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Nachhaltig KULTUR JOKER 27

unabhängig davon, wie man zu

ihrem Ausmaß steht – die wirklichen

Gesundheitsrisiken dieser

großen Freisetzungen von Radioaktivität

in einer allgemein erhöhten

Krebsinzidenz liegen und

nicht darin, dass Menschen auf

der Stelle tot umfallen.

Vor diesem Hintergrund ist die

anhaltende intensive Unterstützung

der britischen Regierung für

die Atomenergie so merkwürdig

– und das zunehmende Geschrei

der britischen PR- und Medienartikel,

die sich für die Atomenergie

aussprechen, so auffällig. Es sind

auch nicht nur die Medien: Merkwürdig

ist, dass selbst um einige

der zuvor kritischen Organisationen

(wie z.B. Friends of the Earth

) angesichts der entschlossenen

Bekenntnisse der Regierung zur

Atomenergie seltsam still zu werden

scheint.

Damaskus-Bekehrungen von

Umweltschützern

Ein seltsam prominentes Stilmittel

nutzt Umweltschützer, von

denen berichtet wird, dass sie ihre

Meinung geändert haben. Zu jeder

anderen Zeit wären Bekehrungen

solcher Art ein eher merkwürdiger

Grund für mediale Anteilnahme –

keine andere Debatte in der Umweltbewegung

wird von der etablierten

Presse derart aufmerksam

verfolgt. Aber wenn die vermeldeten

Veränderungen so konsequent

eine so offensichtlich global

gescheiterte Politik begünstigen,

ist das durchaus seltsam. Warum

ist jetzt, da das Schicksal der

Atomkraft auf dem tiefsten Stand

seit einem halben Jahrhundert ist,

der oberflächliche Eindruck so

viel positiver als je zuvor?

Zwei der prominentesten Beispiele

für die Personifikation des

„reuigen Kritikers“ tauchten vor

einem Jahrzehnt auf, und zwar um

George Monbiot und Mark Lynas.

Beide haben wiederholt und lautstark

betont, dass sie früher aktiv

kritisch gegenüber der Atomenergie

waren, inzwischen aber ihre

Meinung geändert haben und nun

positiver eingestellt seien.

In einem Gespräch mit ‚openDemocracy‘

stellte Monbiot kürzlich

klar, dass er gegen das Atomkraftwerk

Hinkley C in Somerset

ist, das 2026 in Betrieb gehen soll

und das er als ‚weißen Elefanten‘

bezeichnete. Aber trotz der oben

erwähnten Probleme im Zusammenhang

mit SMRs sagt er, er sei

Unterstützt von:

„weiterhin begeistert von modularen

Technologien der vierten

Generation“.

Entscheidend für Monbiot:

„Fukushima hat mir vor Augen

geführt, wie gering das Risiko

der Kernenergie im Vergleich zu

anderen Energiequellen ist. Eine

Katastrophe solchen Ausmaßes ...

und niemand ist gestorben. Dennoch

begannen mehrere Regierungen

daraufhin, über die Abschaffung

ihrer Atomkraftwerke

zu sprechen, was eine Rückkehr

zu fossilen Brennstoffen bedeutete.

Deutschland war dabei Vorreiter,

mit katastrophalen Folgen:

Die vorzeitige Stilllegung bedeutete

Hunderte Millionen Tonnen

zusätzliches CO2. Weshalb? Wegen

der Gefahr von Tsunamis in

Bayern?“

Lynas wiederum erklärte gegenüber

‚openDemocracy‘: „Ich

denke, Atomkraftgegner würden

durchaus ein paar Milliarden

Tonnen CO2 zusätzlich in Kauf

nehmen, um die kohlenstofffreie

Kernspaltung vom Netz zu bekommen!“

Natürlich ist es eher eine

Stärke als eine Schwäche, seine

Meinung ändern zu können.

Und freies Denken ist stets zu

begrüßen. Man könnte sich aber

fragen, warum die Meinungsänderungen

von Lynas und Monbiot

der negativen Entwicklung in

der Atomwirtschaft zuwiderlaufen.

Man könnte sich wünschen,

dass sie sich mehr mit den weiter

oben in diesem Artikel zusammengefassten

wesentlichen Entwicklungen

auseinandersetzen

würden, aber sie haben ein Recht

auf ihre Ansichten. Interessanter

ist jedoch die Frage, warum Teile

der Presse so oft und lautstark

die Allegorie des „reumütigen

Kritikers“ wiederholen, zugunsten

einer derart angeschlagenen

Industrie.

Ein jüngeres Beispiel ist Zion

Lights, deren Darstellung in

der Daily Mail als „ehemalige

Kommunikationschefin von XR

[Extinction Rebellion]“ von dieser

Organisation widersprochen

wurde. Über Lights‘ Positionswechsel

– sie verließ Extinction

Rebellion, um sich für die Atomenergie

einzusetzen – wurde

zwischen Juni und September

2020 in City AM, der Daily Mail

(zweimal) und dem Daily Telegraph

sowie in einem Artikel auf

der BBC News Website berichtet.

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In einer zweiten Runde im Oktober

wurde die Geschichte erneut

von der Mail aufgegriffen, und

Lights erschien auch in der Sun,

diesmal mit einem (inzwischen

widerlegten) Artikel über Windenergie.

Und als ob dies nicht schon befremdlich

genug wäre, griff auch

der ehemalige BBC Radio 4 Today

Moderator John Humphrys,

eine prominente und angesehene

Persönlichkeit der britischen Medien,

die Geschichte mit einem

langen Artikel in der Daily Mail

auf, der auf seine Weise eine ähnliche

Story von der „reumütigen

Kritikerin“ erzählt.

Noch bemerkenswerter an

diesem speziellen Fall eines allgemeinen

Syndroms ist, dass

Lights – die Person im Mittelpunkt

dieser Geschichte – keine

Anstrengungen unternommen

hat (was man ihr zugutehalten

muss), um zu verbergen, dass sie

eine Zeit lang bei einer hochkarätigen

PR-Firma angestellt war,

welche die Industrie unterstützt

und sich seit langem unverhohlen

für die Atomenergie einsetzt – der

US-Organisation ‚Environmental

Progress‘.

Das WIR

schafft

Energie

Fehlende Stimmen für erneuerbare

Energien

Die Auswirkungen gehen

über den Einzelfall hinaus. Es

ist merkwürdig, dass die Medien

diese Argumentationsweise

so stark aufgreifen, während es

um die andere Seite vergleichsweise

still ist. Schließlich sind

die Umweltbedenken gegen die

Atomenergie zwar nicht unfehlbar,

haben sich aber im Laufe der

Jahre im Allgemeinen als berechtigt

erwiesen. Unabhängig davon,

auf welcher Seite man steht,

muss man zugeben, dass – trotz

wiederholter Dementis der britischen

Regierung und der Industrie

– vormals verborgene Kosten

aufgedeckt wurden, ehrgeizige

Baupläne gescheitert sind, langwierige

Altlastprobleme ungelöst

bleiben und Unfälle, von denen

einst behauptet wurde, sie seien

vernachlässigbar, tatsächlich eingetreten

sind.

Was die ‚reumütigen Kritiker‘

betrifft, so lautet die entscheidende

Frage also wie folgt: Angesichts

des unaufhaltsamen

Vormarschs der Erneuerbaren

weltweit, wo sind die öffentlichkeitswirksamen

Medienplattformen

für ihre eigenen ‚reumütigen

Kritiker‘? Warum ist ausgerechnet

eine Technologie, die so

stark rückläufig ist, der Auslöser

für einen Meinungsumschwung

mit derartigem Nachrichtenwert?

Diese merkwürdigen Muster

sind auch nicht auf die traditionellen

Medien beschränkt. Auch

die sozialen Medien scheinen dafür

anfällig zu sein. Zur gleichen

Zeit, als Lights seltsam prominenter

persönlicher Weg so viel

unhinterfragte Presse-Aufmerksamkeit

erregte, waren auf Twitter

andere auffällige Entwicklungen

im Gange. Hier gingen im

Dezember 2019 die Accounts der

‚Friends of Nuclear Energy‘, im

April 2020 die ‚UK Pro Nuclear

Power Group‘ (UKPNPG) und im

Juli 2020 ‚Mums for Nuclear‘ UK

an den Start.

Offizielle britische Atomkraft-Verbundenheit

wird als

unbestreitbare Selbstverständlichkeit

behandelt

Ein besonders interessantes

Beispiel ist die Gruppe ‚Greens

For Nuclear Energy‘, die seit

Mai 2019 u.a. auf Twitter aktiv

ist, mit großem Aufwand für die

Atomkraft wirbt und versucht,

die Position der Grünen Partei zu

ändern. Die ‚Liberaldemokraten

für Kernenergie‘ (@LDs4nuclear)

erschienen im Oktober 2020

auf Twitter. Als die ‚Greens For

Nuclear Energy‘ unserer Aufforderung

nachkamen, auf die in

diesem Artikel aufgeworfenen

Kernfragen zu antworten, verwiesen

sie auf ihre Website, auf

der sie nachdrücklich dazu aufrufen,

„keine Kompromisse bei der

Bekämpfung des Klimawandels“

einzugehen.

Dieser Fall einer Grünen Partei

ist besonders bemerkenswert, da

sie (seltsamerweise, wenn man

die zugrundeliegenden Muster

der öffentlichen Besorgnis über

Atomfragen bedenkt) die einzige

organisierte politische Kraft in

England ist, die im Parlament eine

durchweg skeptische Position zur

Atomkraft vertritt. Da die Grünen

in dieser Frage seit einem halben

Jahrhundert so stark verankert

sind, ist es besonders merkwürdig,

dass diese Entwicklung zu

einem Zeitpunkt eintritt, an dem

– zumindest für die Grünen – die

Diskussion so weit fortgeschritten

ist wie nie zuvor.

Was bei all den von uns angeführten

Beispielen besonders

auffällt, ist die Tatsache, dass

sich keiner von ihnen substantiell

mit der realen Leistung der

Atomenergie auseinandersetzt.

Trotz der lebhaften Rhetorik um

die Notwendigkeit einer „wissenschaftsbasierten“

Politik – und

der gelegentlich farbenfrohen

Panikmache zur schwankenden

Stromerzeugung, die „die Lichter

ausgehen lässt“– geht keine dieser

produktiven Stimmen auf das

weltweite Bild ein (geschweige

denn widerlegt es), das zeigt, dass

die Atomenergie bei der Bewältigung

von Klimaschäden wesentlich

langsamer, weniger effektiv

und teurer ist als Erneuerbare und

Speichertechnologien.

Britische Regierungspolitik

Trotz des oberflächlichen Engagements

ist dieser Trend auch in

der Energiepolitik der britischen

Regierung zu beobachten. Schaut

man sich in den Fachpapieren

des öffentlichen Dienstes um, so

stößt man auf steigende Preise

und wenig energiepolitische Argumente

für die Atomkraft. Bemerkenswert

abweichend von der

üblichen sorgfältigen Beachtung

der Kosten ignorierte das jüngste

Energie-Weißbuch aber all diese

‚langweiligen‘ wirtschaftlichen

Details. Die offizielle britische

Atomkraft-Verbundenheit wird

als unbestreitbare Selbstverständlichkeit

behandelt.

Sucht man nach einer überzeugenden

Erklärung für die anhaltend

intensive Unterstützung

der britischen Regierung für die

Atomenergie, so scheint das wahre

Bild hinter den Ablenkungen

klar zu sein. Offizielle britische

Verteidigungsdokumente, viele

unberücksichtigte nationale und

internationale Medienberichte,

kurze Eingeständnisse gegenüber

dem Parlament und ausdrückliche

Erklärungen in anderen Atomwaffen-Staaten

machen deutlich,

dass die Gründe eher militärischer

als ziviler Natur sind.

Man könnte also verstehen, warum

tief verwurzelte Nuklearinteressen

dazu verleiten, diese unbequemen

Fakten hinter hübschen

Bildern der schottischen Highlands

zu verbergen. Aber warum

sind die Medien so eifrig dabei,

die Realitäten hinter Geschichten

von reuigen Umweltschützern

zu verstecken? Warum wird in

ehemals kritischen politischen

Parteien so viel Lärm um die

Atomenergie gemacht, wo doch

die Argumente schwächer denn

je geworden sind?

Hier werden tiefgreifende Fragen

aufgeworfen, nicht nur in

Bezug auf die Kosten und die

Geschwindigkeit von Klimaschutzmaßnahmen,

sondern auch

in Bezug auf die Unabhängigkeit

und Professionalität der britischen

Medien und die Funktionsfähigkeit

der britischen Demokratie

insgesamt. Unabhängig davon,

welche Meinung jeder von uns

in Sachen Atomenergie vertritt –

und ungeachtet der unbestrittenen

Unsicherheiten und Unklarheiten

– sollte uns dies allen sehr am

Herzen liegen.

Andrew Stirling,

Phil Johnstone

Prof. Andrew Stirling, Wissenschafts-

und Technologiepolitik,

University of Sussex

Dr. Phil Johnstone, wissenschaftl.

Mitarbeiter an der

Science Policy Research Unit,

University of Sussex

Übersetzer: Herbert Eppel

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