steht fast ununterbrochen
auf der Bühne. Mit ihrem
glasklaren, beweglichen, höhensicheren
Sopran ist diese Griet von
Beginn an eine Sympathiefigur.
Die Kantilenen, die Wirth für sie
geschrieben hat, füllt sie mit Wärme.
Melos findet sich fast nur in den
Gesangsstimmen. Der Schweizer
Komponist verwendet eine große
Symphonieorchesterbesetzung
ohne Elektronik, die er mit vielfältigem
Schlagzeug, zwei Harfen,
Klavier, Cembalo und Celesta
anreichert. Auch Geräusche finden
großen Raum, wenn Papier knistert,
Griet zu Beginn das Messer
wetzt, die Streicher mit dem Holz
des Bogens spielen oder in den
Bläsern Zischlaute zu hören sind.
Es ist auch das Orchester, in dem
der kontinuierliche Erzählstrom
beginnt. Die kleinteilige, komplexe
Musik, die teilweise polyrhythmisch
konstruiert ist, ist von
Wirth handwerklich sauber gesetzt,
aber Wirths flächige Klänge
bleiben meist unnahbar. An der
Philharmonia Zürich und dem klar
strukturierenden Dirigenten Peter
Rundel liegt es jedenfalls am stark
beklatschten Premierenabend
nicht, dass im Orchestergraben
kein echter Sog entstehen will.
Auch Ted Huffmans spartanische,
insgesamt fantasiearme Inszenierung
hilft der Musik wenig.
Farbige Historizität ist nur in den
Kostümen von Annemarie Woods
zu erleben. Ansonsten dominiert
Zusammengefügtes
Szenenbild aus „Judas“
und „Marias Testament“
Foto: Wallgraben Theater
angesichts der römischen Besatzung
unzählige Propheten und
Sekten hervorgebracht. Maria ist
keine Frömmlerin, nicht einmal
eine jüdische. Tóibín, der irische
Katholik, der seine Heimat früh
gegen den Süden tauschte, hat
eine Frauenfigur geschaffen, wie
sie das Christentum nicht vorsah.
Nicht demütig, nicht stolz darauf,
dass sie Gottes Sohn geboren hat
– zumal ihre Erinnerungen an
die Zeugung andere sind -, aber
auch nicht mutig angesichts des
Blutrauschs der Israeliten und der
unmittelbaren Lebensbedrohung.
Das Bild der Pieta wird hier nur
geträumt. Regine Effinger verkörpert
eine Frau, die in ihrer
Einsamkeit gewachsen ist und
bereit ist, Zeugnis abzulegen. Da
hätte es nicht die Störgeräusche
gebraucht, den Schmerz versteht
man auch so. Ein intensives Theatererlebnis.
Derniere: 30.04., 19 Uhr, Doppelabend
Annette Hoffmann
auf der meist leeren Bühne von
Andrew Lieberman eine kühle
Schwarzweiß-Ästhetik, in der die
Geschichte konventionell erzählt
wird. Szenische Zuspitzungen wie
der Vergewaltigungsversuch durch
den Mäzen Van Ruijven (Iain Milne)
bleiben spannungsarm. Auch
Thomas Hampson gelingt es nicht,
als Jan Vermeer in diesem sich
immer wieder drehenden Setting
mit seinem lyrischen Bariton ein
klares Profil zu entwickeln. Vermeers
Verhältnis zu seiner Gattin
Catharina (präsent: Laura Aikin)
ist ebenso konturenarm. Am Ende
bleibt Griet allein mit den Perlenohrringen
zurück, die sie verkaufen
möchte. Glück haben sie
ihr nicht gebracht. Und wer diese
junge Frau ist, weiß man auch nach
zwei Stunden nicht so genau.
Weitere Vorstellungen: 6./8. Mai
2022. www.opernhaus.ch
Georg Rudiger