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277.TIROL - April 2022

Ausgabe 6, April 2022

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GemNova.Menschen GemNova.Menschen 97<br />

я зараз тут *<br />

BILD: Oksana Duda vor<br />

dem Hauptbahnhof in<br />

Innsbruck. Im Alter von 22<br />

Jahren kam sie nach Tirol,<br />

mittlerweile ist sie hier<br />

verheiratet und fühlt sich<br />

zu Hause. (© GemNova)<br />

„Guten Morgen, ich bin jetzt da.“ Vor einiger Zeit schon haben wir dieses Treffen vereinbart, jetzt steht<br />

Oksana pünktlich um neun Uhr morgens vor der Türe, wartet auf mich. Was für ein offenes, freundliches,<br />

sympathisches Gesicht. Lachende Augen. Oksana Duda ist 26 Jahre jung, stammt aus der Ukraine und ist<br />

bereit, mir ihre Geschichte zu erzählen.<br />

VON REINHOLD OBLAK<br />

Lemberg. Kennen Sie Lemberg? Ja, die<br />

seinerzeitige Hauptstadt Galiziens, die<br />

viertgrößte Stadt der Habsburgermonarchie,<br />

weniger als 800 Kilometer östlich von<br />

Wien gelegen. Wo an den Schulen Deutsch<br />

unterrichtet und gesprochen wurde, wo<br />

viele „österreichische“ Beamtinnen und<br />

Beamte ihren Dienst versahen. Jene Stadt<br />

also, die über eine der größten jüdischen<br />

Gemeinden in der Monarchie verfügte.<br />

Ende des 19. Jahrhunderts, um nur ein<br />

Beispiel zu nennen, gab es in Lemberg<br />

14 Synagogen und 80 Bethäuser. Kurz vor<br />

dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges<br />

lebten dort rund 110.000 Jüdinnen und<br />

Juden. Dann kam die Shoah, der Holocaust<br />

. . .<br />

„Lemberg war für mich immer die schönste<br />

Stadt der Welt, die Familie meines Opas<br />

kommt von dort. Mein Opa hat in der Schule<br />

noch Deutsch gelernt. Auch ich selbst<br />

war immer wieder dort, das letzte Mal erst<br />

im vergangenen Sommer.“ Oksana‘s Augen<br />

strahlen, wenn sie von Lemberg erzählt.<br />

Heute heißt Lemberg freilich Lwiw, ist die<br />

siebtgrößte Stadt der Ukraine und rund 150<br />

Kilometer von Luzk entfernt, jener Stadt im<br />

Westen der Ukraine, in der Oksana geboren<br />

wurde und aufgewachsen ist. „Hier in<br />

Tirol kennt natürlich niemand Luzk, obwohl<br />

Luzk fast doppelt so viele Einwohner wie<br />

Innsbruck hat.“ Gut, die wenigsten wissen<br />

wohl auch, dass die Ukraine nach Russland<br />

der flächenmäßig größte Staat Europas ist.<br />

* ist kyrillisch und bedeutet<br />

vom Ukrainischen<br />

ins Deutsche übersetzt "Ich<br />

bin jetzt da." Mit diesen<br />

Worten begrüßte mich Oksana<br />

um neun Uhr morgens<br />

lächelnd in Innsbruck.<br />

Ins Zentrum der Ukraine<br />

Aufgewachsen ist Oksana in einer Akademikerfamilie,<br />

der Vater hat Geschichte, die<br />

Mutter Steuerrecht studiert. Bildung war<br />

in der Familie Duda sehr wichtig, somit<br />

auch Fremdsprachen, Kultur, andere Sichtweisen.<br />

„Mit dem Englischen hab ich mich<br />

immer recht schwer getan, aber Deutsch<br />

kannte ich ja schon etwas über meinen<br />

Opa. Nachdem meine Eltern beide gearbeitet<br />

haben, bin ich mit 14 ins Internat<br />

gekommen. Dort hat mir eine Lehrerin die<br />

Leidenschaft für die deutsche Sprache vermittelt.<br />

Ich habe acht Stunden die Woche<br />

Deutsch gelernt, in dieser Sprache auch<br />

maturiert.“ Während der Internatszeit gab<br />

es einen dreitägigen Schulausflug nach<br />

Wien. Natürlich nur für jene, deren Eltern<br />

sich dies auch finanziell leisten konnten.<br />

Oksana gehörte zu den Privilegierten,<br />

konnte mitfahren. „Wien hat mich sofort<br />

an Lemberg erinnert. Alles war so sauber,<br />

ganz viel Licht, die schönen Häuser,<br />

die gepflegten Straßen, die ganze Atmosphäre.“<br />

Nach der Matura zieht Oksana<br />

ins Zentrum der Ukraine, nach Kiew, 400<br />

Kilometer östlich von Luzk, um dort Germanistik<br />

und Lehramt Deutsch zu studieren.<br />

„Ich hab in einem Studentenwohnheim<br />

gewohnt, mich unglaublich wohl gefühlt<br />

und bin eigentlich nur einmal im Jahr nach<br />

Hause gefahren. Das war für mich schon<br />

eine sehr beeindruckende Zeit.“ Vier Jahre<br />

später schließt sie ihr Studium in Kiew ab<br />

und . . . begibt sich auf eine große Reise.<br />

Ins Herz der Alpen<br />

Knapp 2.000 Kilometer liegen zwischen<br />

Kiew, der Hauptstadt der Ukraine, und Innsbruck,<br />

dem Herz der Alpen – und noch viel<br />

mehr kulturelle, soziale, politische Unterschiede.<br />

„Mit 22 bin ich nach Innsbruck<br />

gekommen, als Au pair Mädchen. Ich hab<br />

bei einer Familie in der Templstraße auf<br />

ihren kleinen Sohn aufgepasst. Insgesamt<br />

drei Jahre lang. Ich wollte einfach noch<br />

besser Deutsch lernen, eine andere Welt<br />

kennenlernen.“ Womit Oksana freilich nicht<br />

gerechnet hat, war der Tiroler Dialekt. „Das<br />

kann ja nicht Deutsch sein, hab ich mir<br />

zuerst gedacht. Und als Zweites: Welche<br />

Sprache hab ich denn in Kiew eigentlich<br />

studiert? War das wirklich Deutsch? Am<br />

Anfang hab ich etwa überhaupt nicht verstanden,<br />

was man mir eigentlich sagen<br />

will. Zum Glück hab ich mich dann recht<br />

schnell an das Tiroler Deutsch gewöhnt.<br />

Als weitere Fremdsprache sozusagen.“<br />

Die Gastfamilie war überaus nett, zeigte<br />

der jungen Ukrainerin die Sehenswürdigkeiten<br />

der Stadt, des Landes. „Vom Goldenen<br />

Dachl war ich fast etwas enttäuscht, ich<br />

hab es mir viel, viel, viel größer vorgestellt.<br />

Dafür war ich von den Bergen begeistert.<br />

Was für eine gewaltige Landschaft! In der<br />

Ukraine ist der höchste Berg ja gerade mal<br />

zweitausend Meter hoch. Und die Menschen<br />

hier haben viel mehr gelächelt als in<br />

der Ukraine. Das hat mir sofort sehr gefallen.“<br />

Um ihr Deutsch weiter zu perfektionieren,<br />

beginnt Oksana in dieser Zeit ein<br />

zusätzliches Studium der Germanistik an<br />

der Uni Innsbruck. „Ich hab´s aber noch<br />

nicht abgeschlossen“, räumt sie gleich mit<br />

einem schelmischen Augenzwinkern ein.<br />

Am Fuße des Patscherkofels<br />

Das Leben in Tirol gefällt Oksana – die<br />

Pünktlichkeit des öffentlichen Verkehrs, die<br />

gute Infrastruktur, die Berge. „Und es gibt<br />

hier keine Korruption.“ Sie zieht in ein Studentenheim<br />

in Hall, belegt zusätzlich einen<br />

Lehrgang für Freizeitpädagogik. „Ich hab<br />

so viele junge Leute kennengelernt, auch<br />

meinen Freund Philipp. Er ist Tiroler, hat<br />

ebenfalls Germanistik studiert.“ Im Vorjahr<br />

zieht sie dann zu ihm, nach Vill, an den Fuß<br />

des Patscherkofels. „Ich konnte mir früher<br />

überhaupt nicht vorstellen, in so einem<br />

kleinen Dorf zu wohnen. Aber es ist so<br />

wunderschön ruhig, überhaupt nicht fad,<br />

das ist eben Lebensqualität.“<br />

Auf Facebook sieht Oksana dann für sich<br />

eine Jobmöglichkeit: Freizeitpädagogin bei<br />

der GemNova, einem Unternehmen, welches<br />

Menschen aus 31 verschiedenen Nationen<br />

beschäftigt. Sie bewirbt sich, führt<br />

einige Gespräche und wird angestellt. Seit<br />

einem knappen Jahr ist sie nun halbtägig<br />

als Freizeitpädagogin an der Volksschule<br />

in Gries am Brenner tätig, unternimmt mit<br />

einer kleinen Gruppe von drei bis sechs<br />

Kindern die unterschiedlichsten Aktivitäten.<br />

Nachdem sie keinen Führerschein besitzt,<br />

erfolgt die tägliche Anreise von Vill nach<br />

Gries – und zurück – mit öffentlichen Verkehrsmitteln.<br />

Durchaus eine persönliche<br />

Herausforderung, wie sie lächelnd verrät.<br />

Um gleich danach die Begründung nachzureichen.<br />

„Eigentlich bin ich ein bisschen tollpatschig.<br />

Es kann schon passieren, dass ich<br />

in den falschen Zug, in den falschen Bus<br />

einsteige oder dass ich zu einem Termin<br />

am falschen Tag komme. Im Vorjahr wollte<br />

ich etwa mit dem Zug von Innsbruck<br />

nach Wien fahren, um von dort in die Ukraine<br />

zu fliegen. Aufgrund des Hochwassers<br />

war Kufstein überschwemmt, der Zug fuhr<br />

nicht. Ich hab mir also ein Taxi von Innsbruck<br />

nach Salzburg bestellt – das war<br />

um drei Uhr in der Früh gar nicht so einfach<br />

– um dann dort in den Zug einsteigen<br />

zu können. Ich hab dafür 400 € bezahlt,<br />

aber ich wollte eben unbedingt mal wieder<br />

meine Eltern sehen. Seitdem benutze ich<br />

allerdings kein Taxi mehr. Ich kann es mir<br />

einfach nicht mehr leisten.“<br />

„Schlafes Bruder“<br />

Mittlerweile ist Oksana mit Haut und Haaren<br />

in Tirol angekommen, spricht auch<br />

den hiesigen Dialekt. Und sie liest sehr<br />

gerne, sehr viel. Ihr bisher letztes Buch<br />

war „Schlafes Bruder“ vom Vorarlberger<br />

Robert Schneider, ein fürwahr beeindruckender,<br />

höchst erfolgreicher Roman, der<br />

in 36 Sprachen übersetzt wurde. „Ich hab<br />

das Buch natürlich auf Deutsch gelesen.<br />

Aber so ganz einfach war das nicht, weil<br />

Schneider immer wieder vorarlbergische<br />

Dialektworte verwendet hat. Und die hab<br />

ich doch nicht alle sofort verstanden.“ Na<br />

ja, mit dem Vorarlbergischen hätten wohl<br />

auch andere Menschen außerhalb des<br />

Ländles ihre Schwierigkeiten.<br />

Wo sich Oksana Duda in zehn Jahren<br />

sieht? „Ich möchte in Tirol bleiben, die<br />

Ukraine ist mittlerweile mein zweites Heimatland<br />

geworden. Hier in Innsbruck gibt<br />

es eine ukrainische Gemeinde, rund 100<br />

Leute. Viele wandern aus der Ukraine aus,<br />

weil dort die Lebensverhältnisse, auch die<br />

Freiheiten, ganz andere sind. Seit 2014<br />

gibt es im Osten der Ukraine außerdem<br />

Krieg, viele Tote, die Krim ist von Russland<br />

besetzt. Ich hätte außerdem gerne mehr<br />

Stunden als Freizeitpädagogin, ich möchte<br />

mehr arbeiten.“ Kurze Nachdenkpause.<br />

„Vor kurzem haben Philipp und ich ja geheiratet.<br />

Da wird es wohl nicht mehr zehn Jahre<br />

dauern, bis wir auch Eltern werden.“<br />

Dieser Artikel wurde vor dem<br />

Einmarsch Russlands in die<br />

Ukraine verfasst. Auf die<br />

aktuelle Situation wird darum<br />

kein Bezug genommen.

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