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MIXTAPE KULTUR JOKER 39

„Ich hasse Männer“ – Ein Essay über die Misandrie

Vorweg, bitte keine Panik.

Ich hasse nicht alle Männer

und Pauline Harmange,

die Autorin des Essays „Ich

hasse Männer“ (Rowohlt,

2020), auch nicht. Oder vielleicht

doch? „Na gut, ich

wage mich vor: Ich hasse

Männer. Alle, wirklich? Ja,

alle. Ich habe prinzipiell keine

hohe Meinung von ihnen“,

schreibt Harmange direkt im

Einstieg. Und mal ehrlich,

verübeln können wir ihr das

nicht.

Seit 2015 betreibt die

französische Kommunikationswissenschaftlerin

den

feministischen Blog „Un

invincible été“, auf dem sie

Alltagsgeschichten und wissenschaftliche

Erkenntnisse

niederschreibt. In den Kommentarspalten

wimmeln sich

unzufriedene und missmutige

Männer, ausgerüstet mit

Worten voller Hass und Unverständnis

für eine Frau, die

im 21. Jahrhundert noch immer

über die Gleichstellung

von Frauen* schreibt. Das

ist doch alles Schnee von gestern,

wir dürfen schließlich

wählen gehen und auf dem

Papier sind wir gleichgestellt.

Also bitte Ruhe dahinten.

Tja, ganz so sieht es in der

Realität nicht aus. In einem

Interview mit der taz (Caroline

Rosales, 2020), erklärt

Harmange ihre Beweggründe

für diesen provokativen Essay,

der in Frankreich beinahe

eine Staatsaffäre ausgelöst

hätte. Bei ihr habe sich eine

Art feministisches Bournout

eingestellt – etwas, das viele

Feminist*innen (die Autorin

Schwesternschaft

ist mir

ein inneres Bedürfnis,

denn

um mich herum

leben zahllose

glänzende, begabte,

engagierte,

unglaublich

tolle Frauen, die

meine Unterstützung

und Liebe

verdienen.

(Harmange, 2020, S. 84)

dieses Artikels eingeschlossen)

nachvollziehen können.

Der feministische Kampf ist

ermüdend, irgendwie desillusionierend.

Dabei sei alles schon gesagt,

meint Harmange. Es

gibt Studien, wissenschaftliche

Belege und eine Frauenbewegung,

die seit Jahrhunderten

für die Rechte der

Frauen kämpft – und dennoch

ändert sich heute kaum noch

etwas. Aus dieser feministischen

Ohnmacht heraus ist

dieser Essay entstanden, der

Frauen* endlich eines zugesteht:

Wut.

In dem Kapitel „Die Männer,

die die Frauen nicht

liebten“ beleuchtet Harmange

die Konzepte der Misogynie

(Frauenhass) und Misandrie

(Männerhass). Die Autorin

sieht Misandrie als Reaktion

auf Misogynie und der in

diesem Kontext existierenden

Gewalt gegen Frauen*, die

seit Jahrhunderten stattfindet

und im kollektiven Gedächtnis

verankert ist. „Erinnern

wir uns daran, dass das Gewaltspektrum

der Frauenhasser

vom Cybermobbing

bis zum bewaffneten Attentat

reicht“ (Harmange, 2020,

S. 42) – sie führt hier den

Amoklauf an der Polytechnischen

Hochschule in Montréal

1989 auf, bei dem ein

25-Jähriger mit einem halbautomatischen

Gewehr 14

Studentinnen erschoss. Und

auch aktuelle Zahlen sehen

nicht rosig aus. Der Bericht

„Partnerschaftsgewalt. Kriminalistische

Auswertung

– Berichtsjahr 2020“ des

Bundeskriminalsamtes zählt

146.655 Fälle von Gewalt in

Partnerschaften, davon sind

80,5 Prozent der Betroffenen

Frauen*.Außerdem 460

Morde in Partnerschaften,

darunter 359 an Frauen*.

Was lösen diese Zahlen in

Ihnen aus? Wut? Gut so. Aber

wie vermitteln wir unsere

Wut? Bereits im Kindesalter

werden Jungen* und Mädchen*

unterschiedlich sozialisiert

– was am Ende dabei

rauskommt, ist das, was wir

in der Genderforschung das

„kulturelle Geschlecht“ nennen.

Es beeinflusst unsere

Verhaltensweise und Wahrnehmung

– wie wir z.B. auf

Wut reagieren, hängt davon

ab, wie wir als Kinder gelernt

haben, Wut zu kanalisieren.

Männer* lernen ihre

Wut durch Gewalt auszudrücken

– Frauen*, naja, am

besten gar nicht, beobachtet

Harmange. Starken Frauen

wie ihrer Mutter, die sonst

vor keiner Konfrontation zurückschreckt,

fehlen in partnerschaftlichen

Konflikten

die Worte. Es ist eine Sturzflut

der Gefühle, die meist

in Tränen und dem Verlust

der Artikulation endet. Erst

als Feministin habe Pauline

Harmange gelernt, wirklich

wütend zu werden.

Liebe Männer, wer bis

hierhin durchgehalten hat,

Chapeau! So viel Kritik auf

einmal ist gar nicht so leicht

wegzustecken. „Ich hasse

Männer“ ist ein bewusst provokant

geschriebener Essay,

ein anderer Redakteur (seinen

Text finden Sie direkt unter

diesem) meint: Wer feministische

Basics lernen möchte,

greift zu diesem Büchlein.

Elisabeth Jockers

Feiern mit den Jungs

Ehrlich, bei aller Notwendigkeit,

gegen Nazis, Machos oder

Faktenverdreher*innen auf die

Straße zu gehen, wünsche ich

mir manchmal schlicht Ruhe

und Entspannung. Gut, dass

bald Festivalsaison ist. Events

wie das Sea You Festival

2022 am Tunisee locken mit

entspannter Atmosphäre und

fetten Headlinern: Aka Aka,

Alex Kennon, Bart Skills, Citizen

Kain, Clara Cuvé, Eats

Everything, Enrico Sangiuliano.

Statt ideologischer Grabenkämpfe

endlich Party mit den

Jungs. Wobei – Party mit den

Jungs? Mir rutscht die Sonnenbrille

von der Nase. Wo sind

die Frauen hier? Okay, Entwarnung,

eine habe ich gefun-

den – Clara Cuvé. Aber sonst?

Irgendein Typ im schicken

Hawaii-Hemd, eben noch am

Abdancen, würde mich jetzt

sicher beruhigen: Ist ja nur ein

Auszug, gibt noch mehr weibliche

DJs auf dem Festival. Ich

soll nur das weitere Line-Up

angucken, das auf der Homepage

steht. Okay. Unter den

gelisteten gut 50 Artists finde

ich immerhin 7 Namen, hinter

denen ich eine weiblich zu

lesende Person vermute. Der

Typ im Hemd will mir die

Sonnenbrille wieder auf die

Nase schieben. Gibt eben weniger

Female DJs. DJing macht

Frauen vielleicht einfach weniger

Spaß. Ich soll mal entspannen.

Gibt sicher irgendwo

ein feministisches Festival, da

kann ich mal gucken. In Berlin,

Leizig oder so.

Irgendwie habe ich keine

Lust mehr zu entspannen. Ich

lasse die Sonnenbrille unten

und bleibe hier. Denn hier

steckt die Problematik. Sie

nennt sich Repräsentation. Und

sie fängt dort an, wo Festivals

als öffentlichkeitswirksame

Formate weiblich gelesenen

Menschen wenig Raum bieten,

Unterstützt von:

ihr Publikum zu erreichen. Tatsächlich

sind weibliche DJs bei

weitem nicht so oft anzutreffen

wie ihre männlichen Pendants.

Wie der Hamburger Verein

musicHHwomen* auf seiner

Website zeigt, sind in der Berufsgruppe

der DJs für 2014

680 Männer und 45 Frauen

gelistet. Ob diese krasse Diskrepanz

mit Geschlechterklischees

zu erklären ist? Wer jedenfalls

ernsthaft glaubt, dass

hinter der Zahl 45 irgendein

Fortschritt steckt, sollte nur

einen Blick in die 90er der wilden

Love-Parades werfen. Für

1995 listet musicHHwomen*

539 Männer und 27 Frauen. Irgendwie

zweifle ich angesichts

mancher Line-Ups daran, dass

2022 endlich die Trendwende

stattgefunden haben muss, jedenfalls

nicht hier im Ländle.

Das Baden Württemberger

Pendant musicBWwomen*

sagt es deutlich: Gleichstellung

in der Musikwirtschaft ist

längst nicht erreicht. Weitere

Bereiche wie Musikjounalismus,

Jazz oder Kultur – wie

Rundfunkorchester geben Beispiele.

Und dennoch wird immer

wieder argumentiert, dass

Quoten nichts brächten, dass

allein Talent und Individualität

für Erfolg und Durchbruch garantieren.

Es wird von großen

Artists wie Beyoncé oder Billie

Eilish gesprochen. Tatsächlich

aber ist die Musikwirtschaft

weiterhin eine kalkulierende

Wirtschaft und kein inklusives

Ideenlabor für individuellen

Ausdruck. Noch immer

sitzen dort vor allem Männer,

die Dinge eben so machen, wie

sie immer schon gemacht wurden.

Und wenn ein als „jung“

gelabeltes Techno-Festival wie

das Sea You solche Traditionen

fortführt, sollten gerade wir

Jungs aus unserem Boy‘s Club

heraustreten und ins Debattieren

kommen, auch und gerade

in der Sommersonne.

Fabian Lutz

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