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10 KULTUR JOKER interview

Wherlock: Mein Stil ist eine

große Mischung aus verschiedensten

Einflüssen. Ähnlich wie

andere Künstler durch ihre blaue,

gelbe oder rote Periode gehen,

hat sich mein Choreografie-Stil

von einer anfänglich athletischen

und dynamischen Tanzsprache

hin zu mehr Stories und theatralischen

Elementen entwickelt.

Ich habe immer mehr Handlungsballette

choreografiert, dies

allerdings auf moderne Art. Nach

einiger Zeit habe ich, um ein gemischtes

Repertoire aufzubauen,

auch Gastchoreografen eingeladen,

denn es ist nie gut nur eine

One-Man-Show zu machen.

Dieses Konzept habe ich an allen

Theatern verfolgt.

Kultur Joker: Was waren Ihre

wichtigsten eigenen Produktionen

und Erfolge am Theater

Basel?

Wherlock: Ich habe viele Handlungsballette

choreografiert:

„La fille mal gardée“, „Snow

White“, „Eugen Onegin“, „Tod

in Venedig“, bin auch durch eine

Spitzenschuh-Phase gegangen…

Einer meiner größten Erfolge

war „Tewje“, ein Ballett mit

Klezmermusik und sehr bewegender

jüdischer Thematik. Die

Kombination von großem Sinfonieorchester

im Graben mit acht

Klezmermusikern auf der Bühne

war sehr mitreißend. Es war

immer ausverkauft! Außerdem

hatten wir gefeierte Gastspiele

mit „Tewje“ in Budapest und Tel

Aviv. Mein Stil ist immer noch

TB Forest Fires Lisa Horten-Skilbrei, Anthony Ramiandrisoa, Eva Blunno, Mikaela Kelly, Matias

Rocha Moura ©Ingo_Hoehn

sehr schnell und dynamisch und

es gibt kein schöneres Kompliment

für mich, als wenn ich höre:

“Das ist ein typisches Wherlock-

Stück.“

Nach all diesen Jahren ist es jetzt

einmal Zeit, an mich zu denken.

Denn das steht nicht im Vertrag

eines Ballettdirektors: Er ist außer

Choreograf auch Psychologe,

Soziologe, Vater, Mutter, Lover,

Freund und manchmal auch

Feind… meine Tür steht immer

für alle offen!

Kultur Joker: Welche Gastchoreografen

haben Sie nach Basel

eingeladen?

Wherlock: Viele! Gehen wir zunächst

die Israelis durch: Hofesh

Shechter, Rami Beér, Sharon

Eyal, Itzik Galili und Ohad

Naharin. Die Schweden: Johan

Inger… -

Kultur Joker: Mats Ek?

Wherlock: Seine „Giselle“ war

immer mein größter Wunsch,

aber meine Anfrage kam zu spät,

es hat leider nicht geklappt. – Die

wärmeren Länder: Mauro Bigonzetti

und gerade aktuell Marcos

Morau.

Kultur Joker: Sie haben sehr

viele Ballette von Jiří Kylián in

Basel präsentiert. Was schätzen

Sie so sehr am Stil von Jiří Kylián?

Wherlock: Wir haben das größte

Kylián-Repertoire außerhalb des

Nederlands Dans Theaters, insgesamt

acht Choreografien! Er

kam selber um die Stücke einzustudieren

und das war für uns etwas

ganz Besonderes, wir haben

immer gesagt: „God is coming.“

Ich schätze besonders an ihm seine

Musikalität und Ästhetik, und

er ist ein feiner Mensch.

Kultur Joker: Zuletzt haben Sie

hier ein Ballett namens „Empty

Thrones“ choreografiert, was hat

es damit auf sich?

Wherlock: Ich wollte einmal

108 Jahre englischer Geschichte

mit insgesamt fünf Königen

durch Tanz erzählen, ich bin ein

Shakespeare-Fan.

Kultur Joker: Hat die Thematik

des Verlassens des Thrones auch

etwas zu tun mit Ihrer heutigen

Situation, in der Sie auch Ihren

„Thron“, bzw. Ihre Leitungsposition

bald verlassen werden?

Wherlock: Absolutely.

Kultur Joker: Als nächste Produktion

werden Sie für Basel das

Stück „Heidi“ choreografieren.

Was interessiert Sie an diesem

Sujet?

Wherlock: Heidi ist so etwas

wie eine catalyst, sie bringt alles

zum Guten durch ihre Liebe

zum Leben. Ihre Geschichte ist

wie die „Heilige Bibel“ hier in

der Schweiz. Trotzdem werde

ich dieses Ballett modern inszenieren.

Es gibt zum Beispiel

elektronische Musik, die von

zwei Schweizer Musikern, Tino

Marthaler und Alain Pauli für das

Stück produziert wird.

Kultur Joker: Kann man die

Umsetzung dieses ur-schweizer

Themas auch als Gruß und als

Dankeschön an die Schweiz interpretieren?

Wherlock: Absolutely.

Kultur Joker: Was sind die Pläne

für Ihre letzte Saison, die Spielzeit

2022/23 am Theater Basel?

Wherlock: Es wird die größte

Saison meiner hiesigen Tätigkeit!

Wir werden insgesamt acht Ballettabende

haben, fünf Premieren

und drei große Wiederaufnahmen!

Es ist viel Zeitgenössisches

dabei, Experimentelles, Herausforderndes

und auch Handlungsballette.

Es wird ein sehr vielseitiges

Programm sein.

Kultur Joker: Wie werden Sie

sich vom Basler Publikum verabschieden?

Wherlock: Ruhig, ganz still.

Kultur Joker: Sie haben in Basel

rund 40 Ballette choreografiert,

über 80 Tanzabende zusammen

mit Gastchoreografen aus aller

Welt auf die Bühne gebracht. Sie

haben neben Berühmtheiten wie

dem Tennisstar Roger Federer einen

Stern auf dem Basler Walk of

Fame – bleiben da noch Wünsche

offen? Wie sehen Ihre Pläne für

die Zukunft aus?

Wherlock: Ich gehe ganz happy!

Ich habe Vieles erreicht, es

ist Zeit für jemanden Anderes in

der Leitung. Es ist gut so. – Den

Stern neben Roger Federer zu haben,

ist etwas ganz Spezielles für

mich. Diese Akzeptanz zu erfahren,

neben solch einem Weltstar

platziert zu sein, freut mich wirklich

ungemein. Meine weiteren

Pläne sind vor allem zwei größere

Projekte: mein Ballett „Snow

White“ für Tokio einzustudieren

und als zweites in den USA eine

„Tewje“ - Company zu gründen,

die mit meinem Ballett durch das

ganze Land touren wird. Außerdem

werde ich noch in diesem

Jahr Präsident des Theaters von

Belfort.

Kultur Joker: Wie sieht der Tanz

der Zukunft aus?

Wherlock: Der Tanz hat sich immer

in großen Phasen weiter entwickelt.

Etwas fällt weg, Neues

kommt hinzu, es ist eine ständige

Weiterentwicklung. Ich sage immer:

der Job des Ballettdirektors

ist ähnlich, wie der eines guten

Kochs: er nimmt für ein Menü

etwas Süßes, etwas Salziges, etwas

Frisches, etwas Fleischiges,

etwas Vegetarisches usw. - Vielseitigkeit

führt zum Erfolg, auch

im Tanz! Und es braucht immer

gute Tänzer:innen, die hatte und

habe ich. Basel hat eine Top

Company!

Kultur Joker: Viele Theater

werden heutzutage nur noch mit

Gastspielen bespielt, haben keine

eigene Company mehr. Was halten

Sie von dieser Entwicklung?

Wherlock: Ich finde es sehr

schade für die Entwicklung des

Tanzes, aber das liegt in den Händen

der Intendanz. Wofür bilden

wir professionelle Tänzer:innen

aus? Die müssen in einer Company

tanzen und auf die Bühne

kommen!

Kultur Joker: Als Brite, erwägen

Sie, in Ihre alte Heimat zurückzukehren

und was halten Sie vom

Brexit?

Wherlock: Brexit finde ich

wirklich sehr schade. Noch mehr

Grenzen zu machen ist nicht gut.

Das Land macht zwei Schritte

zurück. Ich liebe meine Heimat,

ich liebe London, aber ich bleibe

in der Schweiz. Es ist ein guter

Standort hier.

Kultur Joker: Was bedeutet

Glück für Sie?

Wherlock: Dass ich morgens

aufstehe und mit voller Kraft in

den Tag gehe, am Ende des Tages

ein schönes Glas Wein trinke

und mit meiner Familie zusammen

bin. – Was mich auch sehr

freut ist, dass inzwischen einige

meiner ehemaligen Tänzer:innen

Ballettdirektor:innen geworden

sind.

Kultur Joker: Das Basler Ballett

zählt zur Zeit 30 Tänzer:innen,

wird die Company in Zukunft in

gleicher Stärke bestehen bleiben?

Wherlock: Das war mein

Wunsch. Ich fände es sehr schön,

wenn etwas von dem bleibt, was

ich aufgebaut habe. – Und vielleicht

zum Schluss noch: It’s

good - to know - when to say

Good Bye.

Kultur Joker: Herr Wherlock,

dies ist eine beeindruckende Lebensbilanz!

Wir wünschen Ihnen

viel Erfolg für Ihre letzte Spielzeit

am Theater Basel und für Ihre

Zukunft. Vielen Dank für das Gespräch

und alles Gute!

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