21.04.2022 Aufrufe

Contura DE Frühling/Sommer 2022

  • Keine Tags gefunden...

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Konfliktpotenzial zur Genüge<br />

Nun ist es ja nicht so, dass Sitzungen mit Pirmina Caminada<br />

in Wortschlachten ausarten oder gar in verbales<br />

Gemetzel. Aber der Beruf als Wildhüterin birgt<br />

natürlich Konfliktpotenzial: «Wenn ich ahne, dass<br />

eine Sitzung schwierig werden könnte, räuchere ich<br />

schon mal ein Sitzungszimmer präventiv aus.» Nicht<br />

immer nimmt sie Kräuter. Manchmal tun es auch gesunder<br />

Menschenverstand und Überzeugungskraft.<br />

Dann etwa, wenn Regeln oder Vorschriften durchgesetzt<br />

werden müssen. «Es sind oft kleine, aber essenzielle<br />

Dinge», sagt die Wildhüterin: «Bauern müssen<br />

zum Beispiel ihre Siloballen so schützen, dass das<br />

Wild nicht an das Haustierfutter herankommt. Sonst<br />

können sich Krankheiten – etwa die Tuberkulose –<br />

auf das Vieh übertragen.»<br />

Mit den Jägern, die sie überwachen muss, kommt die<br />

Wildhüterin gut zurecht. Konflikte ergeben sich eher,<br />

wenn sie auf die immer häufiger werdende Spezies<br />

Mensch trifft, die dem coronabedingten Dichtestress<br />

der Städte entkommen will. Diese Menschen<br />

tauchen dann auf Tourenskis und Schneeschuhen in<br />

den Bergtälern auf und verlaufen sich bewusst oder<br />

unbewusst in Wildschutzgebiete. «Um zu flüchten,<br />

verbraucht das aufgeschreckte Wild dann oft die letzten<br />

Kraftreserven. Energien, die über Leben und Tod<br />

entscheiden können.» Aber die Wildhüterin ist nicht<br />

einfach die böse Frau, die in solchen Fällen eine Verzeigung<br />

macht. «Es geht auch darum, die Menschen<br />

aufzuklären. Etwa darüber, dass wir im Tal ab und<br />

zu blinde Gämsen haben und dass diese grossräumig<br />

umgangen werden müssen, um sie nicht unnötig zu<br />

stressen.»<br />

Der Wolf ist da<br />

Die Wildhüterin ist auch gefragt, wenn der Wolf Rehe<br />

reisst und die Überreste seiner Mahlzeit mitten im<br />

Skigebiet liegen lässt. «Dann werde ich gerufen und<br />

bevor die ersten Skifahrerinnen und Skifahrer kommen,<br />

räume ich alles weg und reinige den Schnee<br />

vom Blut so gut es eben geht.» Das Thema Wolf ist<br />

in Graubünden ein heikles. Aber Caminada hat ein<br />

pragmatisches Verhältnis zu Meister Isegrim: «Ich bin<br />

nicht für oder gegen den Wolf», sagt sie. Das Tier, das<br />

langsam, aber sicher seine alte Heimat zurückerobert,<br />

sei einfach Teil ihrer Arbeit. Etwas vom Wichtigsten<br />

sei, dem Wolf beizubringen, dass Schafe, Kälber oder<br />

Geissen nicht nur nicht in sein Beuteschema passen.<br />

Er solle auch realisieren, dass von diesen Haustieren<br />

eine Gefahr für ihn ausgehe. «Wenn ich mit Gummischrot<br />

und allenfalls mit scharfer Munition einen sich<br />

auffällig verhaltenden Wolf vergräme, darf er nicht<br />

merken, dass ich es war. Er muss das mit dem Tier in<br />

Verbindung bringen, das er gerissen hat oder eben<br />

reissen wollte.» Sobald ein Rudel, das ungefähr 250<br />

Quadratkilometer beansprucht und verteidigt, diese<br />

Erkenntnis internalisiert hat, ist es viel weniger übergriffig<br />

als ein einsamer durchziehender Wolf.<br />

Das Herz lügt nicht<br />

Während die Wildhüterin von ihrem Tal redet, von<br />

Kraftorten, von Wolf und Hirsch, Hase und Fuchs erzählt,<br />

wird klar, wie sehr sie in der Natur daheim ist.<br />

«In diese Liebe zur Schöpfung bin ich hineingewachsen»,<br />

sagt sie. «Schon als Kind war klar, dass wir beim<br />

Heuen auf Bodenbrüter, neugeborene Hasen oder<br />

Kitze aufpassen und sie in Sicherheit bringen. Dieser<br />

sorgsame Umgang mit der Natur, aber auch mit Menschen<br />

ist mir unglaublich wichtig.»<br />

Noch ist nicht alles gesagt, gefühlt, gespürt. Noch<br />

lange nicht. Aber der Tag macht sich unwiederbringlich<br />

davon. Erste Schatten schleichen sich ins Tal des<br />

Lichts und Leyla, Caminadas Labradorhündin, wird<br />

unruhig. Es wird Zeit. Zeit zu gehen. Beim Abschied<br />

sagt die Hüterin des Wildes dann noch einen Satz, der<br />

wie ein Schlüssel zum Verständnis ihres Wesens ist:<br />

«Ich höre bei wichtigen Entscheidungen immer auf<br />

mein Herz. Das hat mich noch nie betrogen.» (ba)<br />

Ich höre bei wichtigen<br />

Entscheidungen immer auf<br />

mein Herz. Das hat mich<br />

noch nie betrogen.<br />

Natur 45

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!