flip-Joker_2022-05
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MIXTAPE KULTUR JOKER 39
„Ich hasse Männer“ – Ein Essay über die Misandrie
Vorweg, bitte keine Panik.
Ich hasse nicht alle Männer
und Pauline Harmange,
die Autorin des Essays „Ich
hasse Männer“ (Rowohlt,
2020), auch nicht. Oder vielleicht
doch? „Na gut, ich
wage mich vor: Ich hasse
Männer. Alle, wirklich? Ja,
alle. Ich habe prinzipiell keine
hohe Meinung von ihnen“,
schreibt Harmange direkt im
Einstieg. Und mal ehrlich,
verübeln können wir ihr das
nicht.
Seit 2015 betreibt die
französische Kommunikationswissenschaftlerin
den
feministischen Blog „Un
invincible été“, auf dem sie
Alltagsgeschichten und wissenschaftliche
Erkenntnisse
niederschreibt. In den Kommentarspalten
wimmeln sich
unzufriedene und missmutige
Männer, ausgerüstet mit
Worten voller Hass und Unverständnis
für eine Frau, die
im 21. Jahrhundert noch immer
über die Gleichstellung
von Frauen* schreibt. Das
ist doch alles Schnee von gestern,
wir dürfen schließlich
wählen gehen und auf dem
Papier sind wir gleichgestellt.
Also bitte Ruhe dahinten.
Tja, ganz so sieht es in der
Realität nicht aus. In einem
Interview mit der taz (Caroline
Rosales, 2020), erklärt
Harmange ihre Beweggründe
für diesen provokativen Essay,
der in Frankreich beinahe
eine Staatsaffäre ausgelöst
hätte. Bei ihr habe sich eine
Art feministisches Bournout
eingestellt – etwas, das viele
Feminist*innen (die Autorin
Schwesternschaft
ist mir
ein inneres Bedürfnis,
denn
um mich herum
leben zahllose
glänzende, begabte,
engagierte,
unglaublich
tolle Frauen, die
meine Unterstützung
und Liebe
verdienen.
(Harmange, 2020, S. 84)
dieses Artikels eingeschlossen)
nachvollziehen können.
Der feministische Kampf ist
ermüdend, irgendwie desillusionierend.
Dabei sei alles schon gesagt,
meint Harmange. Es
gibt Studien, wissenschaftliche
Belege und eine Frauenbewegung,
die seit Jahrhunderten
für die Rechte der
Frauen kämpft – und dennoch
ändert sich heute kaum noch
etwas. Aus dieser feministischen
Ohnmacht heraus ist
dieser Essay entstanden, der
Frauen* endlich eines zugesteht:
Wut.
In dem Kapitel „Die Männer,
die die Frauen nicht
liebten“ beleuchtet Harmange
die Konzepte der Misogynie
(Frauenhass) und Misandrie
(Männerhass). Die Autorin
sieht Misandrie als Reaktion
auf Misogynie und der in
diesem Kontext existierenden
Gewalt gegen Frauen*, die
seit Jahrhunderten stattfindet
und im kollektiven Gedächtnis
verankert ist. „Erinnern
wir uns daran, dass das Gewaltspektrum
der Frauenhasser
vom Cybermobbing
bis zum bewaffneten Attentat
reicht“ (Harmange, 2020,
S. 42) – sie führt hier den
Amoklauf an der Polytechnischen
Hochschule in Montréal
1989 auf, bei dem ein
25-Jähriger mit einem halbautomatischen
Gewehr 14
Studentinnen erschoss. Und
auch aktuelle Zahlen sehen
nicht rosig aus. Der Bericht
„Partnerschaftsgewalt. Kriminalistische
Auswertung
– Berichtsjahr 2020“ des
Bundeskriminalsamtes zählt
146.655 Fälle von Gewalt in
Partnerschaften, davon sind
80,5 Prozent der Betroffenen
Frauen*.Außerdem 460
Morde in Partnerschaften,
darunter 359 an Frauen*.
Was lösen diese Zahlen in
Ihnen aus? Wut? Gut so. Aber
wie vermitteln wir unsere
Wut? Bereits im Kindesalter
werden Jungen* und Mädchen*
unterschiedlich sozialisiert
– was am Ende dabei
rauskommt, ist das, was wir
in der Genderforschung das
„kulturelle Geschlecht“ nennen.
Es beeinflusst unsere
Verhaltensweise und Wahrnehmung
– wie wir z.B. auf
Wut reagieren, hängt davon
ab, wie wir als Kinder gelernt
haben, Wut zu kanalisieren.
Männer* lernen ihre
Wut durch Gewalt auszudrücken
– Frauen*, naja, am
besten gar nicht, beobachtet
Harmange. Starken Frauen
wie ihrer Mutter, die sonst
vor keiner Konfrontation zurückschreckt,
fehlen in partnerschaftlichen
Konflikten
die Worte. Es ist eine Sturzflut
der Gefühle, die meist
in Tränen und dem Verlust
der Artikulation endet. Erst
als Feministin habe Pauline
Harmange gelernt, wirklich
wütend zu werden.
Liebe Männer, wer bis
hierhin durchgehalten hat,
Chapeau! So viel Kritik auf
einmal ist gar nicht so leicht
wegzustecken. „Ich hasse
Männer“ ist ein bewusst provokant
geschriebener Essay,
ein anderer Redakteur (seinen
Text finden Sie direkt unter
diesem) meint: Wer feministische
Basics lernen möchte,
greift zu diesem Büchlein.
Elisabeth Jockers
Feiern mit den Jungs
Ehrlich, bei aller Notwendigkeit,
gegen Nazis, Machos oder
Faktenverdreher*innen auf die
Straße zu gehen, wünsche ich
mir manchmal schlicht Ruhe
und Entspannung. Gut, dass
bald Festivalsaison ist. Events
wie das Sea You Festival
2022 am Tunisee locken mit
entspannter Atmosphäre und
fetten Headlinern: Aka Aka,
Alex Kennon, Bart Skills, Citizen
Kain, Clara Cuvé, Eats
Everything, Enrico Sangiuliano.
Statt ideologischer Grabenkämpfe
endlich Party mit den
Jungs. Wobei – Party mit den
Jungs? Mir rutscht die Sonnenbrille
von der Nase. Wo sind
die Frauen hier? Okay, Entwarnung,
eine habe ich gefun-
den – Clara Cuvé. Aber sonst?
Irgendein Typ im schicken
Hawaii-Hemd, eben noch am
Abdancen, würde mich jetzt
sicher beruhigen: Ist ja nur ein
Auszug, gibt noch mehr weibliche
DJs auf dem Festival. Ich
soll nur das weitere Line-Up
angucken, das auf der Homepage
steht. Okay. Unter den
gelisteten gut 50 Artists finde
ich immerhin 7 Namen, hinter
denen ich eine weiblich zu
lesende Person vermute. Der
Typ im Hemd will mir die
Sonnenbrille wieder auf die
Nase schieben. Gibt eben weniger
Female DJs. DJing macht
Frauen vielleicht einfach weniger
Spaß. Ich soll mal entspannen.
Gibt sicher irgendwo
ein feministisches Festival, da
kann ich mal gucken. In Berlin,
Leizig oder so.
Irgendwie habe ich keine
Lust mehr zu entspannen. Ich
lasse die Sonnenbrille unten
und bleibe hier. Denn hier
steckt die Problematik. Sie
nennt sich Repräsentation. Und
sie fängt dort an, wo Festivals
als öffentlichkeitswirksame
Formate weiblich gelesenen
Menschen wenig Raum bieten,
Unterstützt von:
ihr Publikum zu erreichen. Tatsächlich
sind weibliche DJs bei
weitem nicht so oft anzutreffen
wie ihre männlichen Pendants.
Wie der Hamburger Verein
musicHHwomen* auf seiner
Website zeigt, sind in der Berufsgruppe
der DJs für 2014
680 Männer und 45 Frauen
gelistet. Ob diese krasse Diskrepanz
mit Geschlechterklischees
zu erklären ist? Wer jedenfalls
ernsthaft glaubt, dass
hinter der Zahl 45 irgendein
Fortschritt steckt, sollte nur
einen Blick in die 90er der wilden
Love-Parades werfen. Für
1995 listet musicHHwomen*
539 Männer und 27 Frauen. Irgendwie
zweifle ich angesichts
mancher Line-Ups daran, dass
2022 endlich die Trendwende
stattgefunden haben muss, jedenfalls
nicht hier im Ländle.
Das Baden Württemberger
Pendant musicBWwomen*
sagt es deutlich: Gleichstellung
in der Musikwirtschaft ist
längst nicht erreicht. Weitere
Bereiche wie Musikjounalismus,
Jazz oder Kultur – wie
Rundfunkorchester geben Beispiele.
Und dennoch wird immer
wieder argumentiert, dass
Quoten nichts brächten, dass
allein Talent und Individualität
für Erfolg und Durchbruch garantieren.
Es wird von großen
Artists wie Beyoncé oder Billie
Eilish gesprochen. Tatsächlich
aber ist die Musikwirtschaft
weiterhin eine kalkulierende
Wirtschaft und kein inklusives
Ideenlabor für individuellen
Ausdruck. Noch immer
sitzen dort vor allem Männer,
die Dinge eben so machen, wie
sie immer schon gemacht wurden.
Und wenn ein als „jung“
gelabeltes Techno-Festival wie
das Sea You solche Traditionen
fortführt, sollten gerade wir
Jungs aus unserem Boy‘s Club
heraustreten und ins Debattieren
kommen, auch und gerade
in der Sommersonne.
Fabian Lutz