flip-Joker_2022-05
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Nachhaltig KULTUR JOKER 27
unabhängig davon, wie man zu
ihrem Ausmaß steht – die wirklichen
Gesundheitsrisiken dieser
großen Freisetzungen von Radioaktivität
in einer allgemein erhöhten
Krebsinzidenz liegen und
nicht darin, dass Menschen auf
der Stelle tot umfallen.
Vor diesem Hintergrund ist die
anhaltende intensive Unterstützung
der britischen Regierung für
die Atomenergie so merkwürdig
– und das zunehmende Geschrei
der britischen PR- und Medienartikel,
die sich für die Atomenergie
aussprechen, so auffällig. Es sind
auch nicht nur die Medien: Merkwürdig
ist, dass selbst um einige
der zuvor kritischen Organisationen
(wie z.B. Friends of the Earth
) angesichts der entschlossenen
Bekenntnisse der Regierung zur
Atomenergie seltsam still zu werden
scheint.
Damaskus-Bekehrungen von
Umweltschützern
Ein seltsam prominentes Stilmittel
nutzt Umweltschützer, von
denen berichtet wird, dass sie ihre
Meinung geändert haben. Zu jeder
anderen Zeit wären Bekehrungen
solcher Art ein eher merkwürdiger
Grund für mediale Anteilnahme –
keine andere Debatte in der Umweltbewegung
wird von der etablierten
Presse derart aufmerksam
verfolgt. Aber wenn die vermeldeten
Veränderungen so konsequent
eine so offensichtlich global
gescheiterte Politik begünstigen,
ist das durchaus seltsam. Warum
ist jetzt, da das Schicksal der
Atomkraft auf dem tiefsten Stand
seit einem halben Jahrhundert ist,
der oberflächliche Eindruck so
viel positiver als je zuvor?
Zwei der prominentesten Beispiele
für die Personifikation des
„reuigen Kritikers“ tauchten vor
einem Jahrzehnt auf, und zwar um
George Monbiot und Mark Lynas.
Beide haben wiederholt und lautstark
betont, dass sie früher aktiv
kritisch gegenüber der Atomenergie
waren, inzwischen aber ihre
Meinung geändert haben und nun
positiver eingestellt seien.
In einem Gespräch mit ‚openDemocracy‘
stellte Monbiot kürzlich
klar, dass er gegen das Atomkraftwerk
Hinkley C in Somerset
ist, das 2026 in Betrieb gehen soll
und das er als ‚weißen Elefanten‘
bezeichnete. Aber trotz der oben
erwähnten Probleme im Zusammenhang
mit SMRs sagt er, er sei
Unterstützt von:
„weiterhin begeistert von modularen
Technologien der vierten
Generation“.
Entscheidend für Monbiot:
„Fukushima hat mir vor Augen
geführt, wie gering das Risiko
der Kernenergie im Vergleich zu
anderen Energiequellen ist. Eine
Katastrophe solchen Ausmaßes ...
und niemand ist gestorben. Dennoch
begannen mehrere Regierungen
daraufhin, über die Abschaffung
ihrer Atomkraftwerke
zu sprechen, was eine Rückkehr
zu fossilen Brennstoffen bedeutete.
Deutschland war dabei Vorreiter,
mit katastrophalen Folgen:
Die vorzeitige Stilllegung bedeutete
Hunderte Millionen Tonnen
zusätzliches CO2. Weshalb? Wegen
der Gefahr von Tsunamis in
Bayern?“
Lynas wiederum erklärte gegenüber
‚openDemocracy‘: „Ich
denke, Atomkraftgegner würden
durchaus ein paar Milliarden
Tonnen CO2 zusätzlich in Kauf
nehmen, um die kohlenstofffreie
Kernspaltung vom Netz zu bekommen!“
Natürlich ist es eher eine
Stärke als eine Schwäche, seine
Meinung ändern zu können.
Und freies Denken ist stets zu
begrüßen. Man könnte sich aber
fragen, warum die Meinungsänderungen
von Lynas und Monbiot
der negativen Entwicklung in
der Atomwirtschaft zuwiderlaufen.
Man könnte sich wünschen,
dass sie sich mehr mit den weiter
oben in diesem Artikel zusammengefassten
wesentlichen Entwicklungen
auseinandersetzen
würden, aber sie haben ein Recht
auf ihre Ansichten. Interessanter
ist jedoch die Frage, warum Teile
der Presse so oft und lautstark
die Allegorie des „reumütigen
Kritikers“ wiederholen, zugunsten
einer derart angeschlagenen
Industrie.
Ein jüngeres Beispiel ist Zion
Lights, deren Darstellung in
der Daily Mail als „ehemalige
Kommunikationschefin von XR
[Extinction Rebellion]“ von dieser
Organisation widersprochen
wurde. Über Lights‘ Positionswechsel
– sie verließ Extinction
Rebellion, um sich für die Atomenergie
einzusetzen – wurde
zwischen Juni und September
2020 in City AM, der Daily Mail
(zweimal) und dem Daily Telegraph
sowie in einem Artikel auf
der BBC News Website berichtet.
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In einer zweiten Runde im Oktober
wurde die Geschichte erneut
von der Mail aufgegriffen, und
Lights erschien auch in der Sun,
diesmal mit einem (inzwischen
widerlegten) Artikel über Windenergie.
Und als ob dies nicht schon befremdlich
genug wäre, griff auch
der ehemalige BBC Radio 4 Today
Moderator John Humphrys,
eine prominente und angesehene
Persönlichkeit der britischen Medien,
die Geschichte mit einem
langen Artikel in der Daily Mail
auf, der auf seine Weise eine ähnliche
Story von der „reumütigen
Kritikerin“ erzählt.
Noch bemerkenswerter an
diesem speziellen Fall eines allgemeinen
Syndroms ist, dass
Lights – die Person im Mittelpunkt
dieser Geschichte – keine
Anstrengungen unternommen
hat (was man ihr zugutehalten
muss), um zu verbergen, dass sie
eine Zeit lang bei einer hochkarätigen
PR-Firma angestellt war,
welche die Industrie unterstützt
und sich seit langem unverhohlen
für die Atomenergie einsetzt – der
US-Organisation ‚Environmental
Progress‘.
Das WIR
schafft
Energie
Fehlende Stimmen für erneuerbare
Energien
Die Auswirkungen gehen
über den Einzelfall hinaus. Es
ist merkwürdig, dass die Medien
diese Argumentationsweise
so stark aufgreifen, während es
um die andere Seite vergleichsweise
still ist. Schließlich sind
die Umweltbedenken gegen die
Atomenergie zwar nicht unfehlbar,
haben sich aber im Laufe der
Jahre im Allgemeinen als berechtigt
erwiesen. Unabhängig davon,
auf welcher Seite man steht,
muss man zugeben, dass – trotz
wiederholter Dementis der britischen
Regierung und der Industrie
– vormals verborgene Kosten
aufgedeckt wurden, ehrgeizige
Baupläne gescheitert sind, langwierige
Altlastprobleme ungelöst
bleiben und Unfälle, von denen
einst behauptet wurde, sie seien
vernachlässigbar, tatsächlich eingetreten
sind.
Was die ‚reumütigen Kritiker‘
betrifft, so lautet die entscheidende
Frage also wie folgt: Angesichts
des unaufhaltsamen
Vormarschs der Erneuerbaren
weltweit, wo sind die öffentlichkeitswirksamen
Medienplattformen
für ihre eigenen ‚reumütigen
Kritiker‘? Warum ist ausgerechnet
eine Technologie, die so
stark rückläufig ist, der Auslöser
für einen Meinungsumschwung
mit derartigem Nachrichtenwert?
Diese merkwürdigen Muster
sind auch nicht auf die traditionellen
Medien beschränkt. Auch
die sozialen Medien scheinen dafür
anfällig zu sein. Zur gleichen
Zeit, als Lights seltsam prominenter
persönlicher Weg so viel
unhinterfragte Presse-Aufmerksamkeit
erregte, waren auf Twitter
andere auffällige Entwicklungen
im Gange. Hier gingen im
Dezember 2019 die Accounts der
‚Friends of Nuclear Energy‘, im
April 2020 die ‚UK Pro Nuclear
Power Group‘ (UKPNPG) und im
Juli 2020 ‚Mums for Nuclear‘ UK
an den Start.
Offizielle britische Atomkraft-Verbundenheit
wird als
unbestreitbare Selbstverständlichkeit
behandelt
Ein besonders interessantes
Beispiel ist die Gruppe ‚Greens
For Nuclear Energy‘, die seit
Mai 2019 u.a. auf Twitter aktiv
ist, mit großem Aufwand für die
Atomkraft wirbt und versucht,
die Position der Grünen Partei zu
ändern. Die ‚Liberaldemokraten
für Kernenergie‘ (@LDs4nuclear)
erschienen im Oktober 2020
auf Twitter. Als die ‚Greens For
Nuclear Energy‘ unserer Aufforderung
nachkamen, auf die in
diesem Artikel aufgeworfenen
Kernfragen zu antworten, verwiesen
sie auf ihre Website, auf
der sie nachdrücklich dazu aufrufen,
„keine Kompromisse bei der
Bekämpfung des Klimawandels“
einzugehen.
Dieser Fall einer Grünen Partei
ist besonders bemerkenswert, da
sie (seltsamerweise, wenn man
die zugrundeliegenden Muster
der öffentlichen Besorgnis über
Atomfragen bedenkt) die einzige
organisierte politische Kraft in
England ist, die im Parlament eine
durchweg skeptische Position zur
Atomkraft vertritt. Da die Grünen
in dieser Frage seit einem halben
Jahrhundert so stark verankert
sind, ist es besonders merkwürdig,
dass diese Entwicklung zu
einem Zeitpunkt eintritt, an dem
– zumindest für die Grünen – die
Diskussion so weit fortgeschritten
ist wie nie zuvor.
Was bei all den von uns angeführten
Beispielen besonders
auffällt, ist die Tatsache, dass
sich keiner von ihnen substantiell
mit der realen Leistung der
Atomenergie auseinandersetzt.
Trotz der lebhaften Rhetorik um
die Notwendigkeit einer „wissenschaftsbasierten“
Politik – und
der gelegentlich farbenfrohen
Panikmache zur schwankenden
Stromerzeugung, die „die Lichter
ausgehen lässt“– geht keine dieser
produktiven Stimmen auf das
weltweite Bild ein (geschweige
denn widerlegt es), das zeigt, dass
die Atomenergie bei der Bewältigung
von Klimaschäden wesentlich
langsamer, weniger effektiv
und teurer ist als Erneuerbare und
Speichertechnologien.
Britische Regierungspolitik
Trotz des oberflächlichen Engagements
ist dieser Trend auch in
der Energiepolitik der britischen
Regierung zu beobachten. Schaut
man sich in den Fachpapieren
des öffentlichen Dienstes um, so
stößt man auf steigende Preise
und wenig energiepolitische Argumente
für die Atomkraft. Bemerkenswert
abweichend von der
üblichen sorgfältigen Beachtung
der Kosten ignorierte das jüngste
Energie-Weißbuch aber all diese
‚langweiligen‘ wirtschaftlichen
Details. Die offizielle britische
Atomkraft-Verbundenheit wird
als unbestreitbare Selbstverständlichkeit
behandelt.
Sucht man nach einer überzeugenden
Erklärung für die anhaltend
intensive Unterstützung
der britischen Regierung für die
Atomenergie, so scheint das wahre
Bild hinter den Ablenkungen
klar zu sein. Offizielle britische
Verteidigungsdokumente, viele
unberücksichtigte nationale und
internationale Medienberichte,
kurze Eingeständnisse gegenüber
dem Parlament und ausdrückliche
Erklärungen in anderen Atomwaffen-Staaten
machen deutlich,
dass die Gründe eher militärischer
als ziviler Natur sind.
Man könnte also verstehen, warum
tief verwurzelte Nuklearinteressen
dazu verleiten, diese unbequemen
Fakten hinter hübschen
Bildern der schottischen Highlands
zu verbergen. Aber warum
sind die Medien so eifrig dabei,
die Realitäten hinter Geschichten
von reuigen Umweltschützern
zu verstecken? Warum wird in
ehemals kritischen politischen
Parteien so viel Lärm um die
Atomenergie gemacht, wo doch
die Argumente schwächer denn
je geworden sind?
Hier werden tiefgreifende Fragen
aufgeworfen, nicht nur in
Bezug auf die Kosten und die
Geschwindigkeit von Klimaschutzmaßnahmen,
sondern auch
in Bezug auf die Unabhängigkeit
und Professionalität der britischen
Medien und die Funktionsfähigkeit
der britischen Demokratie
insgesamt. Unabhängig davon,
welche Meinung jeder von uns
in Sachen Atomenergie vertritt –
und ungeachtet der unbestrittenen
Unsicherheiten und Unklarheiten
– sollte uns dies allen sehr am
Herzen liegen.
Andrew Stirling,
Phil Johnstone
Prof. Andrew Stirling, Wissenschafts-
und Technologiepolitik,
University of Sussex
Dr. Phil Johnstone, wissenschaftl.
Mitarbeiter an der
Science Policy Research Unit,
University of Sussex
Übersetzer: Herbert Eppel