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4 KULTUR JOKER Theater

Monologe der Selbstbehauptungen

Das Wallgraben Theater zeigte im April mit „Judas“ und „Marias Testament“ zwei Inszenierungen zum Leben Jesus

Sieht man die beiden Solostücke

„Judas“ und „Marias

Testament“ in der Zusammenschau

– und nicht grundlos bot

das Wallgraben Theater im April

vereinzelt Doppelvorstellungen –

lässt sich schnell eine Leerstelle

benennen. Sie lautet Jesus, doch

damit ist nur wenig gewonnen.

Denn was lässt sich trotz der vielen

Schriften wirklich verlässlich

über diesen Propheten, Messias,

Heiland und Religionsstifter sagen?

„Judas“ von Lot Vekemans

und Colm Tóibíns „Marias Testament“

umkreisen diese Leerstelle

und erzählen aus der Perspektive

des Verräters und der Mutter vom

Leben und Sterben Jesus. Und

Vekemans‘ Solo fügt der Bibel

mit dem sogenannten Judasevangelium

zudem eine apokryphe

Schrift an. Man weiß wenig

über sie, nur, dass sie vermutlich

Mitte des 2. Jahrhundert nach

Christus entstanden ist. Es dürfte

also sehr, sehr unwahrscheinlich

sein, dass sie von Judas stammt.

Schließlich soll er sich kurz nach

Eigentlich sollte Stefan Wirths

Opernerstling „Girl with a pearl

earring“ schon vor zwei Jahren am

Züricher Opernhaus auf die Bühne

kommen, aber der Ausbruch der

Coronapandemie verhinderte die

für Mai 2020 geplante Uraufführung.

Inzwischen ist viel passiert.

Die weltweite Pandemie hat den

Musikbetrieb phasenweise zum

Stillstand gebracht. Der Krieg in

der Ukraine erschüttert Europa

in seinen Grundfesten. Von der

Kunst erwartet man in diesen

Krisenzeiten vielleicht nicht unbedingt

aktuellen Gesellschaftsbezug,

aber doch Relevanz. Die

neue, dreiaktige Oper „Girl with

a pearl earring“ wirkt im Jahr

2022 ein wenig aus der Zeit gefallen.

Der undramatische Stoff,

der auf Tracy Chevaliers gleichnamigen

Roman aus dem Jahr

(1999) zurückgeht – inspiriert von

Jan Vermeers bekanntem Porträt

seinem Verrat erhängt haben.

Doch was heißt hier schon tot?

Hans Poeschls Judas läuft ganz

lebendig über die Bühne des

Freiburger Kellertheaters, die

einem Scherbengericht gleicht.

Hinten sind mehrere Gassen zu

sehen, sie sind teilweise transparent,

steht Judas hinter einer

dieser Gazen wirkt er wie eine

Erscheinung. Die Bühne selbst

ist mit einem ockerfarbenen Boden

ausgelegt, auf dem mehrere

Steinhaufen aufgetürmt sind, die

Judas auch als Sitzgelegenheiten

dienen. Doch eben hat er sich

auf einem Podest niedergelassen,

ganz in Schwarz gekleidet und

liest aus dem besagten Judasevangelium.

Überhaupt würde

er gerne einiges zurechtrücken,

wird man eine kleine Ewigkeit

lang verflucht, geht das anscheinend

nicht spurlos an einem vorbei.

Die niederländische Autorin

Lot Vekemans löst die Figur von

dem, was wir von ihr wissen. Judas

ist das Produkt einer stillen

Post seit 2000 Jahren. Dieser Judas

spielt mit dem Publikum, er

erzählt Witze zum Aufwärmen,

dient sich als Beichtvater an –

auch so ein Witz. Das Saallicht

geht an, damit es sich keiner allzu

gemütlich machen kann. Von wegen,

der Sündenbock ist immer

der andere.

Die beiden Stücke tragen die

Handschrift der künstlerischen

Leiter des Privattheaters. „Judas“

ist als Zusammenarbeit von Regine

Effinger und Hans Poeschl

entstanden und im zweiten Stück

des Abends „Marias Testament“

wird Effinger auf der Bühne stehen.

Das Schreiben einer Textfassung

und die Regie übernahm Sahar

Amini-Jörger. Dramaturgisch

ist es klug, im Oster-Monat April

einen derartigen Schwerpunkt

über das Christentum auf den

Spielplatz zu setzen. Zumal in

einer Zeit, in der auf furchtbarste

Weise Weltpolitik gemacht wird.

Da wird die Auseinandersetzung

mit Religion und Spiritualität zu

einem notwendigen Innehalten.

Die Antworten, die die beiden

Monologe geben, dürften nicht

jedem gefallen. Sie lauten: nicht

Jesus, sondern Judas hat die Sünden

der Welt auf sich genommen

und wenn Christus doch das Opferlamm

war, dann war es das

nicht wert. Das Leid war schlicht

zu groß.

Maria ist in die Bühnen-Adaption

von Colm Tóibíns Roman

vor allem Mutter. Und so ist es

nur konsequent, dass auf die

Bühnenwand ein Bild der Hauptdarstellerin

mit ihrem Sohn projiziert

wird. Auf der Bühne trägt

sie einen langen Rock, graues

Shirt, feste Schuhe und ein Tuch,

das sie mal über die Schulter,

mal über den Kopf legt. Dann

bekommt ihre Figur tatsächlich

etwas Madonnenhaftes. Zu sehen

ist aber auch der Schattenwurf

eines frei bleibenden Stuhls,

er ist ihrem Mann bereitet, aber

auch ihrem einzigen Sohn. Beide

tot. „Marias Testament“ ist eine

sehr persönliche Abrechnung mit

den politischen und sozialen Verhältnissen

damals, die vor allem

Aus der Zeit gefallen

Stefan Wirths Oper „Girl with a pearl earring“ wird am Opernhaus Zürich uraufgeführt

„Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge“

(1665) – wird spannungsarm

erzählt (englisches Libretto:

Philipp Littell). Selbst die

bedrückende Atmosphäre und die

problematischen Machtverhältnisse

im Hause Vermeer, die in

der historischen Verfilmung des

Stoffes von Peter Webber zu erleben

sind, spürt man kaum in der

musikalischen Umsetzung von

Stefan Wirth, so dass der rund

zweistündige Abend auf Dauer zu

langatmig gerät.

Tracy Chevalier hat dem Modell

von Jan Vermeer eine Geschichte

und einen Namen gegeben. Griet

kommt als Dienstmagd in das

herrschaftliche Haus, das von der

Schwiegermutter und Hausherrin

Maria Thins dominiert wird.

Catharina Vermeer ist schwanger,

schlecht gelaunt und auf die junge

Frau eifersüchtig. Griet hilft

dem zurückgezogenen, unter Erfolgsdruck

stehenden Maler beim

Farbenmischen und steht ihm am

Ende Modell für das Bild, auf

dem sie die Perlenohrringe von

Vermeers Frau trägt. Die Autorin

erzählt die Geschichte ganz aus

Griets Sicht. Und der Komponist

übernimmt diese Perspektive. Die

junge amerikanische Sopranistin

Lauren Snouffer steht fast ununterbrochen

auf der Bühne. Mit ihrem

glasklaren, beweglichen, höhensicheren

Sopran ist diese Griet von

Beginn an eine Sympathiefigur.

Die Kantilenen, die Wirth für sie

geschrieben hat, füllt sie mit Wärme.

Melos findet sich fast nur in den

Gesangsstimmen. Der Schweizer

Komponist verwendet eine große

Symphonieorchesterbesetzung

ohne Elektronik, die er mit vielfältigem

Schlagzeug, zwei Harfen,

Klavier, Cembalo und Celesta

anreichert. Auch Geräusche finden

großen Raum, wenn Papier knistert,

Griet zu Beginn das Messer

wetzt, die Streicher mit dem Holz

des Bogens spielen oder in den

Bläsern Zischlaute zu hören sind.

Es ist auch das Orchester, in dem

der kontinuierliche Erzählstrom

beginnt. Die kleinteilige, komplexe

Musik, die teilweise polyrhythmisch

konstruiert ist, ist von

Wirth handwerklich sauber gesetzt,

aber Wirths flächige Klänge

bleiben meist unnahbar. An der

Philharmonia Zürich und dem klar

strukturierenden Dirigenten Peter

Rundel liegt es jedenfalls am stark

beklatschten Premierenabend

nicht, dass im Orchestergraben

kein echter Sog entstehen will.

Auch Ted Huffmans spartanische,

insgesamt fantasiearme Inszenierung

hilft der Musik wenig.

Farbige Historizität ist nur in den

Kostümen von Annemarie Woods

zu erleben. Ansonsten dominiert

Zusammengefügtes

Szenenbild aus „Judas“

und „Marias Testament“

Foto: Wallgraben Theater

angesichts der römischen Besatzung

unzählige Propheten und

Sekten hervorgebracht. Maria ist

keine Frömmlerin, nicht einmal

eine jüdische. Tóibín, der irische

Katholik, der seine Heimat früh

gegen den Süden tauschte, hat

eine Frauenfigur geschaffen, wie

sie das Christentum nicht vorsah.

Nicht demütig, nicht stolz darauf,

dass sie Gottes Sohn geboren hat

– zumal ihre Erinnerungen an

die Zeugung andere sind -, aber

auch nicht mutig angesichts des

Blutrauschs der Israeliten und der

unmittelbaren Lebensbedrohung.

Das Bild der Pieta wird hier nur

geträumt. Regine Effinger verkörpert

eine Frau, die in ihrer

Einsamkeit gewachsen ist und

bereit ist, Zeugnis abzulegen. Da

hätte es nicht die Störgeräusche

gebraucht, den Schmerz versteht

man auch so. Ein intensives Theatererlebnis.

Derniere: 30.04., 19 Uhr, Doppelabend

Annette Hoffmann

auf der meist leeren Bühne von

Andrew Lieberman eine kühle

Schwarzweiß-Ästhetik, in der die

Geschichte konventionell erzählt

wird. Szenische Zuspitzungen wie

der Vergewaltigungsversuch durch

den Mäzen Van Ruijven (Iain Milne)

bleiben spannungsarm. Auch

Thomas Hampson gelingt es nicht,

als Jan Vermeer in diesem sich

immer wieder drehenden Setting

mit seinem lyrischen Bariton ein

klares Profil zu entwickeln. Vermeers

Verhältnis zu seiner Gattin

Catharina (präsent: Laura Aikin)

ist ebenso konturenarm. Am Ende

bleibt Griet allein mit den Perlenohrringen

zurück, die sie verkaufen

möchte. Glück haben sie

ihr nicht gebracht. Und wer diese

junge Frau ist, weiß man auch nach

zwei Stunden nicht so genau.

Weitere Vorstellungen: 6./8. Mai

2022. www.opernhaus.ch

Georg Rudiger

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