flip-Joker_2022-05
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10 KULTUR JOKER interview
Wherlock: Mein Stil ist eine
große Mischung aus verschiedensten
Einflüssen. Ähnlich wie
andere Künstler durch ihre blaue,
gelbe oder rote Periode gehen,
hat sich mein Choreografie-Stil
von einer anfänglich athletischen
und dynamischen Tanzsprache
hin zu mehr Stories und theatralischen
Elementen entwickelt.
Ich habe immer mehr Handlungsballette
choreografiert, dies
allerdings auf moderne Art. Nach
einiger Zeit habe ich, um ein gemischtes
Repertoire aufzubauen,
auch Gastchoreografen eingeladen,
denn es ist nie gut nur eine
One-Man-Show zu machen.
Dieses Konzept habe ich an allen
Theatern verfolgt.
Kultur Joker: Was waren Ihre
wichtigsten eigenen Produktionen
und Erfolge am Theater
Basel?
Wherlock: Ich habe viele Handlungsballette
choreografiert:
„La fille mal gardée“, „Snow
White“, „Eugen Onegin“, „Tod
in Venedig“, bin auch durch eine
Spitzenschuh-Phase gegangen…
Einer meiner größten Erfolge
war „Tewje“, ein Ballett mit
Klezmermusik und sehr bewegender
jüdischer Thematik. Die
Kombination von großem Sinfonieorchester
im Graben mit acht
Klezmermusikern auf der Bühne
war sehr mitreißend. Es war
immer ausverkauft! Außerdem
hatten wir gefeierte Gastspiele
mit „Tewje“ in Budapest und Tel
Aviv. Mein Stil ist immer noch
TB Forest Fires Lisa Horten-Skilbrei, Anthony Ramiandrisoa, Eva Blunno, Mikaela Kelly, Matias
Rocha Moura ©Ingo_Hoehn
sehr schnell und dynamisch und
es gibt kein schöneres Kompliment
für mich, als wenn ich höre:
“Das ist ein typisches Wherlock-
Stück.“
Nach all diesen Jahren ist es jetzt
einmal Zeit, an mich zu denken.
Denn das steht nicht im Vertrag
eines Ballettdirektors: Er ist außer
Choreograf auch Psychologe,
Soziologe, Vater, Mutter, Lover,
Freund und manchmal auch
Feind… meine Tür steht immer
für alle offen!
Kultur Joker: Welche Gastchoreografen
haben Sie nach Basel
eingeladen?
Wherlock: Viele! Gehen wir zunächst
die Israelis durch: Hofesh
Shechter, Rami Beér, Sharon
Eyal, Itzik Galili und Ohad
Naharin. Die Schweden: Johan
Inger… -
Kultur Joker: Mats Ek?
Wherlock: Seine „Giselle“ war
immer mein größter Wunsch,
aber meine Anfrage kam zu spät,
es hat leider nicht geklappt. – Die
wärmeren Länder: Mauro Bigonzetti
und gerade aktuell Marcos
Morau.
Kultur Joker: Sie haben sehr
viele Ballette von Jiří Kylián in
Basel präsentiert. Was schätzen
Sie so sehr am Stil von Jiří Kylián?
Wherlock: Wir haben das größte
Kylián-Repertoire außerhalb des
Nederlands Dans Theaters, insgesamt
acht Choreografien! Er
kam selber um die Stücke einzustudieren
und das war für uns etwas
ganz Besonderes, wir haben
immer gesagt: „God is coming.“
Ich schätze besonders an ihm seine
Musikalität und Ästhetik, und
er ist ein feiner Mensch.
Kultur Joker: Zuletzt haben Sie
hier ein Ballett namens „Empty
Thrones“ choreografiert, was hat
es damit auf sich?
Wherlock: Ich wollte einmal
108 Jahre englischer Geschichte
mit insgesamt fünf Königen
durch Tanz erzählen, ich bin ein
Shakespeare-Fan.
Kultur Joker: Hat die Thematik
des Verlassens des Thrones auch
etwas zu tun mit Ihrer heutigen
Situation, in der Sie auch Ihren
„Thron“, bzw. Ihre Leitungsposition
bald verlassen werden?
Wherlock: Absolutely.
Kultur Joker: Als nächste Produktion
werden Sie für Basel das
Stück „Heidi“ choreografieren.
Was interessiert Sie an diesem
Sujet?
Wherlock: Heidi ist so etwas
wie eine catalyst, sie bringt alles
zum Guten durch ihre Liebe
zum Leben. Ihre Geschichte ist
wie die „Heilige Bibel“ hier in
der Schweiz. Trotzdem werde
ich dieses Ballett modern inszenieren.
Es gibt zum Beispiel
elektronische Musik, die von
zwei Schweizer Musikern, Tino
Marthaler und Alain Pauli für das
Stück produziert wird.
Kultur Joker: Kann man die
Umsetzung dieses ur-schweizer
Themas auch als Gruß und als
Dankeschön an die Schweiz interpretieren?
Wherlock: Absolutely.
Kultur Joker: Was sind die Pläne
für Ihre letzte Saison, die Spielzeit
2022/23 am Theater Basel?
Wherlock: Es wird die größte
Saison meiner hiesigen Tätigkeit!
Wir werden insgesamt acht Ballettabende
haben, fünf Premieren
und drei große Wiederaufnahmen!
Es ist viel Zeitgenössisches
dabei, Experimentelles, Herausforderndes
und auch Handlungsballette.
Es wird ein sehr vielseitiges
Programm sein.
Kultur Joker: Wie werden Sie
sich vom Basler Publikum verabschieden?
Wherlock: Ruhig, ganz still.
Kultur Joker: Sie haben in Basel
rund 40 Ballette choreografiert,
über 80 Tanzabende zusammen
mit Gastchoreografen aus aller
Welt auf die Bühne gebracht. Sie
haben neben Berühmtheiten wie
dem Tennisstar Roger Federer einen
Stern auf dem Basler Walk of
Fame – bleiben da noch Wünsche
offen? Wie sehen Ihre Pläne für
die Zukunft aus?
Wherlock: Ich gehe ganz happy!
Ich habe Vieles erreicht, es
ist Zeit für jemanden Anderes in
der Leitung. Es ist gut so. – Den
Stern neben Roger Federer zu haben,
ist etwas ganz Spezielles für
mich. Diese Akzeptanz zu erfahren,
neben solch einem Weltstar
platziert zu sein, freut mich wirklich
ungemein. Meine weiteren
Pläne sind vor allem zwei größere
Projekte: mein Ballett „Snow
White“ für Tokio einzustudieren
und als zweites in den USA eine
„Tewje“ - Company zu gründen,
die mit meinem Ballett durch das
ganze Land touren wird. Außerdem
werde ich noch in diesem
Jahr Präsident des Theaters von
Belfort.
Kultur Joker: Wie sieht der Tanz
der Zukunft aus?
Wherlock: Der Tanz hat sich immer
in großen Phasen weiter entwickelt.
Etwas fällt weg, Neues
kommt hinzu, es ist eine ständige
Weiterentwicklung. Ich sage immer:
der Job des Ballettdirektors
ist ähnlich, wie der eines guten
Kochs: er nimmt für ein Menü
etwas Süßes, etwas Salziges, etwas
Frisches, etwas Fleischiges,
etwas Vegetarisches usw. - Vielseitigkeit
führt zum Erfolg, auch
im Tanz! Und es braucht immer
gute Tänzer:innen, die hatte und
habe ich. Basel hat eine Top
Company!
Kultur Joker: Viele Theater
werden heutzutage nur noch mit
Gastspielen bespielt, haben keine
eigene Company mehr. Was halten
Sie von dieser Entwicklung?
Wherlock: Ich finde es sehr
schade für die Entwicklung des
Tanzes, aber das liegt in den Händen
der Intendanz. Wofür bilden
wir professionelle Tänzer:innen
aus? Die müssen in einer Company
tanzen und auf die Bühne
kommen!
Kultur Joker: Als Brite, erwägen
Sie, in Ihre alte Heimat zurückzukehren
und was halten Sie vom
Brexit?
Wherlock: Brexit finde ich
wirklich sehr schade. Noch mehr
Grenzen zu machen ist nicht gut.
Das Land macht zwei Schritte
zurück. Ich liebe meine Heimat,
ich liebe London, aber ich bleibe
in der Schweiz. Es ist ein guter
Standort hier.
Kultur Joker: Was bedeutet
Glück für Sie?
Wherlock: Dass ich morgens
aufstehe und mit voller Kraft in
den Tag gehe, am Ende des Tages
ein schönes Glas Wein trinke
und mit meiner Familie zusammen
bin. – Was mich auch sehr
freut ist, dass inzwischen einige
meiner ehemaligen Tänzer:innen
Ballettdirektor:innen geworden
sind.
Kultur Joker: Das Basler Ballett
zählt zur Zeit 30 Tänzer:innen,
wird die Company in Zukunft in
gleicher Stärke bestehen bleiben?
Wherlock: Das war mein
Wunsch. Ich fände es sehr schön,
wenn etwas von dem bleibt, was
ich aufgebaut habe. – Und vielleicht
zum Schluss noch: It’s
good - to know - when to say
Good Bye.
Kultur Joker: Herr Wherlock,
dies ist eine beeindruckende Lebensbilanz!
Wir wünschen Ihnen
viel Erfolg für Ihre letzte Spielzeit
am Theater Basel und für Ihre
Zukunft. Vielen Dank für das Gespräch
und alles Gute!