Der Engadiner Glaziologe Felix Keller will nicht länger den Gletschern beim Sterben zusehen. Nicht nur weil die Schweiz ihre Seele verliert. Auch weil 220 Millionen Himalaja-Bewohnerinnern und -Bewohner unmittelbar vom nicht mehr ewigen Eis abhängen. Der Himmel hat Mitleid. Anders kann man sich den Hauch von <strong>Sommer</strong>schnee nicht erklären, der die Gegend um den Morteratschgletscher verzuckert. Doch das Mitleid reicht nicht, um die Misere zu verstecken oder gar zu beheben: «In den letzten 170 Jahren hat der Gletscher etwa einen Viertel seiner Masse verloren, die Zunge hat sich um drei Kilometer zurückgezogen», sagt der Engadiner Glaziologe Felix Keller. Wie um der Misere zu trotzen, klettert er auf den Felsblock, der die Gletscherausdehnung von 1878 zeigt. Und doch: Keller mag nicht in das allgemeine Lamento über das Gletschersterben einstimmen. «Nur jammern bringt nichts. Wenn die Gletscher einmal verschwunden sind, werden unsere Kinder nicht danach fragen, wie wir uns damals gefühlt haben. Nein – sie werden fragen, warum wir nichts getan haben.» Lebensqualität neu definieren Dass die Gletscher kommen und gehen, dass das Klima sich immer verändert hat, ist eine Binsenwahrheit. «Das hat unter anderem mit der Sonnenaktivität und der Stellung der Erdachse zu tun», sagt der Wissenschaftler auf dem Weg zum Gletscher. «Fatal ist aber, dass wir uns heute nach allen Erkenntnissen eigentlich in einer kühleren Phase befinden sollten. Doch das Gegenteil ist der Fall», fügt er bei, während er die Steigeisen anzieht. Die Gründe der selbstverschuldeten Klimaerwärmung sind bekannt: Massloser, rücksichtsloser Verbrauch von Ressourcen. Was ist zu tun? Keller predigt nicht einfach Verzicht, sondern ein lustvolles Umdenken. «Wir müssen das Thema Lebensqualität neu definieren», sagt er und auf einmal wird seine Stimme leidenschaftlich. «Die Lebensqualität, wie wir sie heute verstehen, ist fast ausnahmslos mit Konsum und folglich dem Verbrauch von Energie und Ressourcen verbunden», sagt der Engadiner. Dann hält er auf dem Gletscher inne, packt seine Gei- ge aus dem mitgebrachten Geigenkasten – und spielt eine Eigenkomposition. Das ist so unbeschreiblich schön, so kraftvoll, so friedlich. Die Welt scheint den Atem anzuhalten. Nach ein paar Minuten versorgt er Geige und Bogen, lächelt fast scheu und sagt: «Siehst du, so meine ich das. Es gibt ein Leben jenseits der Konsumfront.» Steinwüste statt Eismasse Wir steigen weiter auf über den Morteratsch- zum Persgletscher. Noch vor wenigen Jahren war das eine zusammenhängende Eismasse. Jetzt liegt hier eine Steinwüste. Was passiert eigentlich, wenn in wenigen Jahrzehnten das Eis ganz verschwindet? Wieder ist Kellers erste Antwort völlig unerwartet: «Wir verlieren unsere Nationalseele», sagt er. Die Gletscher seien nicht nur Teil der Berge, sondern Teil unseres Selbstverständnisses als Schweizerinnen und Schweizer. «Das Gletschersterben hat aber auch harte wirtschaftliche Folgen», so der Einheimische. Keller zählt auf: Schmelzwassernutzung zur Energieerzeugung und für Bewässerungszwecke. Permafrost, der buchstäblich die Berge zusammenhält. Aber auch touristisch sind die Gletscher durch nichts zu ersetzen: «Ein Touristiker in Japan hat mir klargemacht, dass die Menschen aus Asien erstens, zweitens und drittens wegen der Gletscher in die Schweiz kommen. Alles andere ist zweitrangig.» Felix Keller Engadiner Glaziologe 18 www.rhb.ch/contura
Beeindruckend, kraftvoll, ewig? Felix Keller will mit dem Projekt «MortAlive» die Gletscher – und irgendwie auch die Welt – retten. Bernina 19