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26 KULTUR JOKER Nachhaltig
Warum ist die Unterstützung für die Atomkraft gerade dann
am lautesten, wenn ihr Versagen am deutlichsten wird?
Die britische Regierung und die Massenmedien sind sich einig, dass wir die Atomkraft brauchen, um die schlimmsten
Auswirkungen des Klimawandels zu verhindern. Sie irren sich – warum hören wir davon nichts?
Am Bahnhof Haymarket in
Edinburgh, der auf dem Weg
der COP26-Delegierten lag, die
im November nach Glasgow
weiterreisten, zeigte ein großes
Plakat den Blick auf Loch Shiel.
Im Vordergrund ragt ein Denkmal
für den Jakobiten-Aufstand
an der Stelle auf, an der Bonnie
Prince Charlie seine Standarte
aufstellte. Von dort aus erstreckt
sich das Wasser bis zu einer zerklüfteten
Hügellandschaft.
Dies ist eine der berühmtesten
Ansichten Schottlands, die
sowohl für ihre Geschichte als
auch für ihre Rolle in den Harry-
Potter-Filmen bekannt ist.
Auf dem Plakat sind in den
Himmel über dem See die Worte
geschrieben: „Bewahrt die Natur:
Mehr Atomkraft bedeutet
mehr Naturschauplätze wie dieser“.
Am unteren Rand steht ein
Hashtag – #NetZeroNeedsNuclear
– ohne weitere Hinweise darauf,
wer hinter dieser Werbung
stecken könnte.
Aber es ist nicht schwer, die
Website dieser Gruppe zu finden,
die vorgeblich von „einem
Team junger, internationaler
Freiwilliger aus Ingenieuren,
Wissenschaftlern und Kommunikatoren“
betrieben wird, mit
den einnehmend lächelnden Profilbildern,
die man von Bürgeraktivisten
erwartet.
Erst wenn man bis zum Ende
scrollt, sieht man, dass diese
Aktivitäten von den Atomkonzernen
EDF und Urenco ‚gesponsert‘
werden. Unten wird
erklärt, dass ‚Nuclear Needs Net
Zero‘ Teil des ‚Young Generation
Network‘ (YGN) ist – junge
Mitglieder des Nuclear Institute
(NI), dem Berufsverband und
der Fachgesellschaft für den
britischen Atomsektor. Auf der
Website wird behauptet, dass die
‚Nuclear4Climate-Kampagne‘
– die sowohl auf der Website
als auch in einer Präsentation
auf einer Konferenz der Internationalen
Atomenergiebehörde
IAEA im Jahr 2019 als „basisdemokratisch“
bezeichnet wird – in
Wirklichkeit „über regionale und
nationale Nuklearverbände und
technische Gesellschaften koordiniert“
wird.
Während der COP26 veranstaltete
‚Nuclear Needs Net Zero‘ einen
Flashmob im Zentrum von
Glasgow, bei dem junge Tänzerinnen
und Tänzer T-Shirts mit
der Aufschrift „We need to talk
about nuclear“ (Wir müssen über
Atomkraft reden) trugen. Das ist
das scheinbar frische, jugendliche
Gesicht der heutigen Atomlobby.
#NetZeroNeedsNuclear ‚Net Zero Needs Nuclear‘ Plakat am
Bahnhof Haymarket, Edinburgh, November 2021 | Simon Butler.
Natürlich ist all dies in der
kreativen PR-Welt ganz normal.
Aber es gibt substanzielle Gründe,
warum die Befürworter der
Atomenergie derzeit allzu forschende
Blicke vermeiden möchten.
Eine Realität, über die sich
alle Seiten einig sind, ist, dass
dies die mit Abstand schlechteste
Zeit in der 70-jährigen Geschichte
dieser alternden Industrie ist.
Wie kommt es dann, dass sie in
den Massenmedien und in den
sozialen Medien eine wachsende
und lautstarke Unterstützung
erfährt? Warum werden immer
noch leicht zu widerlegende
Argumente angeführt, um neue
Atomkraftwerke neben den erneuerbaren
Energien im Energiemix
zu rechtfertigen? Und
warum haben sich die Medien so
enthusiastisch auf einige prominente
Befürworter der Atomenergie
gestürzt?
Atomenergie verliert gegenüber
erneuerbaren Energien
Bei den aktuellen Preisen kostet
die Atomenergie heute etwa
dreimal so viel wie Wind- oder
Sonnenenergie. Und das, ohne
die vollen Kosten für die Abfallentsorgung,
aufwendige Sicherheitsmaßnahmen,
Maßnahmen
zur Bekämpfung der Proliferation
oder regelmäßige Unfälle
zu berücksichtigen. Seit mehr
als einem Jahrzehnt wird die
Atomindustrie von ausufernden
Kosten, immer längeren Bauzeiten
und Auftragsrückgängen
geplagt. Die Entwicklungen der
letzten Jahre laufen alle stur in
die falsche Richtung.
Die zunehmende Lautstärke
der Fürsprecher scheint also in
umgekehrtem Verhältnis zur
Leistungsfähigkeit zu stehen.
Wie auch immer man es betrachtet,
die Atomkraft befindet
sich im Vergleich zu emissionsarmen
Alternativen in einer
schlechteren Lage als je zuvor –
eine Lage, die sich rapide weiter
verschlechtert.
Von den wenigen Staaten,
die noch groß angelegte AKW-
Neubauprogramme verfolgen,
sind die meisten (darunter auch
das Vereinigte Königreich) entweder
bereits mit Atomwaffen
ausgerüstet oder streben solche
aktiv an. Aber selbst im Vereinigten
Königreich (das im internationalen
Vergleich eines
der proportional ehrgeizigsten
Atomprogramme hat) zeigen
die offiziellen Daten eindeutig,
dass die erneuerbaren Energien
die Atomkraft auf dem Weg zu
einer klimaneutralen Energieversorgung
deutlich übertreffen.
Warum werden immer noch
leicht widerlegbare Argumente
angeführt, um neue
Atomkraftwerke zu rechtfertigen?
Trotz irreführender gegenteiliger
Behauptungen hochrangiger
Persönlichkeiten zeigen
die offiziellen Daten seit Jahrzehnten,
dass die enormen Erneuerbaren-Ressourcen
im Vereinigten
Königreich eindeutig
für alle vorhersehbaren Bedürfnisse
ausreichen. Selbst wenn
man die Kosten für Speicherung
und Flexibilität mit einbezieht,
sind die Erneuerbaren viel
schneller und kostengünstiger
verfügbar als die Atomkraft.
Es ist also wirklich ein Rätsel,
warum die anhaltend optimistischen
Behauptungen der Regierung
und der Industrie über
die Atomenergie in der öffentlichen
Debatte so unangefochten
bleiben, nicht zuletzt da immer
deutlicher wird, dass die Nuklearpläne
Aufmerksamkeit, Geld
und Ressourcen vergeuden, die
auf andere Weise weitaus effektiver
eingesetzt werden könnten.
Eine Auswirkung dieser anhaltenden
offiziellen Atomkraftunterstützung
ist, dass die Klimaschutzmaßnahmen
vermindert
und verlangsamt werden. Ein
Artikel in Nature Energy im
vergangenen Jahr (an der einer
der Autoren dieses Artikels mitgewirkt
hat) hat gezeigt, dass der
Umfang der nationalen Atomprogramme
in den letzten drei
Jahrzehnten nicht mit allgemein
niedrigeren Kohlenstoffemissionen
korreliert. Der Ausbau der
erneuerbaren Energien hingegen
schon.
Tatsächlich fand diese Studie
„einen negativen Zusammenhang
zwischen dem Umfang der
nationalen Nuklear- und Erneuerbare-Energien-Programme.
Dies deutet darauf hin, dass sich
Atomenergie und erneuerbare
Energien ... gegenseitig verdrängen.“
Die Problematik ist natürlich
komplex. Aber dieses Ergebnis
bestätigt, was auch das düstere
Performance-Bild vorhersagt:
dass die Atomkraft Ressourcen
und Aufmerksamkeit von effektiveren
Strategien abzieht und
die Kosten für Verbraucher und
Steuerzahler erhöht. Umso merkwürdiger
ist es, dass immer wieder
naive Stimmen laut werden,
die fordern, „alles zu tun“ – dass
die Atomenergie grundsätzlich
als „Teil des Mixes“ betrachtet
werden muss – als ob Kosten,
Entwicklungszeit, begrenzte
Ressourcen und verschiedene
vorzuziehende Alternativen nicht
allesamt entscheidende Faktoren
wären.
Trotz der Dringlichkeit des Klimanotstandes
wird erstaunlich
wenig über den Sachverhalt diskutiert,
dass der Fortschritt mit
Optionen, die eindeutig besser
funktionieren, durch die Atomkraft
behindert werden kann.
Die Medien lieben die Atomkraft
In der Tat haben die britischen
Medien die Angewohnheit, hartnäckig
Behauptungen der Atomindustrie
zu wiederholen, die
bestenfalls Wunschdenken sind.
Bei all dem Lärm um „kleine
modulare Reaktoren“ (SMR)
würde man zum Beispiel nicht
vermuten, dass die Bilanz neuer
Nuklearkonzepte durchweg von
Verzögerungen und steigenden
Preisen geprägt ist. Man könnte
leicht übersehen, dass die Bemühungen
um eine Kostenreduzierung
in der Atomwirtschaft schon
immer eher von Vergrößerungen
als von einer Größenverringerung
getragen wurden. Und die neuen
SMR-Programme erheben nicht
einmal den Anspruch, die dringend
erforderlichen Klimaziele zu
erreichen. Während die Debatte
weiterhin von naiv-optimistischen
Prognosen beherrscht wird, wird
sonderbarerweise vernachlässigt,
dass diese altbekannten Behauptungen
und Quellen in der Vergangenheit
immer wieder widerlegt
worden sind.
Ebenso bleibt die britische Mediendiskussion
unhinterfragt in
sentimentalen Anhängseln alter
Vorstellungen von „Grundlast“-
Atomkraft verhaftet – eine Vorstellung,
die inzwischen von der
Stromwirtschaft als überholt
anerkannt wird. Die unflexible
Grundlast-Produktion eines
typischen Atomkraftwerks ist
keineswegs ein automatischer
Vorteil, sondern kann in einem
modernen dynamischen Elektrizitätssystem
zunehmend Schwierigkeiten
bereiten. Es scheint oft
vergessen zu werden, dass häufige
ungeplante Abschaltungen
von Atomkraftwerken ihre eigenen
Risiken in Form von Unterbrechungen
mit sich bringen,
die durch die riesigen Blöcke der
Atomkraftwerke noch verstärkt
werden.
Dank intelligenter Stromnetze
und sinkender Speicherkosten ist
die Herausforderung, schwankende
erneuerbare Energiequellen zu
managen, weitaus geringer als der
wachsende Preisvorteil, den die
erneuerbaren Energien gegenüber
der Atomkraft genießen. Dennoch
wird die schwankende Leistung
der erneuerbaren Energien
im Vereinigten Königreich immer
wieder thematisiert, als ob dies
eine Art Trumpf wäre, als ob es
zwei Jahrzehnte technologischen
Fortschritts nie gegeben hätte.
Ein weiterer Punkt wird routinemäßig
übersehen, wenn in
den Medien immer wieder betont
wird, dass bei Atomkatastrophen
wie Tschernobyl und Fukushima
nur relativ wenige Menschen
direkt ums Leben kamen. Dabei
wird überraschenderweise die
Tatsache vernachlässigt, dass –