Contura DE Frühling/Sommer 2022

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Es ist Zeit Aber heute wird niemand getraut, niemand unter die Erde gebracht. Es findet auch kein Gottesdienst statt. Heute ist einfach nur Samstag und ein Mann, der hier daheim ist und seinen Stammbaum bis ins Spätmittelalter zurückverfolgen kann, ist Rico Raguth Tscharner. Der Landmaschinenmechaniker ist ein ruhiger, kräftiger und geerdeter Mann, mit dem man sofort per Du ist. Es geht gegen elf Uhr und Rico sagt: «Komm, es wird Zeit.» Dann steigen wir die ausgetretenen 55 Stufen hinauf in den Glockenturm und setzen uns wortlos unter die beiden Glocken. Rico erzählt noch von seinem Vater, in dessen Fussstapfen er als Landmaschinenmechaniker und eben auch als Glöckner getreten ist. Dann, um fünf vor elf, zieht der kräftige Mann am Seil und beginnt, die grössere der beiden Glocken zu läuten. Bei den ersten Glockentönen zittern das Gemäuer und der Glockenstuhl nur leicht, doch dann vibriert der ganze Turm. Wie gesagt – nix für Angsthasen! Doch ein Blick in die Augen von Rico sagt: «Alles gut! Keine Angst, der Turm bricht nicht zusammen.» Der Einheimische hält unterdessen den Rhythmus. Just um elf Uhr zieht er mit der einen Hand den Glockenstrang, in der anderen hält er den sogenannten Haller, eine Art Hammer, und schlägt auf der zweiten Glocke die Zeit. «Manchmal machen wir das auch zu zweit», wird er nachher sagen. «Der eine läutet, der andere schlägt.» Nochmals fünf Minuten Geläut und es ist vorbei. Die Glocken, der Turm und die wummernden Herzen des Journalisten und des Fotografen kommen zur Ruhe. Erst jetzt zeigt sich auch die wunderbare Aussicht über das Domleschg, den Heinzenberg und den Piz Beverin. Allein schon dieser Ausblick lohnt den Ausflug nach Scheid und den Aufstieg auf den Turm. Dann erzählt der Glöckner die Geschichte der Kirche, des Glockenläutens und des Kirchturms. Diese Geschichte ist eng mit seiner eigenen verbunden. Innehalten für einen Moment «Die heutige Kirche wird 1447 erstmals erwähnt», sagt Rico. «Als die Reformation – eigentlich sehr spät um 1600 – auch unser Dorf erreichte, wurden die damaligen Kirchenschätze mir nichts, dir nichts über eine Felswand hinuntergeworfen», fügt er an. «Massgeblich an der Reformation beteiligt soll ein gewisser Pfarrer Raguth Tscharner gewesen sein», erwähnt er und fügt mit einem Schulterzucken an: «Er war wohl ein Vorfahre von mir.» Der Turm mit dem sogenannten Zeltdach und dem einstöckigen Glockengestühl überragt die Kirche um das Doppelte. Die grosse dunkle Glocke wurde in Felsberg gegossen und 1875 mit einem Zwölfergespann von Zugkühen nach Scheid hinauftransportiert. Die kleinere und hellere Glocke mit der Inschrift «Aus dem Feuer floss ich, Matheus Albert in Chur goss mich» stammt aus dem Jahr 1700. «Geläutet wurde wohl immer, vor allem auch vor und nach den Gottesdiensten», meint Rico. Speziell aber war und ist das Elf-Uhr-Läuten am Samstag, mit dem der kommende Sonntag begrüsst wird: «Noch heute halten die Scheider bei diesem Geläut für einen Moment bei ihrem Tun inne, auch ich stelle in der Werkstatt die Maschinen ab. Das ist einfach so.» Die Jungen wehrten sich Aber fast wäre es anders gekommen. Die modernen Zeiten erreichten in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts auch Scheid. Und modern war es unter anderem auch, das Kirchengeläut zu elektrifizieren. Da wollten die Gemeindebehörden von Sched, wie Scheid auf Romanisch heisst, nicht nachstehen. «Mein Vater war damals noch jung», fährt Rico weiter. «Aber auch ihm schien das nicht recht zu sein. Das wäre nur ein seelen- und taktloses Gebimmel geworden, hat er später zu mir gesagt.» Es war damals vor allem die Gemeindejugend, die sich gegen die Moderne wehrte. Aber erst, als sich einige Scheider fest verpflichteten, das Läuten am Samstag zu übernehmen, lenkten die Behörden ein. Den Sonntag einläuten Läuten wollen ist das eine. Läuten können das andere: «Du musst ein gewisses Musikgehör und ein Gefühl für den Rhythmus mitbringen», sagt Rico, der auch in einer Ländlerkapelle mitspielt. Er sass schon als kleiner Bub mit seinem Vater im Glockenstuhl und wohl so mit sieben Jahren durfte er das erste Mal mit 38 www.rhb.ch/contura
dem Haller die Zeit schlagen. «So wie ich haben auch meine Schwestern und überhaupt die meisten der heutigen Glöckner das Läuten und Zeitschlagen bei meinem Vater gelernt», sagt der junge Mann. Früher war jede Familie eine gewisse Zeit lang dafür verantwortlich, doch nachdem das mit der behördlichen Elektrifizierungswut sozusagen in einem Kurzschluss endete, sind es heute noch etwa sieben, acht Glöckner, die einander ablösen und dafür sorgen, das Scheiderinnen und Scheider allsamstäglich mit dem Einläuten des Sonntags erfreut werden. Wenn es dann mal nicht so rhythmisch tönt vom Kirchturm her, wenn’s um elf Uhr zehn- oder zwölfmal schlägt, dann wissen die Bewohnerinnen und Bewohner des Bergdorfs: Ein neuer Glöckner geht in die Lehre. Und sie wissen: Die Tradition wird weitergeführt. (ba) Nächster Halt – Tonaufnahme Hören Sie sich das Glockenspiel von Scheid an. → www.rhb.ch/podcast Wider die Elektrifizierung: In Scheid wird die Kirchenglocke noch von Hand geläutet. Tradition 39
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