Contura DE Frühling/Sommer 2022
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Konfliktpotenzial zur Genüge<br />
Nun ist es ja nicht so, dass Sitzungen mit Pirmina Caminada<br />
in Wortschlachten ausarten oder gar in verbales<br />
Gemetzel. Aber der Beruf als Wildhüterin birgt<br />
natürlich Konfliktpotenzial: «Wenn ich ahne, dass<br />
eine Sitzung schwierig werden könnte, räuchere ich<br />
schon mal ein Sitzungszimmer präventiv aus.» Nicht<br />
immer nimmt sie Kräuter. Manchmal tun es auch gesunder<br />
Menschenverstand und Überzeugungskraft.<br />
Dann etwa, wenn Regeln oder Vorschriften durchgesetzt<br />
werden müssen. «Es sind oft kleine, aber essenzielle<br />
Dinge», sagt die Wildhüterin: «Bauern müssen<br />
zum Beispiel ihre Siloballen so schützen, dass das<br />
Wild nicht an das Haustierfutter herankommt. Sonst<br />
können sich Krankheiten – etwa die Tuberkulose –<br />
auf das Vieh übertragen.»<br />
Mit den Jägern, die sie überwachen muss, kommt die<br />
Wildhüterin gut zurecht. Konflikte ergeben sich eher,<br />
wenn sie auf die immer häufiger werdende Spezies<br />
Mensch trifft, die dem coronabedingten Dichtestress<br />
der Städte entkommen will. Diese Menschen<br />
tauchen dann auf Tourenskis und Schneeschuhen in<br />
den Bergtälern auf und verlaufen sich bewusst oder<br />
unbewusst in Wildschutzgebiete. «Um zu flüchten,<br />
verbraucht das aufgeschreckte Wild dann oft die letzten<br />
Kraftreserven. Energien, die über Leben und Tod<br />
entscheiden können.» Aber die Wildhüterin ist nicht<br />
einfach die böse Frau, die in solchen Fällen eine Verzeigung<br />
macht. «Es geht auch darum, die Menschen<br />
aufzuklären. Etwa darüber, dass wir im Tal ab und<br />
zu blinde Gämsen haben und dass diese grossräumig<br />
umgangen werden müssen, um sie nicht unnötig zu<br />
stressen.»<br />
Der Wolf ist da<br />
Die Wildhüterin ist auch gefragt, wenn der Wolf Rehe<br />
reisst und die Überreste seiner Mahlzeit mitten im<br />
Skigebiet liegen lässt. «Dann werde ich gerufen und<br />
bevor die ersten Skifahrerinnen und Skifahrer kommen,<br />
räume ich alles weg und reinige den Schnee<br />
vom Blut so gut es eben geht.» Das Thema Wolf ist<br />
in Graubünden ein heikles. Aber Caminada hat ein<br />
pragmatisches Verhältnis zu Meister Isegrim: «Ich bin<br />
nicht für oder gegen den Wolf», sagt sie. Das Tier, das<br />
langsam, aber sicher seine alte Heimat zurückerobert,<br />
sei einfach Teil ihrer Arbeit. Etwas vom Wichtigsten<br />
sei, dem Wolf beizubringen, dass Schafe, Kälber oder<br />
Geissen nicht nur nicht in sein Beuteschema passen.<br />
Er solle auch realisieren, dass von diesen Haustieren<br />
eine Gefahr für ihn ausgehe. «Wenn ich mit Gummischrot<br />
und allenfalls mit scharfer Munition einen sich<br />
auffällig verhaltenden Wolf vergräme, darf er nicht<br />
merken, dass ich es war. Er muss das mit dem Tier in<br />
Verbindung bringen, das er gerissen hat oder eben<br />
reissen wollte.» Sobald ein Rudel, das ungefähr 250<br />
Quadratkilometer beansprucht und verteidigt, diese<br />
Erkenntnis internalisiert hat, ist es viel weniger übergriffig<br />
als ein einsamer durchziehender Wolf.<br />
Das Herz lügt nicht<br />
Während die Wildhüterin von ihrem Tal redet, von<br />
Kraftorten, von Wolf und Hirsch, Hase und Fuchs erzählt,<br />
wird klar, wie sehr sie in der Natur daheim ist.<br />
«In diese Liebe zur Schöpfung bin ich hineingewachsen»,<br />
sagt sie. «Schon als Kind war klar, dass wir beim<br />
Heuen auf Bodenbrüter, neugeborene Hasen oder<br />
Kitze aufpassen und sie in Sicherheit bringen. Dieser<br />
sorgsame Umgang mit der Natur, aber auch mit Menschen<br />
ist mir unglaublich wichtig.»<br />
Noch ist nicht alles gesagt, gefühlt, gespürt. Noch<br />
lange nicht. Aber der Tag macht sich unwiederbringlich<br />
davon. Erste Schatten schleichen sich ins Tal des<br />
Lichts und Leyla, Caminadas Labradorhündin, wird<br />
unruhig. Es wird Zeit. Zeit zu gehen. Beim Abschied<br />
sagt die Hüterin des Wildes dann noch einen Satz, der<br />
wie ein Schlüssel zum Verständnis ihres Wesens ist:<br />
«Ich höre bei wichtigen Entscheidungen immer auf<br />
mein Herz. Das hat mich noch nie betrogen.» (ba)<br />
Ich höre bei wichtigen<br />
Entscheidungen immer auf<br />
mein Herz. Das hat mich<br />
noch nie betrogen.<br />
Natur 45