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THEATER KULTUR JOKER 3

Ein Orchester als Ereignis

Die Osterfestspiele der Berliner Philharmoniker im Festspielhaus Baden-Baden präsentieren viel Russisches/Klare

Positionierung zum Ukrainekrieg

Gräfin (Doris Soffel)

und Lisa (Elena

Stikhina) in „Pique

Dame” bei den Osterfestspielen

2022

© Monika Rittershaus

Russische Musik wegen des

Ukrainekriegs von den Konzertprogrammen

streichen? Das

Festspielhaus Baden-Baden und

die Berliner Philharmoniker

gingen bei den Osterfestspielen

ganz bewusst einen anderen

Weg und hielten am lange

geplanten Russlandschwerpunkt

fest. Neben den beiden

Tschaikowsky-Opern erhielten

auch alle Orchesterkonzerte

und zwölf der dreizehn Kammerkonzerten

Werke russischer

Komponisten. Gleichzeitig bezog

man klar Stellung. „Der

heimtückische und völkerrechtswidrige

Angriff Putins auf die

Ukraine ist ein Messer in den

Rücken der ganzen friedlichen

Welt“, sagte Kirill Petrenko

bereits am 25. Februar. Gleichzeitig

warnte der russische Chefdirigent

der Berliner Philharmoniker

vor der Diskriminierung

russischer Künstler und bat um

Spenden für die Ukraine – er

selbst spendete 100 000 Euro

für die UNO-Flüchtlingshilfe.

Auch während des Festivals

ist der Spendenaufruf mit Aufstellern

im Foyer des Festspielhauses

und durch Anzeigen im

Programmbuch sichtbar.

Nachdem die letzten beiden

Osterfestspiele in Baden-Baden

wegen der Coronapandemie ausgefallen

sind – immerhin konnte

Tschaikowskys Oper „Mazeppa“

im Herbst noch bei einem

kürzeren Gastspiel der Berliner

Philharmoniker konzertant

nachgeholt werden – ging man

mit der aufwändigen szenischen

Realisierung von Tschaikowskys

„Pique Dame“ (Regie:

Moshe Leiser und Patrice

Caurier) in die Vollen. Warum

das Regieduo die Geschichte

nach einer Novelle von Puschkin

in ein Edelbordell verlegte

(Kostüme: Agostino Cavalca),

erschloss sich zwar nicht, zumal

gerade im ersten Teil vor der

Pause viel Belangloses dekoriert

wurde. Zumindest nach der Pause

wird die Inszenierung dichter,

weil das in die Breite gezogene

Bühnenbild von Christian Fenouillat

variabler eingesetzt wird

und sich der Fokus noch stärker

auf den sich immer mehrw isolierenden

Hermann (präsent:

Arsen Soghomonyan) richtet,

der immer mehr die Kontrolle

verliert. Auch die musikalische

Umsetzung braucht bei der Premiere

ein bisschen Anlauf. Im

ersten Akt hapert es noch an

der exakten Koordination von

Orchester, Bühnenmusik, Kinderchor

(Cantus Juvenum) und

Chor (Slowakischer Philharmonischer

Chor). Aber nach und

nach entwickelt Kirill Petrenko

mit den Berlinern Philharmonikern

eine perfekte Mischung

der dunklen Farben, einen magischen

Streicherklang und eine

Sogwirkung, der man sich nicht

entziehen kann. Elesa Stikhina

(Lisa), Vladislav Sulimsky

(Graf Tomski), Boris Pinkhasovich

(Fürst Jelezki) und Aigul

Akhmetshina (Polina) setzen

auch stimmlich Akzente im

hervorragend besetzten Solistenensemble.

Die konzertante

Produktion von „Jolanthe“ wird

dann zu einem regelrechten

Fest der Stimmen (besonders

eindrucksvoll: Sonya Yoncheva

in der Titelpartie und Liparit

Avetisyan als Vaudémont). Der

lyrische Einakter über eine blinde

Königstochter, die am Ende

durch die Liebe sehen kann,

wird von den Berliner Philharmonikern

unter Kirill Petrenko

zu einer ganz differenzierten

psychologischen Studie. Erst am

Ende zum mächtigen Gotteslob

lässt der Dirigent den Klang im

Orchester und Chor voll ausfahren,

ohne dabei Härten in Kauf

zu nehmen – ein Ereignis!

Mit Anna Netrebko als Publikumsmagnet

sollte eigentlich

die bekannteste russische

Künstlerin in einem Konzert

präsentiert werden. Mit ihrer

Absage kam sie einer Ausladung

zuvor. Dass Intendant Benedikt

Stampa bei seiner Begrüßung

zu Beginn der Ersatz-Gala die

Sängerin gar nicht erwähnt, der

er das ausverkaufte Haus zu

verdanken hat, mutet dann doch

etwas seltsam an, zumal er das

eigentlich wegen Netrebko gekommene

Publikum für seine

Treue lobt. Der von Andris Nelsons

dirigierte Abend bietet ein

buntes Opernprogramm zu den

Themen Freiheitskampf und Vaterlandsliebe,

aber auch Unpolitisches

wie Richard Wagners

„O du mein holder Abendstern“

(mit schöner Diktion: Thomas

Hampson) oder die ganz textlose

„Vocalise“ von Sergej Rachmaninow,

veredelt von Katharina

Konradi. Insgesamt fehlt der

kurzfristig zusammengestellten

Gala der dramaturgische

und musikalische Zusammenhang.

Auch Igor Strawinskys

„Feuervogel“ wirkt, wenn auch

brillant musiziert, in diesem

Zusammenhang etwas verloren.

Spannenderes gibt es beim

ebenfalls von Nelsons geleiteten

Konzert am Samstagabend zu

entdecken. Mieczyslaw Weinbergs

ungewöhnliches Trompetenkonzert

aus dem Jahr 1967

changiert zwischen Zirkuston

und Klagegestus. Statt ausgreifender

Melodien treffen im

ersten Satz rhythmisch akzentuierte

Motivschnipsel auf beruhigende

Liegetöne. Der das

Konzert eröffnende, vertrackte

Trompetenaufgang wird mit der

gleichen Energie vom Orchester

wiederholt. Wie überhaupt

der Dialog zwischen Solist und

Tutti lebendig und ganz präzise

bleibt. Solist Hakan Hardenberger

besitzt einen glasklaren,

schlackenlosen Trompetenton,

mit dem er die Solostimme veredelt.

Skurril dann das am Ende

zerfallende, wie improvisiert

wirkende Finale des Schostakowitsch-Freundes

Weinberg

mit „Carmen“-Anklängen und

Hochzeitsmarsch-Parodie, dem

sich eine farbintensive Version

von Strawinskys Ballettmusik

„Le Sacre du printemps“ anschließt.

Der Orchesterklang

hat Tiefe, Plastizität und in den

Streichern eine selten zu hörende

Homogenität. Und eine

Durchsichtigkeit, die noch jedes

kleine Kontrabassgrummeln

und Piccolozirpen hörbar macht.

Aber auch dem in der Musik

enthaltenen Rausch und der

Ekstase widmen sich die Berliner

Philharmoniker mit größter

Hingabe. Strawinsky at its best!

Georg Rudiger

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