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Contura DE Frühling/Sommer 2022

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Der Engadiner Glaziologe Felix Keller will nicht länger<br />

den Gletschern beim Sterben zusehen. Nicht nur weil<br />

die Schweiz ihre Seele verliert. Auch weil 220 Millionen<br />

Himalaja-Bewohnerinnern und -Bewohner unmittelbar<br />

vom nicht mehr ewigen Eis abhängen.<br />

Der Himmel hat Mitleid. Anders kann man sich den<br />

Hauch von <strong>Sommer</strong>schnee nicht erklären, der die Gegend<br />

um den Morteratschgletscher verzuckert. Doch<br />

das Mitleid reicht nicht, um die Misere zu verstecken<br />

oder gar zu beheben: «In den letzten 170 Jahren hat<br />

der Gletscher etwa einen Viertel seiner Masse verloren,<br />

die Zunge hat sich um drei Kilometer zurückgezogen»,<br />

sagt der Engadiner Glaziologe Felix Keller.<br />

Wie um der Misere zu trotzen, klettert er auf den Felsblock,<br />

der die Gletscherausdehnung von 1878 zeigt.<br />

Und doch: Keller mag nicht in das allgemeine Lamento<br />

über das Gletschersterben einstimmen. «Nur jammern<br />

bringt nichts. Wenn die Gletscher einmal verschwunden<br />

sind, werden unsere Kinder nicht danach<br />

fragen, wie wir uns damals gefühlt haben. Nein – sie<br />

werden fragen, warum wir nichts getan haben.»<br />

Lebensqualität neu definieren<br />

Dass die Gletscher kommen und gehen, dass das Klima<br />

sich immer verändert hat, ist eine Binsenwahrheit.<br />

«Das hat unter anderem mit der Sonnenaktivität<br />

und der Stellung der Erdachse zu tun», sagt der<br />

Wissenschaftler auf dem Weg zum Gletscher. «Fatal<br />

ist aber, dass wir uns heute nach allen Erkenntnissen<br />

eigentlich in einer kühleren Phase befinden sollten.<br />

Doch das Gegenteil ist der Fall», fügt er bei, während<br />

er die Steigeisen anzieht. Die Gründe der selbstverschuldeten<br />

Klimaerwärmung sind bekannt: Massloser,<br />

rücksichtsloser Verbrauch von Ressourcen. Was ist<br />

zu tun? Keller predigt nicht einfach Verzicht, sondern<br />

ein lustvolles Umdenken. «Wir müssen das Thema Lebensqualität<br />

neu definieren», sagt er und auf einmal<br />

wird seine Stimme leidenschaftlich. «Die Lebensqualität,<br />

wie wir sie heute verstehen, ist fast ausnahmslos<br />

mit Konsum und folglich dem Verbrauch von Energie<br />

und Ressourcen verbunden», sagt der Engadiner.<br />

Dann hält er auf dem Gletscher inne, packt seine Gei-<br />

ge aus dem mitgebrachten Geigenkasten – und spielt<br />

eine Eigenkomposition. Das ist so unbeschreiblich<br />

schön, so kraftvoll, so friedlich. Die Welt scheint den<br />

Atem anzuhalten. Nach ein paar Minuten versorgt er<br />

Geige und Bogen, lächelt fast scheu und sagt: «Siehst<br />

du, so meine ich das. Es gibt ein Leben jenseits der<br />

Konsumfront.»<br />

Steinwüste statt Eismasse<br />

Wir steigen weiter auf über den Morteratsch- zum<br />

Persgletscher. Noch vor wenigen Jahren war das eine<br />

zusammenhängende Eismasse. Jetzt liegt hier eine<br />

Steinwüste. Was passiert eigentlich, wenn in wenigen<br />

Jahrzehnten das Eis ganz verschwindet? Wieder<br />

ist Kellers erste Antwort völlig unerwartet: «Wir verlieren<br />

unsere Nationalseele», sagt er. Die Gletscher<br />

seien nicht nur Teil der Berge, sondern Teil unseres<br />

Selbstverständnisses als Schweizerinnen und Schweizer.<br />

«Das Gletschersterben hat aber auch harte wirtschaftliche<br />

Folgen», so der Einheimische. Keller zählt<br />

auf: Schmelzwassernutzung zur Energieerzeugung<br />

und für Bewässerungszwecke. Permafrost, der buchstäblich<br />

die Berge zusammenhält. Aber auch touristisch<br />

sind die Gletscher durch nichts zu ersetzen: «Ein<br />

Touristiker in Japan hat mir klargemacht, dass die<br />

Menschen aus Asien erstens, zweitens und drittens<br />

wegen der Gletscher in die Schweiz kommen. Alles<br />

andere ist zweitrangig.»<br />

Felix Keller<br />

Engadiner Glaziologe<br />

18 www.rhb.ch/contura

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