Thomas A. Seidel | Sebastian Kleinschmidt: Im Anfang war das Wort (Leseprobe)

Wir sind in Religion, Politik und Kultur zunehmend mit raffinierten Sprachmanipulationen und Wortkodierungen konfrontiert. Häufig wird die Aufforderung zu individueller Übernahme neuer Begriffe und neuer Sprechweisen mit moralisch hochstehenden Argumenten wie (Geschlechter-)Gerechtigkeit, Antidiskriminierung und Gleichbehandlung begründet. Der Streit um Sinn bzw. Unsinn von solcherart Sprachreformen polarisiert die Gesellschaft, spaltet Familien und Freundeskreise und hinterlässt oft einfach nur sprachlose Ratlosigkeit. Ein geschichtsloser, unreflektierter Umgang mit Sprache schafft einen gefährlichen Boden für neue Propaganda und zeitgeistaffinen ideologischen Irrationalismus. Für die reformatorischen »Kirchen des Wortes« ist das unannehmbar, da diese Ideologie die Vitalität des biblischen Zeugnisses angreift. Die Beiträge dieses Buches halten entschieden und sprachbewusst dagegen. Wir sind in Religion, Politik und Kultur zunehmend mit raffinierten Sprachmanipulationen und Wortkodierungen konfrontiert. Häufig wird die Aufforderung zu individueller Übernahme neuer Begriffe und neuer Sprechweisen mit moralisch hochstehenden Argumenten wie (Geschlechter-)Gerechtigkeit, Antidiskriminierung und Gleichbehandlung begründet. Der Streit um Sinn bzw. Unsinn von solcherart Sprachreformen polarisiert die Gesellschaft, spaltet Familien und Freundeskreise und hinterlässt oft einfach nur sprachlose Ratlosigkeit.

Ein geschichtsloser, unreflektierter Umgang mit Sprache schafft einen gefährlichen Boden für neue Propaganda und zeitgeistaffinen ideologischen Irrationalismus. Für die reformatorischen »Kirchen des Wortes« ist das unannehmbar, da diese Ideologie die Vitalität des biblischen Zeugnisses angreift. Die Beiträge dieses Buches halten entschieden und sprachbewusst dagegen.

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<strong>Thomas</strong> A. <strong>Seidel</strong><br />

<strong>Sebastian</strong> <strong>Kleinschmidt</strong> (Hrsg.)<br />

GEORGIANA<br />

<strong>Im</strong> <strong>Anfang</strong><br />

<strong>war</strong> <strong>das</strong><br />

<strong>Wort</strong><br />

Sprache, Politik, Religion


Vorwort<br />

Der Theologe unter den Weimarer Klassikern, Johann Gottfried<br />

Herder, hat sich zeit seines Lebens mit Herkunft und Bedeutung<br />

der menschlichen Sprache beschäftigt. Besonders haben ihn die<br />

enorme <strong>Wort</strong>gewalt der Lutherbibel sowie die theologische<br />

Denkfigur und spirituelle Erfahrung des Wirklichkeit schaffenden<br />

<strong>Wort</strong>es fasziniert. Das Staunen über göttliche Sprach-<br />

Schöpferkraft findet sich sowohl im Alten Testament (Und Gott<br />

sprach: Es werde Licht! Gen 1,3) als auch im Neuen Testament (<strong>Im</strong><br />

<strong>Anfang</strong> <strong>war</strong> <strong>das</strong> <strong>Wort</strong>. Joh 1,1). Herder, der „Vater der Semiotik“, sagt<br />

zu Recht:<br />

Durch Nachahmung, Vernunft und Sprache sind alle Wissenschaften<br />

und Künste des Menschengeschlechts erfunden worden. (1784)<br />

Doch abgesehen von der anthropologischen Grundbedeutung<br />

menschlicher Sprachfähigkeit, abgesehen von ihrer intersubjektiven<br />

Verbindungsleistung für gelingendes Leben, wissen wir<br />

auch um die Gefahr der Instrumentalisierung von Sprache. In<br />

seinem Tagebuch Lingua Tertii <strong>Im</strong>perii (LTI) reflektiert Victor<br />

Klemperer die Sprache des „3. Reichs“. Die Quintessenz lautet:<br />

Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch<br />

mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher,<br />

je unbewusster ich mich ihr überlasse. […] <strong>Wort</strong>e können<br />

sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt,<br />

sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung<br />

doch da.<br />

Klemperer macht sich nach Ende der Nazi-Herrschaft Notizen<br />

zu einer im Osten Deutschlands im Wachsen begriffenen LQI –<br />

einer „Sprache des 4. Reichs“ (Lingua Qu¸arti i <strong>Im</strong>peri i). <strong>Im</strong> Oktober<br />

1945 notiert er in seinem Tagebuch:<br />

5


Man erzählt, wie sehr wir alle Antifaschisten und Demokraten geworden<br />

sind, wie sehr alles „gesäubert“, umgekehrt, besser gemacht<br />

wird. Man predigt gegen jeden Militarismus – und man schlägt mit<br />

alledem genau, ganz haargenau so krass aller Wahrheit und Realität<br />

ins Gesicht, wie es, andersherum, aber mit gleichen, ganz gleichen<br />

<strong>Wort</strong>en LTI=LQI!! […] die Nazis taten.<br />

Wir leben heute in keiner Diktatur. Gleichwohl werden wir in<br />

Kirche, Politik und Kultur, aber auch in Presse, Funk und Fernsehen<br />

zunehmend mit Sprach-Manipulationen und <strong>Wort</strong>-Codes<br />

konfrontiert, die die Ausdrucksfreiheit und den Bildreichtum<br />

der deutschen Sprache nicht nur einschränken, sondern auch<br />

beschädigen. Häufig wird die Aufforderung zur Übernahme<br />

neuer Begriffe und neuer Sprechweisen mit moralisch hochstehenden<br />

Argumenten wie (Geschlechter-)Gerechtigkeit, Antidiskriminierung<br />

und Gleichbehandlung begründet. Der Streit um<br />

Sinn bzw. Unsinn von solcherart Sprachreformen polarisiert die<br />

Gesellschaft, spaltet Familien und Freundeskreise und hinterlässt<br />

oft einfach nur Ratlosigkeit.<br />

Der LIX. Konvent der Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-<br />

Orden hat sich vom 9. bis 11. Oktober 2020 im Erfurter Augustinerkloster<br />

dieser Problematik unter der Überschrift <strong>Im</strong> <strong>Anfang</strong><br />

<strong>war</strong> <strong>das</strong> <strong>Wort</strong> … – Sprachgewalt in Kirche, Politik und Kultur angenommen.<br />

Ein geschichtsloser, unreflektierter Umgang mit Sprache<br />

schafft einen gefährlichen Boden für neue Propaganda und zeitgeistaffinen<br />

ideologischen Fanatismus. Für die reformatorischen<br />

„Kirchen des <strong>Wort</strong>es“ kommt <strong>das</strong> einem Angriff auf die Vitalität<br />

des biblischen Zeugnisses gleich. Die Beiträge dieses Buches<br />

halten entschieden und sprachbewusst dagegen. Wir danken<br />

unserem Georgsbruder Siegmar Faust für die Erstellung des Personenregisters.<br />

<strong>Thomas</strong> A. <strong>Seidel</strong> / <strong>Sebastian</strong> <strong>Kleinschmidt</strong><br />

Weimar und Berlin, Neujahr 2022<br />

6 Vorwort


Inhalt<br />

I<br />

SPRACHE – MACHT – POLITIK<br />

Annette Weidhas<br />

Das Virus der Identitätspolitik<br />

Die Gendersprache als Signum eines<br />

neuen Irrationalismus .......................11<br />

Klaus-Rüdiger Mai<br />

Sprache der Gewalt – Gewalt der Sprache<br />

Anmerkungen zu einem oft missverstandenen<br />

Thema ..................................73<br />

René Nehring<br />

Verkümmerte Botschaft<br />

Anmerkungen zur Krise der evangelischen Kirche<br />

und ihrer Sprache ..........................86<br />

II<br />

SPRACHE – RELIGION – POETIK<br />

Michael Daishiro Nakajima<br />

<strong>Wort</strong> und Liebe<br />

Grundoffenbarungen des göttlichen Seins .........111<br />

Senthuran Varatharajah<br />

Denn ich bin Schrift, und du bist Wunde<br />

Die Sprachen kreuzen sich ....................120<br />

7


III<br />

IM ANFANG WAR DAS WORT<br />

Harald Seubert<br />

Der Logos Europas<br />

Philosophische Perspektiven ..................131<br />

Jobst Landgrebe<br />

Cur homo sapiens non deus<br />

Warum Maschinen niemals sprechen werden .......158<br />

Christoph Meyns<br />

<strong>Im</strong> <strong>Anfang</strong> <strong>war</strong> <strong>das</strong> <strong>Wort</strong><br />

Das <strong>Wort</strong> Gottes in der Spannung zwischen<br />

dem Auftrag der Kirche und der Dynamik<br />

des öffentlichen Raumes .....................181<br />

ANHANG<br />

Personenregister . ..........................199<br />

Die Autoren ..............................207<br />

Kleine Geschichte der Evangelischen Bruderschaft<br />

St. Georgs-Orden ...........................212<br />

8 Inhalt


Kapitel I<br />

Sprache – Macht – Politik


Annette Weidhas<br />

Das Virus der Identitätspolitik<br />

Die Gendersprache als Signum eines<br />

neuen Irrationalismus 1<br />

„Wir haben in den vergangenen Monaten Viren zu fürchten gelernt.<br />

Aber wir unterschätzen immer noch die Gefahr von Ideen,<br />

die zu Ideologien werden und sich ungehemmt ausbreiten, weil<br />

wir ihre scheinmoralischen Rechtfertigungen hinnehmen.“ Das<br />

sind die ersten Sätze eines Artikels des Theologen und Religionsphilosophen<br />

Ingolf U. Dalferth unter der Überschrift „Großprojekt<br />

Gegendiskriminierung“. 2 Deutlichstes Symptom dieses Virus<br />

sind identitäre Ideologien von rechts und links. Für die einen<br />

ist die Volkszugehörigkeit der entscheidende Identitätsmarker,<br />

der die ganze Person bestimmt, für die anderen die Zugehörigkeit<br />

zu einer wirklich oder scheinbar unterdrückten Gruppe wie<br />

People of Color oder Muslime und natürlich vor allem Frauen<br />

und LGBTQIA+-Personen (lesbian, gay, bisexual, transsexual,<br />

queer, intersexual, asexual und was auch immer).<br />

Diese identitären Bewegungen verbreiten sich in der westlichen<br />

Welt zu einem Zeitpunkt, an dem die Gleichheit aller Bürger<br />

vor dem Gesetz weitestgehend erreicht ist. Weil es dennoch<br />

Armut, Bildungsferne, Benachteiligung und Ausgrenzung gibt,<br />

genügt bestimmten Gruppierungen des linken Spektrums bür-<br />

1 Dieser Beitrag ist die stark erweiterte und aktualisierte Fassung meines Vortrags<br />

auf der Tagung der Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden und des<br />

Bonhoeffer-Haus e. V. vom 9.–11.10.2020 in Erfurt. Vgl. auch Weidhas, Künstliche<br />

Sexualisierung der Sprache. Warum wir den Genderstern nicht brauchen,<br />

zeitzeichen 22 (2021), 1,27 ff.<br />

2 Ingolf. U. Dalferth, Großprojekt Gegendiskriminierung. Kritische Anmerkungen<br />

zur Entwicklung der Universitäten in den USA in Sachen Identitätspolitik,<br />

zeitzeichen 22 (2021) 2, 8–11.<br />

11


gerliche Rechtsgleichheit nicht mehr, sie streben absolute<br />

Gleichheit an. Doch die Meinung, <strong>das</strong>s Gerechtigkeit in Gleichheit<br />

bestünde, beruht, wie Johannes Fischer unabweisbar darstellt,<br />

„auf einem verhängnisvollen Irrtum. Wäre dem so, dann<br />

würden sich die Rechte eines Menschen daran bemessen, was<br />

andere haben. … Die Gerechtigkeit der Menschenrechte und der<br />

Bürgerrechte ist eine non-egalitäre Gerechtigkeit.“ 3<br />

Die egalitäre Utopie gab <strong>das</strong> moralische Feigenblatt für Sozialismus<br />

und Kommunismus ab, <strong>das</strong> vor allem die Jugendbewegung<br />

der Achtundsechziger für bare Münze nahm und daraufhin<br />

auch von Philosophie und Gesellschaftstheorie aufgegriffen<br />

wurde. 1971 forderte John Rawls in „Eine Theorie der Gerechtigkeit“,<br />

<strong>das</strong>s die Zufälligkeiten der natürlichen Begabung und der<br />

gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zu Vorteilen führen dürften.<br />

Darüber, wie <strong>das</strong> gehen soll, herrscht seitdem Streit. <strong>Im</strong> Extremfall<br />

wird in Gesellschaft und Kirche gefordert, aus Solidarität<br />

mit den Schwächeren müsste man sich immer für die Minoritäten<br />

einsetzen und deren Interessen vertreten. Doch abgesehen<br />

davon, <strong>das</strong>s dies den gesellschaftlichen Frieden gefährdet, ist es<br />

wenig sinnvoll, z. B. nur die weniger Begabten zu fördern, die<br />

gut Begabten aber nicht. Denn gerade die braucht man schließlich<br />

– und z<strong>war</strong> nicht nur finanziell –, um dauerhaft Schwächeren<br />

zu helfen. In der DDR funktionierte dieser Ansatz nicht. Das<br />

Ergebnis dieser speziellen Gegendiskriminierung – Kindern von<br />

Intellektuellen wurde <strong>das</strong> Studium verweigert – ist bekannt.<br />

Der sog. Arbeiter- und Bauernstaat erstickte in realitätsblinder,<br />

irrationalistischer Ideologie. Der gesamte Ostblock verlor wissenschaftlich<br />

und wirtschaftlich gegenüber dem Westen jegliche<br />

Konkurrenzfähigkeit. Doch <strong>das</strong> scheint vergessen zu sein. Inzwischen<br />

gibt es überall in der westlichen Welt Gruppierungen, die<br />

im Namen der Menschenrechte positive Diskriminierung und<br />

3 Johannes Fischer, Auf dem Weg ins Tollhaus. Über die herrschenden Irrtümer<br />

der Identitätspolitik und ihre Folgen, zeitzeichen.net (https://zeitzeichen.<br />

net/node/8959).<br />

12 Annette Weidhas


Quotierung wirklich oder vermeintlich Benachteiligter einfordern,<br />

um völlige Gleichheit herzustellen. Dabei wird verkannt,<br />

<strong>das</strong>s vollkommene Gleichheit kein erreichbares Ziel ist, sondern<br />

alle Versuche dazu zwangsläufig in Gegendiskriminierung, Gegenrassismus<br />

4 und Totalitarismus umschlagen müssen, weil die<br />

maßvolle Mitte im Kampf zwischen den radikalen Polen von<br />

rechts und links aufgerieben bzw. zum Schweigen gebracht wird.<br />

Der britische Journalist Douglas Murray führt die neue Radikalität<br />

der Gay-, Black- und Women-Rights-Bewegung genau darauf<br />

zurück, <strong>das</strong>s in den westlichen Demokratien Rechtsgleichheit<br />

erreicht sei und die Interessenverbände nun verzweifelt nach<br />

neuen Aufgabenfeldern suchten. 5 Da der berechtigte Kampf gegen<br />

die allerdings sehr kleine Gruppe der wirklich Rechtsidentitären<br />

offenbar nicht genug Sinnstiftung zur Existenzsicherung<br />

abwirft, wird <strong>das</strong> Kampffeld ausgeweitet, indem jeder, der ihnen,<br />

den Linksidentitären, widerspricht, damit rechnen muss, als<br />

neurechts geoutet zu werden. Unterstützt werden sie dabei von<br />

4 In Frankreich z. B. stellt die extreme Linke Laizität und Universalismus zunehmend<br />

infrage, weil sie davon ausgeht, <strong>das</strong>s jeder Muslim per se unterdrückt<br />

ist. Jede vernünftige Religionskritik wird als islamophob abgewiesen – bis dahin,<br />

<strong>das</strong>s man Verständnis für die Charlie-Hebdo-Attentäter erkennen lässt und<br />

sich mit Leuten wie Horia Bouteldja solidarisiert, die behauptet: „Man kann<br />

nicht Israeli und unschuldig sein.“ (Interview mit der Soziologin Nathalie Heinrich,<br />

NZZ vom 10.3.2021) Was ist <strong>das</strong> anders als Antisemitismus und faschistoides<br />

völkisches Denken? Man lese dazu auch <strong>das</strong> Buch von Pascal Bruckner, Der<br />

eingebildete Rassismus. Islamophobie und Schuld, Berlin 2020.<br />

5 Alexander Zinn, Einfalt statt Vielfalt. Wie Lesben- und Schwulenverbände<br />

in linksidentitäres Fahrwasser gerieten, FAZ vom 16.3.2021. Michael Burkhardt<br />

sieht in der Identitätspolitik gar eine Klassenpolitik der Bourgeoisie und z<strong>war</strong><br />

der sog. professionellen Mittelklasse (PMC nach „professional-managerial<br />

class“). Diese Klasse leide aufgrund einer „Überproduktion von Eliten“ an Abstiegsängsten.<br />

Ein Mittel dagegen sei die Identitätspolitik. „Frauenquoten für<br />

Parteivorstände und Parteilisten bringen offensichtlich nur Vorteile für jene<br />

Frauen, die bereits der politischen Elite angehören …“ (Burkhardt, Identitätspolitik<br />

ist Klassenkampf, der Freitag vom 5.11.2020; https://www.freitag.de/<br />

autoren/mburkhardt/ identitaetspolitik-ist-klassenkampf-1).<br />

Das Virus der Identitätspolitik 13


Leuten, die meinen, sich „um einer guten Sache“ willen gefahrlos<br />

überheben zu können. 6 <strong>Im</strong> Ergebnis arbeiten die Aktivisten<br />

beider Gruppierungen an der Zerstörung der Rechtsgleichheit.<br />

Die einen wollen die angestammte Bevölkerung bevorzugen,<br />

die anderen die verschiedensten Minderheiten. Letztere haben<br />

schon ein spezielles Signalwort für ihren radikalen Kampf gegen<br />

jedwede Ungerechtigkeit: Wokeness (Erwachtsein). Weil es „heroischer<br />

ist, gegen einen blutrünstigen Endgegner zu kämpfen<br />

als mit jemandem zu streiten, dessen Argumente teils plausibel,<br />

teils anfechtbar sind“, überhöht man den Kontrahenten und<br />

„zieht ins letzte Gefecht“. 7 Dieses Verhalten ist typisch für die<br />

Art Mediengesellschaft, die sich in der westlichen Welt entwickelt<br />

hat. Sie unterstützt „betreutes Denken“, was paternalistischer<br />

Illiberalität Vorschub leistet, statt tolerante Friedfertigkeit<br />

zu stützen. Nun ja, auch awoken wird wohl nicht zum letzten Gefecht<br />

geblasen. Es gibt immer ein Danach. Nur: Wird <strong>das</strong> dann<br />

noch demokratisch sein? 8<br />

6 Vgl. den mit Falschbehauptungen gespickten Artikel von Arnd Henze „Fetisch<br />

Gegendiskriminierung“ gegen Ingolf U. Dalferth in zeitzeichen 22 (2021)<br />

3, 12–15. Einen höchst erfolgreichen Wissenschaftler wie Dalferth schreckt<br />

derlei nicht mehr, aber so manchen Nachwuchswissenschaftler schreckt diese<br />

Praxis ab, <strong>das</strong> freie <strong>Wort</strong> zu gebrauchen. Wer heute damit rechnen muss, gegen<br />

seine Intention und ohne sachliche Argumentation neurechter Tendenzen geziehen<br />

zu werden, riskiert seine Karriere.<br />

7 Jörg Scheller, Identität im Zwielicht. Perspektiven für eine offene Gesellschaft,<br />

München 2021, 93 f.<br />

8 Der Althistoriker Michael Sommer schreibt: Das Fundament der Bürgergesellschaft<br />

des Nationalstaats, „die Rechtsgleichheit der Bürger, garantiert nicht<br />

Verteilungs- und nicht einmal Chancengerechtigkeit. Sie aber ist, lassen wir uns<br />

nicht täuschen, all ihren Defekten zum Trotz Voraussetzung für etwas noch<br />

Wichtigeres: die liberale Demokratie. Ihr Verschwinden wäre der erste Kollateralschaden<br />

des identitätspolitischen Neo-Tribalismus.“ (Cicero vom 10.6.2020,<br />

https://www.cicero.de/innenpolitik/proteste-rassismus-spaltung-identitaetspolitik-sch<strong>war</strong>ze)<br />

14 Annette Weidhas


1. Die sogenannte gendergerechte Sprache<br />

als identitäre Politik<br />

<strong>Im</strong> Kontext der angerissenen identitätspolitischen Debatte, die<br />

sich gerade zu einem veritablen Kulturkampf entwickelt, ragt<br />

ein Thema in besonderer Weise heraus: <strong>das</strong> der Geschlechtsidentität.<br />

Neu ist auch <strong>das</strong> nicht. Schon 1980 veröffentlichte die<br />

Sprachwissenschaftlerin Luise Pusch zusammen mit drei anderen<br />

Linguistinnen „Richtlinien zur Vermeidung sexistischen<br />

Sprachgebrauchs“. 9 Hier beginnt <strong>das</strong> Ineinandersetzen von<br />

grammatischem und biologischem Geschlecht im Namen identitärer<br />

„Wissenschaft“ 10 , die <strong>das</strong> grammatische Geschlecht ab-<br />

9 Ist <strong>das</strong> * jetzt Deutsch? Von Felix Bohr/Lisa Duhm/Silke Fokken/Dietmar<br />

Pieper, DER SPIEGEL, Nr. 10, 6.3.2021, 9.<br />

10 Der Verweis auf „Wissenschaftlichkeit“ gehört für mich zum ärgerlichsten<br />

der ganzen Debatte. Mit „Wissenschaft“ hat die Genderideologie nichts zu<br />

tun. Umso massiver aber rekurriert sie darauf. In einem „Manifest des Kunsthistorischen<br />

Studierendenkongresses (KSK) zur gendergerechten Sprache<br />

an kunsthistorischen Instituten im deutschsprachigen Raum“ heißt es: „Wir<br />

appelieren an die Universitäten, Institute, Lehrkörper und Angestellten und<br />

an die Studierenden, ihren Sprachgebrauch wissenschaftlich zu reflektieren<br />

und anzupassen, um immer mit dem Bewusstsein, <strong>das</strong>s die Gesellschaft von<br />

morgen an den Universitäten von heute entscheidend mitgeprägt wird, mit<br />

gutem Beispiel voranzugehen. Sprache schafft Bewusstsein, vermittelt gesellschaftliche<br />

Werte und reproduziert Normen. Gendergerechte Sprache hat zum<br />

Ziel, alle Geschlechter sichtbar zu machen und anzusprechen. Außerdem ist<br />

eine präzise und korrekte Sprache wichtig für akkurate Wissenschaft.“ (Papier<br />

per E-Mail versandt, Mitte Juli 2021, liegt mir vor.) „Akkurate Wissenschaft“!<br />

Damit hat die Genderideologie, wie wir sehen werden, so wenig zu tun, wie<br />

der „Wissenschaftliche Kommunismus“ mit Wissenschaft zu tun hatte. Noch<br />

nie hat alles, was an Universitäten traktiert wurde, auf Dauer den Anspruch<br />

der Wissenschaftlichkeit halten können. Gerade die Geisteswissenschaften<br />

sind regelmäßig gefährdet, weshalb hier besonders große Vorsicht geboten ist.<br />

Man denke u. a. an die Rassentheorien, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert<br />

wie ein Virus im akademischen Bereich um sich griffen und von da aus ganze<br />

Gesellschaften infizierten. Irritierend ist auch der Nachsatz: „Das Ziel ist nicht<br />

Das Virus der Identitätspolitik 15


schaffen und damit die Sexualisierung der deutschen Sprache<br />

vorantreiben will. Seit den 1970er Jahren kennen wir zudem die<br />

Diskussion um kontextuelle Theologie, speziell feministische<br />

Theologie, der zufolge Frauen die Bibel anders lesen als Männer.<br />

Mir ist <strong>das</strong> bisher nie aufgefallen. Jeder Mensch, egal welchen Geschlechts,<br />

Alters oder Kulturkreises, liest die Bibel anders. Ich<br />

persönlich finde manche Interpretation von Männern falsch,<br />

manche von Frauen richtig, sehr oft ist es aber auch umgekehrt.<br />

Die „Bibel in gerechter Sprache“ ist sang- und klanglos aus der<br />

Debatte verschwunden. Das hält aber auch in den evangelischen<br />

Kirchen vielerorts Wohlmeinende nicht davon ab, <strong>das</strong> Thema –<br />

nun in Gestalt des Identitätsdiskurses – neu als zentrales „christliches“<br />

Anliegen in den Vordergrund zu stellen. Glaubt man<br />

wirklich, damit der Säkularisierung Herr bzw. Frau zu werden?<br />

Oder erreicht man damit nur <strong>das</strong>selbe wie die SPD, wenn sie sich<br />

von Wolfgang Thierse und Gesine Schwan wegen deren Kritik<br />

an der Identitätspolitik distanziert, um es Queer-Gruppen recht<br />

zu machen? Man geht auf Milieus zu, deren Vertreter niemals<br />

daran dachten, SPD- oder Kirchenmitglieder zu werden, verliert<br />

dadurch aber weitere angestammte Wähler und Kirchenglieder.<br />

Man möge doch bitte verstehen: Die Identität von Christen wird<br />

durch Jesus Christus bestimmt, sofern wir ihm im Glauben unser<br />

Herz öffnen. Das ist kein Kitsch, sondern der durchaus todernste,<br />

weil todüberwindende Kern evangelischer Theologie.<br />

Und der hat nichts mit dem Geschlecht, der Herkunft oder dem<br />

sozialen Status zu tun, auch wenn ich strikt für Geschlechtergerechtigkeit<br />

und generell für solidarische Nächstenliebe eintrete.<br />

die Einteilung in ‚gut‘ und ‚böse‘, ‚richtig‘ oder ‚falsch‘, sondern inklusives<br />

gerechteres und passenderes Sprechen und Schreiben …“. Wissenschaftlich<br />

betrachtet sind „Gerechtigkeit“ und „Inklusion“ keine Kriterien für Sprache an<br />

sich (bzw. ihre Grammatik). Und selbstverständlich ist <strong>das</strong> Ziel des gesamten<br />

Gender-Bestrebens, Menschen nach ihrer Sprachform in „gut und böse, richtig<br />

oder falsch“ zu unterteilen. Falls nicht, müssten die Verfasser dieses Manifests<br />

mit der Möglichkeit rechnen zu irren. Das tun sie aber ganz offensichtlich<br />

nicht.<br />

16 Annette Weidhas


Bei Paulus ist nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier,<br />

nicht Mann noch Frau, alle sind wir „einer in Christus Jesus“ (Galater<br />

3,28).<br />

Das signifikanteste Zeichen für identitäre Geschlechterpolitik<br />

in der Sprache ist der typographische Stern. Er soll für die Vielfalt<br />

der Geschlechter stehen, während <strong>das</strong> generische Maskulinum<br />

nichtmännliche Personen unsichtbar mache. Das ist falsch.<br />

„Der Mond ist nicht männlich, die Erde nicht weiblich, <strong>das</strong> Weltall<br />

nicht sächlich. Es gibt ein biologisches und ein grammatisches<br />

Geschlecht. Die beiden können sich überlagern, müssen es<br />

aber nicht.“ 11 Das generische Maskulinum spricht alle Menschen<br />

gleichermaßen an. Darum spricht der Musiker und Germanist<br />

Fabian Payr in seinem wohltuend unpolemischen, aber entschieden<br />

argumentierenden Buch „Von Menschen und Mensch*innen“<br />

vom inklusiven Maskulinum 12 , was ich im Folgenden zumeist übernehmen<br />

werde. Diese Inklusivität aber glauben die Protagonisten<br />

der sprachbasierten Identitätsideologie nicht. Sie behaupten, diese<br />

grammatische Form sei Ausweis bzw. Ursache von Diskriminierung.<br />

13 Folglich nehmen sie in Kauf, die Schönheit und den Fluss<br />

der deutschen Sprache zu torpedieren und Partizipien ihrem<br />

Sinn zu entfremden, die Deklinationsnotwendigkeit zu ignorieren<br />

und die Vorlesbarkeit zu verschlechtern. Texte werden<br />

schwerfälliger und bürokratischer und der Hiatus zwischen geschriebener<br />

und gesprochener Sprache sowie zwischen Wissenschafts-<br />

und Literatursprache wird größer. Die Übersetzbarkeit<br />

deutscher Texte leidet schwer und die allgemeine Verständlich-<br />

11 Ingo Meyer, Das Märchen vom Gendersterntaler, Berliner Zeitung vom<br />

15.5.2021, 12. Dieser kluge Artikel ist sehr zu empfehlen.<br />

12 Fabian Payr, Von Menschen und Mensch*innen. 20 gute Gründe, mit dem<br />

Gendern aufzuhören, Wiesbaden 2021, VII.<br />

13 Historisch betrachtet ist diese Ansicht unhaltbar, da viele Sprachen gar kein<br />

grammatisches Genus ausweisen, die Stellung der Frauen aber auch in diesen<br />

Kulturen sehr unterschiedlich ist, also offensichtich von anderen Faktoren abhängt.<br />

So ist die Stellung der Frauen in Finnland beispielhaft gut, aber in anderen<br />

Ländern mit Sprachen ohne Genus (z. B. Iran) katastrophal schlecht.<br />

Das Virus der Identitätspolitik 17


keit sowieso. Einerseits propagiert man „einfache Sprache“, andererseits<br />

verkompliziert man Sprache in einer Weise, die gar<br />

nicht konsequent durchzuhalten ist und extreme Barrieren<br />

schafft. Neuerdings will man sogar geschlechtsneutrale Pronomen<br />

erfinden. 14 Der Deutsche Buchpreisträger Eugen Ruge erklärt<br />

sehr schön, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> <strong>Wort</strong> Bürger „längst nicht mehr die<br />

Berger“ meint, also die Beschützer einer Stadt, „sondern die Angehörigen<br />

einer Gemeinschaft mit Rechten und Pflichten“ und<br />

Mann und Frau ohne genderistische Propa ganda längst in einem<br />

Begriff vereint seien, „so wie sich auch (fast) jeder unter Menschen<br />

weibliche und männliche Lebewesen vorstellt“. 15 Wollen<br />

wir also mit dem inklusiven Maskulinum <strong>Wort</strong>ungetüme wie<br />

„Bürger*innen*meister*inwahl“ vermeiden? Ja, ich wenigstens<br />

will. Und als Programmleiterin eines Verlags möchte ich meine<br />

Autoren künftig nicht als „bücherschreibende Personen“ bezeichnen.<br />

Ich schließe mich Richard Schröder an, der darum<br />

bittet, <strong>das</strong> generische (inklusive) Maskulinum bei zusammengesetzten<br />

Wörtern zuzulassen und Doppelbenennungen „auf hervorgehobene<br />

Fälle, namentlich bei der Anrede vor Versammlungen“,<br />

zu beschränken. „Wir können die Tatsache, <strong>das</strong>s unsere<br />

Sprache patriarchales Erbe mit sich führt, nicht vollständig aus<br />

der Welt schaffen. Wir können aber hier und jetzt durch die Tat<br />

14 Vgl. Wenn eine Person einen Namen lernen kann, kann sie auch ein<br />

Pronomen lernen (https://www.jetzt.de/gender/welches-pronomen-benutztman-bei-menschen-die-sich-weder-als-mann-noch-als-frau-definieren):<br />

„Dass<br />

sich René_ mit einem Unterstrich schreibt, ist Absicht. Denn René_ möchte<br />

weder die männliche Form des Namens (‚René‘) noch die weibliche (‚Renée‘)<br />

annehmen. René_ identifiziert sich als nicht-binär – also weder als Mann noch<br />

als Frau – und möchte deswegen auch nicht als ‚er‘ oder ‚sie‘ bezeichnet werden.<br />

Stattdessen wünscht René_ sich entweder gar kein Pronomen oder <strong>das</strong><br />

geschlechtsneutrale Pronomen ‚em‘.“<br />

15 Eugen Ruge, Eine Frage der Endung, Zeit Online vom 20.1.2021 (https://<br />

www.zeit.de/2021/04/gendergerechte-sprache-veraenderung-geschlechtergerechtigkeit-duden).<br />

18 Annette Weidhas


eweisen, <strong>das</strong>s diese Reste für uns be deutungslos sind und unserer<br />

Achtung der Frauen keinen Abbruch tun.“ 16<br />

Die Argumente hierzu sind im Prinzip ausgetauscht, man<br />

lese die Artikel des Linguisten Peter Eisenberg, die Sprachnachrichten<br />

des Vereins Deutsche Sprache e. V. (VDS) oder – als<br />

Beispiel von inzwischen nicht mehr auflistbaren Beiträgen zum<br />

Thema von Autoren aller Couleur – Dorothea Wendebourgs<br />

„Die Siegerin bleibt Zweite“: Sie hebt darauf ab, <strong>das</strong>s in einem<br />

Interview mit Markus Lanz Barack Obama Merkel als „one of<br />

my favorite partners on the world stage“ bezeichnete. Der ZDF-<br />

Dolmetscher übersetzte, <strong>das</strong>s Angela Merkel eine von Obamas<br />

„Lieblingspartnerinnen auf der Weltbühne“ gewesen sei. Das ist<br />

falsch. Obama meinte nicht, <strong>das</strong>s Merkel ihm von den weiblichen<br />

Politikern Europas die liebste gewesen sei, sondern von allen europäischen<br />

Politikern. 17 Aus Gründen wie diesen sehen zunehmend<br />

auch Frauenrechtlerinnen im Gendern ein Problem. Denn<br />

wenn es von Natur aus weder Frau noch Mann gibt, verliert gerade<br />

der Feminismus seinen Gegenstand, wie Alice Sch<strong>war</strong>zer 18<br />

und Joanne K. Rowling darlegen. In England sollte auf Druck<br />

von Trans-Organisationen ein „Self-Identification-Gesetz“ eingeführt<br />

werden. Allein die Erklärung, also ein Sprechakt, sollte<br />

ausreichen, um seinen Personenstand von Mann in Frau und<br />

umgekehrt zu ändern. Die Feministin Maya Forstater widersprach<br />

und erklärte, sie glaube nicht, <strong>das</strong>s Menschen ihr biologisches<br />

Geschlecht ändern könnten. Daraufhin <strong>war</strong> sie schweren<br />

Anfeindungen ausgesetzt und ihr Vertrag beim Global Development<br />

Centre wurde gekündigt. Erst nach längerem Rechtsstreit<br />

bekam Forstater Recht mit der Begründung, <strong>das</strong>s ihre Haltung,<br />

„die weithin geteilt“ werde, eine „geschützte philosophische<br />

16 Richard Schröder, Wir gendern seit Jahrtausenden – aber jetzt wird es<br />

wirklich absurd!, FOCUS online vom 7.7.2021 (https://m.focus.de/politik/<br />

deutschland/kommentar-von-philosoph-richard-schroeder-wir-gendern-seitjahrtausenden-doch-jetzt-wird-es-wirklich-absurd_id_13520617.html).<br />

17 Vgl. Dorothea Wendebourg, Die Siegerin bleibt Zweite, FAZ vom 18.2.2021.<br />

18 Vgl. EMMA, Juli/August 2017, 62–73.<br />

Das Virus der Identitätspolitik 19


Überzeugung“ sei. 19 Aber nicht nur Frauenverbände, auch Lesben-<br />

und Schwulenverbände kämen in Schwierigkeiten, würde<br />

diese Realität verleugnende Ansicht einer winzigen Minderheit<br />

Gesetz, haben sie doch bisher eher auf biologische Veranlagung<br />

gesetzt und gerade aus diesem Grund „Umerziehungsversuche“<br />

zu Recht strikt abgelehnt. Und noch ein letzter sensibler Punkt<br />

deutscher Politik sei benannt. Ellen Presser schreibt: „Wenn man<br />

von Jüdinnen und Juden, kurz Jüd*innen, sprechen muss, weil<br />

Juden als maskuliner Sammelbegriff unzulässig geworden ist,<br />

dann bekommen Leute wie ich auf neue Weise einen Stern verpasst.<br />

Und wenn Politiker von ‚jüdischen Münchnerinnen und<br />

Münchnern‘ sprechen, die nach dem 9. November 1938 ins KZ<br />

Dachau eingeliefert wurden, dann wird es auch historisch falsch,<br />

weil es damals nur die Männer traf.“ 20<br />

Dem schon genannten Fabian Payr zufolge gibt es nicht nur<br />

keine „belastbaren wissenschaftlichen Argumente“ für <strong>das</strong> Gendern,<br />

er hält es für sexistisch, kontraproduktiv, dysfunktional,<br />

undemokratisch, grundgesetzwidrig usw. „Die Würde des Menschen,<br />

von der unser Grundgesetz spricht, bezieht sich nicht auf<br />

unsere Attribute, sondern auf unser Menschsein. Würde haben<br />

wir nicht als Mann oder Frau, sondern als Mensch.“ 21 Payrs Argumentation<br />

ist in ihrer klaren, aber freundlich-humorvollen<br />

Diktion sehr gut nachvollziehbar. Leider geht es nicht mehr um<br />

Argumente. Dieser Situation hat sich inzwischen auch die Dudenredaktion<br />

durch Sexualisierung von Personen- und Berufsbezeichnungen<br />

gebeugt, allerdings mit einer Rückzugsmöglichkeit.<br />

22 Den Genderstern allerdings will der Rat für deutsche<br />

19 Chantal Louis, Maya Forstater siegt vor Gericht, EMMA vom 12.6.2021.<br />

20 Ellen Presser, Jüdische Allgemeine, 12.3.2021 (https://www.juedische-allgemeine.de/meinung/juedinnen-und-anderer-gender-stuss/?fbclid=IwAR3Ev0a5<br />

pmT0qYCVtY4TUjk2pBKp PNgJXoOn9KDPt1jQGzPBRptLOXKSz80).<br />

21 Payr, Menschen und Mensch*innen (s. Anm. 12), 150.<br />

22 „Kathrin Kunkel-Razum, Chefredakteurin des Dudens, hat in einem Interview<br />

mit dem NDR ausgeführt, <strong>das</strong>s sie <strong>das</strong> generische Maskulinum gar nicht<br />

abschaffen wolle. Stattdessen begründet sie <strong>das</strong> Gendern von 12.000 Perso-<br />

20 Annette Weidhas


Rechtschreibung vorerst nicht einführen. 23 Er wolle sich in<br />

seiner Bewertung geschlechtergerechter Schreibweisen an der<br />

Lesbarkeit und Verständlichkeit orientieren und „einem unkontrollierten<br />

Nebeneinander unterschiedlichster Variantenschreibungen“<br />

entgegenwirken, um „die Einheitlichkeit der Rechtschrei<br />

bung in allen deutschsprachigen Ländern zu erhalten“.<br />

Frankreich ist hier eindeutiger: Dort will man die sog. gendergerechte<br />

Schriftsprache an Schulen verbieten. Das nimmt sich<br />

Hamburgs 35-jähriger CDU-Chef Christoph Ploß zum Vorbild<br />

und macht sich für ein Verbot der Gendersprache bei staatlichen<br />

Stellen stark. 24 Sachsen und Schleswig-Holstein haben inzwischen<br />

<strong>das</strong> Gender-Sternchen, die Verwendung des Binnen-I sowie<br />

des Gender-Unterstrichs in den Schulen ihrer Länder untersagt.<br />

Und der CDU-Wirtschaftsrat will Gendersprache bei ARD<br />

und ZDF verbieten, da gerade der öffentlich-rechtliche Rundfunk<br />

zu Neutralität verpflichtet sei und ohne ideologischen<br />

Überbau kommunizieren sollte. 25 Auch die CDU-Fraktion des<br />

Sächsischen Landtags hat inzwischen (19.7.2021) ein Positionspapier<br />

vorgelegt, <strong>das</strong> die Gleichberechtigung von Frauen und<br />

nen- und Berufsbezeichnungen jetzt als technischen Aspekt, der Nutzern der<br />

Internetseite unnötige Weiterleitungen ersparen soll. Laut Kunkel-Razum gebe<br />

es innerhalb der Linguistik zwei Schulen: Eine konzentriere sich eher auf <strong>das</strong><br />

Sprachsystem, die andere auf die Sprachverwendung. Fraglich ist, <strong>war</strong>um Kunkel-Razum<br />

die aktuelle Verwendung durch die Sprachgemeinschaft, die <strong>das</strong><br />

Gendern laut mehrerer Umfragen ablehnt, nicht in ihre Bedenken aufnimmt.<br />

Kurz vorher hatte sie in einem Interview mit der Gesellschaft für deutsche<br />

Sprache bereits bestätigt, <strong>das</strong>s man nach dem Umbenennungs-Vorstoß viel<br />

Resonanz erhalten habe, die die Duden-Redaktion dazu bewogen habe, die<br />

Verwendung klarer darzustellen. Auch über einen entsprechenden Hinweis,<br />

<strong>das</strong>s Begriffe auch geschlechterübergreifend genutzt werden können, werde<br />

nachgedacht.“ (Verein für Deutsche Sprache, Infobrief vom 27.2.2021)<br />

23 Siehe https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-03/sprachegender-stern-rechtschreibung-regelwerk-keine-aufnahme.<br />

24 Vgl. https://www.welt.de/regionales/hamburg/article231342157/Sprache-<br />

Hamburgs-CDU-Chef-will-staatlichen-Stellen-<strong>das</strong>-Gendern-verbieten.html.<br />

25 Georg Altrogge/Florian Kain/Ralph Schuler, Bild.de vom 29.5.2021.<br />

Das Virus der Identitätspolitik 21


Männern als gesamtgesellschaftliche Aufgabe sieht, aber in der<br />

öffentlichen Kommunikation „verkürzte Formen zur Kennzeichnung<br />

mehrgeschlechtlicher Bezeichnungen wie beispielsweise<br />

‚Gender-Stern‘, ‚GenderGap‘, ‚Binnen-I‘ oder innerer Doppelpunkt<br />

und deren Übernahme in <strong>das</strong> amtliche Regelwerk der<br />

deutschen Rechtschreibung“ ablehnt. 26<br />

In Deutschland gab es schon einmal einen veritablen Streit<br />

über die richtige Sprache: die – ziemlich teure – Rechtschreibreform.<br />

Interessant dazu ist der äußerst bescheiden daherkommende<br />

Eintrag bei Wikipedia: „1996 kam es im deutschsprachigen<br />

Raum zu einer Rechtschreibreform mit dem erklärten<br />

primären Ziel, die deutsche Rechtschreibung zu vereinfachen.<br />

Sie <strong>war</strong> sowohl wegen der angestrebten Änderungen als auch<br />

wegen der Vorgehensweise bei der Durchsetzung umstritten<br />

und führte zu Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern<br />

und Gegnern. In den Jahren 2004 und 2006 wurde <strong>das</strong> Regelwerk<br />

in besonders strittigen Punkten überarbeitet, außerdem<br />

2011 und 2017.“ Das Ergebnis dieser damals mit kulturkämpferischem<br />

Pathos durchgesetzten Reform, die mehr Bildungsgleichheit<br />

schaffen sollte, ist <strong>das</strong> Gegenteil des Angestrebten. Die Schüler<br />

haben deutlich mehr Probleme mit dem Groß- und Klein-,<br />

Getrennt- und Zusammenschreibung. Die vier (!) Reformen der<br />

Reform haben viele der eingeführten Änderungen wieder rückgängig<br />

gemacht, in den meisten Fällen aber sind nun sowohl die<br />

alte als auch die neue Schreibweise erlaubt, wobei der Duden<br />

inzwischen oft die alte Form empfiehlt. Wird man in zehn oder<br />

fünfzehn Jahren über den genderistischen Irrweg ebenso lachen<br />

wie über diesen „Schildbürgerstreich“? 27<br />

26 Siehe https://www.cdu-fraktion-sachsen.de/fileadmin/user_upload/Positionen/CDU-Positionspapier_<br />

Geschlechtergerechte_ Sprache_ 20072021.pdf.<br />

27 Der Germanist Theodor Ickler legte 1997 seine Kritik an der Rechtschreibreform<br />

in einem viel beachteten Buch unter dem Titel „Die sogenannte Rechtschreibereform<br />

– ein Schildbürgerstreich“ dar. Inzwischen erschien von ihm<br />

„Der Rat für deutsche Rechtschreibung in Dokumenten und Kommentaren“,<br />

Berlin 2021. Hier zeigt er u. a. die Fehlkonstruktion des Rates auf.<br />

22 Annette Weidhas


Beide Reformversuche speisen sich aus einem technizistischen<br />

und zentralistischen Verständnis von Sprache. Der<br />

identitätspolitische Ansatz aber befördert zudem eine künstliche<br />

Sexualisierung der Sprache, die unser Verständnis des<br />

allgemein Menschlichen verstellt. Peter Eisenberg nennt die<br />

Vermännlichung tausender geschlechtsneutraler Begriffe durch<br />

den Duden einen „skandalösen Fälschungsversuch“. 28 Patrick<br />

Bahners will dies bezüglich – etwas wohlwollender – „nur“ annehmen,<br />

<strong>das</strong>s der Duden-Redaktion der Unterschied zwischen<br />

richtig und falsch gleichgültig ist. Darauf deutet der windelweiche<br />

Hinweis der Redaktion, <strong>das</strong>s man auf Nutzerinnen und<br />

Nutzer Rücksicht nehmen wolle, die enttäuscht seien, wenn<br />

bei „Ärztin“ auf „Arzt“ verwiesen werde. „Stillschweigend wird<br />

wohl vorausgesetzt, <strong>das</strong>s jedermann weiß, was ein Arzt ist. Um<br />

der symbolischen Aussage willen wird der falsche Inhalt in<br />

Kauf genommen.“ 29 Arzt ist keine männliche Form, sondern<br />

eine Berufsbezeichnung. Der VDS hat inzwischen einen Aufruf<br />

gegen die Zwangssexualisierung der deutschen Sprache durch den<br />

Duden gestartet.<br />

Es kann doch nicht darum gehen, Aufgaben für Schüler und<br />

Schülerinnen zu stellen, sondern für Schüler insgesamt ohne<br />

Ansehen des Geschlechts. Das gilt umso mehr, als für die meisten<br />

Menschen – nicht nur für Kinder und Ältere – <strong>das</strong> Geschlechtsleben<br />

nicht der entscheidende Identitätsmarker ist. Der Druck,<br />

der hier erzeugt wird, ist extrem und wird kommerziell massiv<br />

befördert. Man versuche nur einmal, einem kleinen Mädchen<br />

28 Peter Eisenberg, Unter dem Muff von hundert Jahren, FAZ vom 8.1.2021.<br />

Sehr eindrücklich ist auch Eisenbergs Warnruf „Die Zerstörung des Deutschen“<br />

in der WELT vom 10.0.2021 (https://www.welt.de/kultur/plus233017189/<br />

Gendern-und-Standardsprache-Die-Zerstoerung-des-Deutschen.html). Er sorgt<br />

sich angesichts zunehmender Institutionalisierung der Gendersprache – gegen<br />

den Willen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung – um die deutsche<br />

Standardsprache.<br />

29 Patrick Bahners, Behaltet den Dieb. Männlichkeitswahn: In sprachpolitischem<br />

Eifer produziert der Duden falsche Definitionen, FAZ vom 12.1.2021.<br />

Das Virus der Identitätspolitik 23


etwas nicht kitschig Rosa- oder Pinkfarbenes zu kaufen. Auch<br />

führt offenbar keine Form der „Sprachverbesserung“ dazu, <strong>das</strong>s<br />

mehr junge Frauen MINT-Fächer oder Ingenieurswissenschaften<br />

studieren.<br />

Und wenn es um Studienangelegenheiten geht, sind Studenten,<br />

Studentinnen und Personen uneindeutigen Geschlechts<br />

gleichermaßen betroffen. Warum sollte man hier von vornherein<br />

auf <strong>das</strong> Geschlecht abheben? Früher vertrat ein „Studentenrat“<br />

alle, heute meint man, nur der Student_innenRat oder<br />

Student*innenRat (hässlich abgekürzt StuRa) könne <strong>das</strong>. Warum<br />

sich jedoch Menschen uneindeutigen Geschlechts ausgerechnet<br />

in einem Gap (Spalt, Lücke, Kluft) oder einem Stern<br />

(dem lebensfeindlichen Kosmos des unendlichen Nichts) wiederfinden<br />

sollten, erschließt sich logisch nicht. Der neueste Hype<br />

ist darum der Doppelpunkt – also der Student:innenRat. 30 Ach<br />

ja, der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Oder doch? Wieso<br />

ist noch niemand auf <strong>das</strong> Sigma verfallen? Student∑innenRat –<br />

als Summe aller Geschlechter. Das wäre es doch, oder? Falls man<br />

<strong>das</strong> Sigma leichter auf der Tastatur fände und mathematische<br />

Grundzeichen kennte. – An dieser Stelle muss ge<strong>war</strong>nt werden:<br />

Achtung Humor! Den muss man heute ausdrücklich kenntlich<br />

machen. Darum hat die New York Times seit einiger Zeit Karikaturen<br />

aus ihrem Programm gestrichen. Zu gefährlich! 31<br />

30 Derlei soll integrativ alle möglichen weiteren Differenzierungen mit abdecken<br />

– und zugleich signalisieren, <strong>das</strong>s man sensibel für die Anliegen anderer<br />

ist. Doch wieso ist <strong>das</strong> im StuRa und in deutschen Amtsstuben keine Selbstverständlichkeit?<br />

31 Aber nicht nur Karikaturen werden zunehmend problematisch, der ganze<br />

Kabarettbereich ist betroffen. Der Satiriker Serdar Somuncu sagt: „Freiheit ist<br />

inzwischen auch auf der Bühne nicht mehr gegeben … Das Verständnis von<br />

Sprache, von Kunst hat sich sehr verändert. Dinge, die man sagt, werden nicht<br />

mehr im Kontext der Bühne wahrgenommen, sondern immer auch verwechselt<br />

mit einer privaten Aussage.“ … „Wenn jeder anfängt, sich auf seine Identität<br />

zu berufen, und damit definiert, was man sagen darf und was nicht, werden wir<br />

ein Volk von 82 Millionen Beleidigten. Dann gibt es nur noch Restriktion. Ein-<br />

24 Annette Weidhas


In der irrigen Ansicht, sexualisierte Sprache führe automatisch<br />

zu (noch) mehr Gleichberechtigung, haben inzwischen<br />

öffentlich-rechtliche Rundfunk- und Fernsehsender <strong>das</strong> abgehackte<br />

Pausensprechen (den sog. Glottisschlag) übernommen.<br />

Auch meine Lieblingsnachrichtensprecherin Petra Gerster<br />

meint, damit ein Signal setzen zu müssen. Sie selbst habe lange<br />

nichts davon gehalten, durch Sprache Gerechtigkeit „herbeireden<br />

zu wollen“. Jahrzehntelang habe sie sich für Gleichberechtigung<br />

von Frauen eingesetzt, „40 Jahre lang habe sie gedacht, es<br />

gehe voran“, aber dann gemerkt: „Das stimmt gar nicht.“ 32 Was<br />

soll man dazu sagen? Längst suchen doch Politik, Wirtschaft,<br />

Kirche händeringend Frauen für Leitungspositionen. Es finden<br />

sich aber überall zu wenige. Ein Bundestagsmandat, ein Bischofsamt<br />

oder ein Betriebsleiterposten auf Teilzeitbasis mit ausgeglichener<br />

Work-Life-Balance wird es nicht geben können. Auch<br />

mich enttäuscht <strong>das</strong>, andererseits verstehe ich die Frauen. Gersters<br />

Argumentation ist ein Paradebeispiel für die verkehrende<br />

Logik, die hier ins Werk gesetzt wird. Nach 40 Jahren nur bedingt<br />

erfolgreichen Bemühens müsste man sich eigentlich fragen,<br />

ob <strong>das</strong> Ziel realistisch ist. Auch Richard David Precht meint,<br />

<strong>das</strong>s man mit dem Gendern auf <strong>das</strong> falsche Pferd gesetzt hat und<br />

versucht, „einen toten Gaul durch <strong>das</strong> Ziel zu reiten“. 33 Extrem<br />

kritisch äußert sich auch Elke Heidenreich.<br />

Trotzdem gilt offenbar: Da <strong>das</strong> Gendern bisher nicht geholfen<br />

hat, müssen wir noch mehr gendern. Tapfer wird behauptet,<br />

psychologische Studien belegten, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> generische Maskulinum<br />

generell die Assoziation „Männer“ auslöse. Und weil die<br />

Frauen sprachlich unsichtbar seien, machten sie sich in der Gegeschränkte<br />

Kunst ist schlechte Kunst.“ Vgl. <strong>das</strong> LVZ-Interview mit Somuncu<br />

vom 26.3.2021.<br />

32 Ist <strong>das</strong> * jetzt Deutsch? Von Felix Bohr/Lisa Duhm/Silke Fokken/Dietmar<br />

Pieper, DER SPIEGEL, Nr. 10, 6.3.2021, 14.<br />

33 Richard David Precht, „Dass ich Nationalsozialist*innen sage, macht aus<br />

mir keinen besseren Menschen“, WELTplus vom 1.4.2021.<br />

Das Virus der Identitätspolitik 25


sellschaft zu wenig sichtbar bzw. würden von den Männern<br />

nicht als gleichberechtigt wahrgenommen. Wirklich? Oder<br />

kommt es doch einfach auf den Kontext und die reale Erfahrung<br />

an? Ich jedenfalls sehe bei der Pluralform „Lehrer“ Frauen vor<br />

mir, vermutlich, weil die meisten Lehrer, die ich kenne, Frauen<br />

sind. Und wenn wir in der Zeitung lesen, die Zuschauer hätten<br />

bei einem Konzert frenetisch geklatscht – glaubt dann irgendwer,<br />

Frauen hätten dort keinen Zutritt gehabt? Wenn ich zum<br />

Bäcker oder Fleischer gehe, gehe ich in ein Geschäft und er<strong>war</strong>te<br />

dort erfahrungsgemäß bevorzugt Verkäuferinnen. Sprachtheoretisch<br />

hängt <strong>das</strong> damit zusammen, <strong>das</strong>s im Deutschen <strong>das</strong> Femininum<br />

bei Personenbezeichnungen z<strong>war</strong> Frauen bezeichnet, <strong>das</strong><br />

Maskulinum aber die Möglichkeit sexusunabhängiger Verwendung<br />

hat. Der Linguist Roman Jakobson hat dazu die sogenannte<br />

Markiertheitstheorie entwickelt und gezeigt, „<strong>das</strong>s wir in natürlichen<br />

Sprachen keine gleichgeordneten Kategorien haben,<br />

sondern immer so etwas wie einen unspezifischen Hintergrund<br />

und ein Bild. Das Femininum ist <strong>das</strong> Bild, es ist markiert, es bezieht<br />

sich immer auf Frauen. Das Maskulinum bezieht sich dagegen<br />

nicht immer auf Männer.“ 34 Genderprotagonisten scheuen<br />

bzw. beschweigen die Markierungstheorie und richten ihre Tests<br />

kontextunabhängig aus, weshalb man sich über die Ergebnisse<br />

(Lehrer impliziert Mann) nicht wundern muss. Sie bezeichnen<br />

ihre Studien gern als „wissenschaftlich“, auch wenn es sich bei<br />

genauer Betrachtung eher um Kampfschriften handelt. Zudem<br />

weisen sie gern darauf hin, <strong>das</strong>s Sprache immer im Fluss ist –<br />

und sie sich nun eben hin zur „Gendergerechtigkeit“ entwickle.<br />

Es gibt jedoch „keine geschlechtergerechte Sprache. Es gibt über-<br />

34 Peter Eisenberg, Die Genderfraktion verachtet die deutsche Sprache, Berliner<br />

Zeitung vom 14.5.2021, 14; auch: https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/debatte/geschlechtergerechte-sprache-peter-eisenberg-diegenderfraktion-verachtet-die-deutsche-sprache-li.158487,<br />

12.5.2921. Man lese<br />

vor allen auch: Olav Hackstein, Gramatik im Fegefeuer, FAZ vom 18.10.2021.<br />

Zu Recht hebt er darauf ab, <strong>das</strong>s nicht <strong>das</strong> Sprachsystem, die Grammatik,<br />

diskriminiert, sondern die Spachverwandlung.<br />

26 Annette Weidhas


haupt keine gerechte Sprache. Es steht uns aber frei, die vorhandene<br />

Sprache gerecht zu verwenden.“ 35 <br />

Laut einer YouGov-Umfrage glauben nur 14 % der Befragten,<br />

<strong>das</strong>s sich Gleichberechtigung in der Sprache (ausdrücklich) zeigen<br />

müsse. 36 Hier hat sich nichts entwickelt, hier wurden – sehr<br />

lange für die Normalbevölkerung im Verborgenen – von einer<br />

kleinen „Elite“ an den Universitäten und in einigen kommunalen<br />

Amtstuben schlicht Vorschriften dekretiert. 37 Inzwischen ist<br />

man vorsichtiger geworden, man „verordnet“ zumeist nicht<br />

mehr, sondern „empfiehlt“. Nur: Muss nicht jeder, der der „Empfehlung“<br />

nicht folgt, mit – unausgesprochenen – Konsequenzen<br />

rechnen? Die Tatsache, <strong>das</strong>s der Empfehlung offizieller Stellen,<br />

die meist auch Arbeitgeber sind, fast immer entsprochen wird,<br />

obwohl die Statistiken eine sehr überwiegende Ablehnung des<br />

Genderns ausweisen, legt <strong>das</strong> nahe. Mit freiem demokratischen<br />

Wandel haben solche Eingriffe von oben in etwas so Zentrales<br />

wie die Sprache nichts zu tun. Birgit Kelle fragt: „Wer hat beispielsweise<br />

einzelnen Professoren, Bürgermeistern oder auch<br />

Behörden die Kompetenz überschrieben, die Muttersprache ei-<br />

35 Ingo Meyer, Das Märchen vom Gendersterntaler, Berliner Zeitung vom<br />

15.5.2021, 12.<br />

36 A. a. O., 11 f.<br />

37 Die Universität Kassel dekretiert: „<strong>Im</strong> Sinne der Lehrfreiheit steht es Lehrenden<br />

grundsätzlich frei, die Verwendung geschlechtergerechter Sprache als<br />

ein Kriterium bei der Bewertung von Prüfungsleistungen heranzuziehen.“ Laut<br />

Sylke Ernst, Leiterin der Stabsstelle Gleichberechtigung, können „Lehrende<br />

zum Beispiel in Hausarbeiten Punkte abziehen und so eine schlechtere Note<br />

geben, wenn die Geschlechtsbezeichnungen nicht korrekt sind“. Dies müsse<br />

aber angekündigt und begründet werden. Lehramtsstudent Lukas Honemann,<br />

der für den Ring Christlich-Demokratischer Studenten im Studentenparlament<br />

sitzt, klagt, <strong>das</strong>s etwa in den Gesellschaftswissenschaften Gendersprache verpflichtend<br />

sei. Bisweilen hat der 20-Jährige den Eindruck, <strong>das</strong>s „die Leute auf<br />

eine Linie eingeschossen werden“. Honemann findet, <strong>das</strong>s Gendern freiwillig<br />

sein sollte: „Politische Akte dürfen nicht benotet werden.“ (HNA vom 29.3.2021,<br />

https://www.hna.de/kassel/bestrafung-fuer-korrekte-sprache-90265076.<br />

html?cmp=defrss)<br />

Das Virus der Identitätspolitik 27


nes ganzen Kultur- und Sprachraums handstreichartig und wie<br />

Territorialfürsten mit neuen Regeln, Schreibweisen und Schreibverboten<br />

zu belegen?“ 38 Die Hauptfrage allerdings ist: Was nützt<br />

es? Hamed Abdel-Samad geht zu Recht davon aus, <strong>das</strong>s nur Haltung<br />

– ich würde sagen die Verhältnisse – langfristig Sprache<br />

verändert, nicht umgekehrt. 39 Vermutlich muss man darum<br />

besser fragen: Wem nützen Gendervorschriften bzw. -empfehlungen?<br />

Der Historiker Andreas Rödder gibt darauf eine klare<br />

Antwort, indem er hier den „klassischen Fall eines Kampfes um<br />

kulturelle Hegemonie“ sieht. 40 Seit <strong>Anfang</strong> des Jahres 2021 bewegt<br />

sich die Debatte stark, kaum ein Tag vergeht, an dem nicht<br />

Artikel überregionaler und auch regionaler Zeitungen oder Bücher<br />

<strong>das</strong> Problem sich zuspitzender Identitätspolitik thematisieren<br />

und auf die unguten ideologischen Folgeprobleme hinweisen.<br />

2. Das Umschlagen des Bemühens um<br />

Gendergerechtigkeit in Ideologie<br />

Mittlerweile gendern sogar Dax-Konzerne wie Audi in der VW-<br />

Familie. – Allerdings hat inzwischen ein VW-Mitarbeiter Klage<br />

gegen den Genderzwang seines Betriebs eingereicht und ähnliche<br />

Prozesse sind in Vorbereitung. – Das zeigt, wie weit auch in<br />

den Marketingabteilungen großer Konzerne ein pseudoelitärer<br />

Ideologisierungsprozess vorangeschritten ist, dessen Vertreter<br />

und Vertreterinnen sich auf der richtigen Seite der Geschichte wähnen<br />

und glauben, so junge Käufer binden zu können. Den Jüngeren<br />

kann man hier nur zur Vorsicht raten. Natürlich müssen sie<br />

die Welt anders sehen und gestalten als ihre Eltern. Aber dabei<br />

38 Birgit Kelle, Noch Normal? Das lässt sich gendern! 2. Aufl. München 2020.<br />

39 Hamed Abdel-Samad, Schlacht der Identitäten, 20 Thesen zum Rassismus –<br />

und wie wir ihm die Macht nehmen, München 2021, 99 ff.<br />

40 Andreas Rödder, Wie die Mehrheit spricht, WELT am Sonntag vom<br />

6.6.2021, FORUM 11.<br />

28 Annette Weidhas


sollte gelten, alles zu prüfen und <strong>das</strong> Gute zu behalten. Jugendbewegungen<br />

haben nicht per se recht. Die Kriegsbegeisterung vor<br />

dem 1. Weltkrieg, Faschismus und Kommunismus wurden zu<br />

einem guten Teil von Jugendbewegungen getragen, missbrauchend<br />

kuratiert durch Ältere. Und alle fühlten sich moralisch im<br />

Recht. Was fehlte, <strong>war</strong>en Risiko- und Handlungsfolgenabschätzungen.<br />

Die fehlen auch heute, insbesondere was die Konsequenzen<br />

der Sexualisierung unserer Sprache anbelangt.<br />

Die jüdische Schriftstellerin Nele Pollatschek beklagt dies<br />

ausdrücklich und bezeichnet <strong>das</strong> Gendern gar als sexis tische<br />

Praxis, „deren Ziel es ist, Sexismus zu bekämpfen“. 41 Wie kommt<br />

Pollatschek zu ihrem Urteil? Das inklusive Maskulinum vermeidet<br />

die Geschlechtsbenennung um der Gleichheit willen,<br />

während die sogenannte geschlechtergerechte Sprache <strong>das</strong> Geschlecht<br />

aus demselben Grund betont. Aber kann man Gleichheit<br />

herstellen, indem man Ungleichheit hervorhebt? Irgendwie<br />

scheint dieses Problem auch Teilen der Genderszene bewusst<br />

geworden zu sein: Neuerdings soll generell auf Bezeichnungen<br />

wie Mann und Frau verzichtet werden. Die Besetzer des Dannenröder<br />

Forstes beispielsweise nannten sich nur noch „<strong>das</strong> Mensch“<br />

und sprachen von „den Bürgis“ statt von Bürgerinnen und Bürgern.<br />

Nur ungewollte Realsatire extremistischer Randgruppen?<br />

Nein. Ein Teil der Gendertheoretiker verneint generell, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />

Geschlecht biologisch festgelegt ist. An einer australischen Universität<br />

sollen darum die <strong>Wort</strong>e „Mutter“ und „Vater“ nicht mehr<br />

verwendet werden. Stattdessen solle man – so der Vorschlag zu<br />

einer gender-integrativen Lehre – von „austragendem Elternteil“<br />

41 Nele Pollatschek, Der Weg zur Gleichheit ist Gleichheit. Warum Gendern<br />

leider nicht funktioniert, sondern alles nur schlimmer macht, Tagesspiegel vom<br />

30.8.2020, 19. „Diese Information [die über <strong>das</strong> Geschlecht] ist so wichtig, <strong>das</strong>s<br />

sie immer mitgesagt werden muss. Und wir sagen: Nur diese Information muss<br />

immer mitgesagt werden. Es ist richtig, auf alle anderen Identitätskategorien<br />

nur dann zu verweisen, wenn sie relevant sind, nur <strong>das</strong> Geschlecht wird immer<br />

angezeigt, damit machen wir es zur wichtigsten Identitätskategorie.“ Und genau<br />

<strong>das</strong> ist hochproblematisch!<br />

Das Virus der Identitätspolitik 29


und „nicht-gebärendem Elternteil“ sprechen und von „Elternmilch“<br />

statt von „Muttermilch“, berichtet stern.de. In einem<br />

Handbuch werden zudem die Dozenten aufgefordert, sich zu<br />

korrigieren, falls sie versehentlich falsche Begriffe benutzen. Offizielle<br />

Vorgabe der Universität sei dies jedoch nicht, <strong>das</strong> Handbuch<br />

sei ganz im Rahmen akademischer Freiheit erstellt worden.<br />

42 So hat es mit dem Gendern auch angefangen – in aller<br />

akademischen Freiheit.<br />

Wie schon beim Umschlagen Marx’schen Denkens in Lenins<br />

Politik und Stalins Totalitarismus setzen Ideologien in der Regel<br />

bei einem wirklichen Problem an, verabsolutieren es dann aber<br />

und ziehen falsche Konsequenzen. Das ist der Duktus des Offenen<br />

Briefes „Widerstand darf kein Dogma werden“, den 153 Intellektuelle<br />

in den USA <strong>Anfang</strong> Juli 2020 veröffentlicht haben, oder<br />

auch des deutschen „Appell für freie Debattenräume“. Denn inzwischen<br />

macht sich auch in Deutschland die sogenannte Cancel<br />

Culture an den Universitäten breit. 43 Haben linke Aktivisten<br />

einen Redner mit ihnen nicht genehmen Ansichten ausgemacht,<br />

wird versucht, ihn am Reden zu hindern. Um des freien wissenschaftlichen<br />

Diskurses willen hat sich darum <strong>Anfang</strong> dieses Jahres<br />

<strong>das</strong> „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ gegründet, <strong>das</strong> erfreulich<br />

schnell wächst. 44 Und die Publizistin Rebecca Niazi-Shahabi<br />

schreibt im kürzlich erschienenen „Manifest der offenen Gesell-<br />

42 FOCUS online vom 17.2.2021, https://www.focus.de/politik/ausland/gender-vorschlag-in-australien-muetter-sollen-an-universitaet-jetzt-austragendes-elternteil-heissen_id_12992115.html.<br />

43 Man lese Barbara Zehnpfennig, Worüber man nicht spricht, FAZ.net vom<br />

5.5.2021 (https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/cancel-culture-anuniversitaeten-die-spitze-der-intoleranz-17324287.html?premium).<br />

44 Inzwischen hat sich sogar ein „progressives“ Gegennetzwerk gegründet, <strong>das</strong><br />

unter Wissenschaftsfreiheit „solidarische Praxis“ und „Arbeit an Diskriminierungszusammenhängen“<br />

versteht, damit aber ein „subjektives Werturteil“ zur<br />

„objektiven Wahrheit“ erklärt und damit bewusst oder unbewusst eine Politisierung<br />

von Wissenschaft vorantreibt (vgl. Hannah Bethge, Wie Identitätspolitik<br />

die Wissenschaftsfreiheit bedroht, NZZ vom 20.7.2021).<br />

30 Annette Weidhas


schaft“, dem es vor allem um die Freiheit von Kunst und Kultur<br />

geht: „Denn <strong>das</strong> Schlimme am Totalitarismus ist ja nicht, <strong>das</strong>s<br />

Böse Böses vorhaben, sondern <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Gutgemeinte maßlos<br />

ausgedehnt wird, bis es schließlich alles andere in der Gesellschaft<br />

verschlingt. Der oder die ‚total Gute‘ ist auch deswegen so<br />

gefährlich, weil die total Guten bis zum letzten Moment glauben,<br />

sie seien auf der richtigen Seite.“ 45<br />

Der Germanist Rainer Moritz ist der Auffassung, <strong>das</strong>s die<br />

Gewissheit, recht zu haben, längst unsere gesamte Gesellschaft<br />

erfasst hat. Diese Gewissheit finde sich nicht nur bei den neuen<br />

Rechten, sondern sei auch in linksidentitären Kreisen fest etabliert.<br />

Und wer sich im Besitz des „richtigen“ Bewusstseins wähne,<br />

scheue sich nicht, „seine Überzeugungen rigoros durchzusetzen“.<br />

Es ist schon sonderbar: Während sich <strong>das</strong> europäische<br />

Christentum weithin von einem exklusiven Wahrheitsanspruch<br />

verabschiedet, taucht er seit Beginn des 20. Jahrhunderts in rechten<br />

und linken Ideologien umso stärker säkular gewendet auf,<br />

und beide befeuern einander. Nach Moritz ist es nicht verwunderlich,<br />

„<strong>das</strong>s exzessives Gendern Wasser auf die rechten Gesinnungsmühlen<br />

lenkt. Wer gegen eine Überfremdung unserer<br />

Gesellschaft wettert, glaubt an die ‚Reinheit‘ der deutschen Sprache,<br />

meint mit Goethe und Luther in einem Boot zu sitzen,<br />

<strong>war</strong>nt vor ‚Genderwahn‘ und ‚widernatürlichen‘ Einflüssen. Diejenigen,<br />

die ‚lieb und links‘ sein wollen, sorgen so unwillkürlich<br />

für Zulauf bei der Rechten.“ 46 Allerdings wirbt Moritz für Gelassenheit,<br />

denn <strong>das</strong> Gendern sei nicht sprachökonomisch. Er<br />

schreibt: „Eine ‚erfundene‘ <strong>Wort</strong>bildungsform, die nicht aus dem<br />

Sprechen im Alltag erwachsen ist, hat keine Zukunft. Wenn, so<br />

die Linguistin Ewa Trutkowski, die ‚Vermeidung unnötiger Komplexität‘<br />

eine der ‚Haupttriebfedern für Sprachwandel‘ darstellt,<br />

45 Rebecca Niazi-Shahabi, Das Manifest der offenen Gesellschaft, Die WELT,<br />

vom 25.3.2021, https://f-origin.hypotheses.org/wp-content/blogs.dir/3830/files/<br />

2021/03/Welt.pdf).<br />

46 Rainer Moritz, Stimmt’s, oder hab ich recht? FAZ vom 12.4.2021.<br />

Das Virus der Identitätspolitik 31


darf man auf den Lauf der Zeit bauen.“ 47 Sicher ist <strong>das</strong> allerdings<br />

nicht, jedenfalls nicht kurz- oder mittelfristig.<br />

Wie immer unnachahmlich bringt Harald Martenstein die<br />

neue Ideologie auf den Punkt: „Die Ideologien mit Allmachtsanspruch<br />

hießen bisher religiöser Fundamentalismus, Kommunismus<br />

und Nationalismus, gepaart mit Rassismus. Der identitäre<br />

Aktivismus ist nun <strong>das</strong> vierte, neueste Angebot in diesem Marktsegment.<br />

Was haben alle vier gemeinsam? Sie sind Menschensortierer.<br />

Sie sehen nicht den Einzelnen, sie denken in Gruppen.<br />

Wir und die. Die Gläubigen und die Ungläubigen. Die Partei und<br />

die Feinde der Partei. Unser Volk und die anderen, Minderwertigen.<br />

Jetzt also: die Diskriminierten und die Privilegierten.“ 48<br />

Sahra Wagenknecht hält in ihrer Streitschrift „Die Selbstgerechten“<br />

die Mehrheit der identitätspolitisch argumentierenden Linken<br />

selbst für privilegiert. Sie bezeichnet diese Gruppe als „Lifestyle-Linke“,<br />

die „Autonomie und Selbstverwirklichung mehr<br />

als Tradition und Gemeinschaft“ schätzten. 49 Ihr fehlt bei diesen<br />

„neuen Linken“ <strong>das</strong> kommunitaristische Denken. Die Achtundsechziger<br />

und ihre Epigonen seien weithin „wohlhabende Bürgerkinder“,<br />

denen „Haltung“ wichtiger sei als soziale Gerechtigkeit.<br />

In einem NZZ-Interview sagt sie: „Wer Identitätspolitik<br />

betreibt, kämpft nicht für Minderheitenrechte im Sinne von<br />

Gleichberechtigung. Natürlich darf niemand aufgrund seiner<br />

Herkunft, seiner Religion oder seiner sexuellen Orientierung<br />

benachteiligt werden, <strong>das</strong> ist eine Selbstverständlichkeit. Aber<br />

die Identitätspolitik will nicht Gleichheit, sondern Ungleichheit,<br />

47 Ebd.<br />

48 Harald Martenstein, Der Fluch des Aktivismus: Identitätspolitik ist Ideologie,<br />

Der Tagesspiegel vom 13.3.2021 (https://plus.tagesspiegel.de/politik/derfluch-des-aktivismus-identitaetspolitik-ist-ideologie-116342.html).<br />

49 Sahra Wagenknecht, Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn<br />

und Zusammenhalt, Köln 2021, 26. Wagenknecht hat sich mit ihrem<br />

Buch erheblichen Ärger bei Parteifreunden eingehandelt, man wirft ihr die<br />

Leugnung von Rassismus vor (Boris Herrmann, Wer ist hier bitte links?, SZ<br />

vom 12.4.2021), was sie natürlich keineswegs tut.<br />

32 Annette Weidhas


sie bläst die Unterschiede zwischen Ethnien oder sexuellen Orientierungen<br />

zu bombastischen Gegensätzen auf.“ 50<br />

Der Schriftsteller Matthias Politycki verlässt nun sogar<br />

Deutschland und zieht nach Wien, weil „Deutsch sein heißt, eine<br />

Sache um ihrer selbst willen so gründlich zu betreiben, bis alle<br />

schlechte Laune haben“. In der Tat. Nur bleibt es inzwischen,<br />

nachdem die Normalbevölkerung langsam mitbekommt, was<br />

passiert, dabei nicht. Veritabler Zorn etabliert sich. U. a. dank<br />

Deutscher Bahn und Lufthansa, die nicht mehr die „Damen und<br />

Herren“ begrüßen, sondern mit „Liebe Gäste“ punkten wollen,<br />

was mindestens bei der DB einem Euphemismus gleichkommt.<br />

Politycki beschreibt seine Schlüssellektüre, die ihn zum Gehen<br />

bewog, so: „Und eines Tages <strong>war</strong> es dann soweit. Über die<br />

‚Bürger*innenmeister*innen‘ hatte ich noch den Kopf geschüttelt,<br />

die Entdeckung der versteckten weißen Vorherrschaft, die in<br />

der Gleichung 2 + 2 = 4 steckt, als Zeitungsente abtun wollen.<br />

Dann las ich <strong>das</strong> Editorial eines Newsletters, in dem die Rückkehr<br />

der ‚Störchinnen und Störche‘ aus dem Winterquartier vermeldet<br />

wurde. Reflexhaft fragte ich mich: Und was ist mit<br />

Fröschinnen und Fröschen, Krötinnen und Kröten und all den<br />

andern Tierinnen und Tieren? Machen sie sich nicht auch in diesen<br />

vorfrühlingshaft milden Tagen auf den Weg? Und müßten<br />

sie also nicht ebenfalls Erwähnung finden, um der bunten Vielfalt<br />

gerecht zu werden […] ?“ 51<br />

Selbst bei den Grünen formiert sich inzwischen Widerstand.<br />

In einem Positionspapier „sprechen sich rund 90 Kommunalpo-<br />

50 Sahra Wagenknecht, Interview mit Hansjörg Friedrich Müller zu ihrem<br />

Buch „Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt“,<br />

NZZ vom 14.04.2021. Auch <strong>Thomas</strong> Thiel sieht die Pointe von<br />

Wagenknechts Buch im Nachweis, <strong>das</strong>s Identitätspolitik dem linksliberalen Milieu<br />

„materiell nutzt und den kulturellen Minderheiten, die es moralisch mandatiert,<br />

schadet“ (<strong>Thomas</strong> Thiel, Knallhart kultursensibel, FAZ vom 5.5.2021).<br />

Sehr lesenswert ist auch: Michael Bröning, Vom Ende der Freiheit. Wie ein gesellschaftliches<br />

Ideal aufs Spiel gesetzt wird, Bonn 2021.<br />

51 Matthias Politycki, Mein Abschied von Deutschland, FAZ vom 17.7.2021.<br />

Das Virus der Identitätspolitik 33


litiker, aktuelle und ehemalige Mandatsträger sowie den Grünen<br />

Nahestehende für ökologische und soziale Veränderungen ‚ohne<br />

identitären Fundamentalismus‘ aus“. 52 Darauf rekurriert auch<br />

Boris Palmer, der sich einem Parteiausschlussverfahren stellen<br />

muss, weil er auf die Absurdität so mancher Rassismusvorwürfe,<br />

durch die irgendein Gegner moralisch diskreditiert und<br />

ausgeschaltet werde soll, aufmerksam gemacht hat – leider recht<br />

missverständlich und im Gossenslang. Selbst in der taz weiß<br />

man jetzt, <strong>das</strong>s der „bürokratische Umgang mit der Sprache<br />

beim Thema Gendern“ Unbehagen erzeugt, und ist verwundert<br />

darüber, „wie bedenkenlos sich angeblich progressive Institutionen<br />

hier einreihen“. Denn „der Widerstand gegen <strong>das</strong> Gendern<br />

richtet sich gegen die aufgezwungene Sprachpolitik und ist nicht<br />

gleichzusetzen mit der Ablehnung von Diversität, Gleichstellung<br />

und Diskriminierungsfreiheit“. 53 Tröstlicherweise schrieb<br />

schon im Herbst 2020 die Journalistin Düzen Tekkal zusammen<br />

mit Bundesminister Jens Spahn in der FAZ: „Wir sind überzeugt:<br />

Eine Gesellschaft, die ihre Bürgerinnen und Bürger nach Alter,<br />

Geschlecht, Sexualität, Herkunft, Hautfarbe oder Religion, kurzum:<br />

nach Identitäten unterteilt, wird im 21. Jahrhundert erfolglos<br />

sein.“ Friedrich Merz will gar nach französischem Vorbild die<br />

Gendersprache in amtlichen Veröffentlichungen untersagen, da<br />

die allerüberwiegende Mehrheit der Bevölkerung eindeutig dagegen<br />

ist. 54 Das Problem scheint erkannt.<br />

Allerdings hindert <strong>das</strong> so manchen nicht, die benannten<br />

Probleme zu verharmlosen oder Personen, die sie ansprechen,<br />

als neurechts zu diffamieren. 55 Und vor allem die Genderideolo-<br />

52 Sabine Menkens, Grüner Widerstand gegen „identitären Fundamentalismus“,<br />

DIE WELT vom 19.4.2021.<br />

53 Symbolkämpfe in der Sackgasse, taz vom 3.7.2021 (https://taz.de/Gendernals-Ausschlusskriterium/!5782080/).<br />

54 Interview mit Friedrich Merz, SPIEGEL+ vom 22.4.2021.<br />

55 Jasper von Altenbockum, FAZ vom 1.9.2021, Rezension zu: Henning Lobin,<br />

Sprachkampf. Wie die Neue Rechte die deutsche Sprache instrumentalisiert,<br />

Berlin 2021: „Wo immer Lobin kann, stellt er eine Verbindung her zwischen Kri-<br />

34 Annette Weidhas


gie wird weiter gepuscht. Inzwischen kann nicht mehr – wie<br />

lange üblich – geleugnet werden, <strong>das</strong>s an Universitäten sowie<br />

kommunalen, staatlichen und kirchlichen Einrichtungen Gendersprache<br />

durchgesetzt werden soll. Alexander Kissler hält den<br />

verpflichtenden Leitfaden für die Beschäftigten der Stadt Bonn<br />

für den bisherigen „Höhepunkt sprachpolitischer Umerziehungsmaßnahmen“<br />

und ist zu Recht der Ansicht: „Wer von der<br />

Allgemeinheit finanziert wird und in deren Interesse zu handeln<br />

vorgibt, darf sein allgemeines Mandat nicht für weltanschauliche<br />

Partikularinteressen zweckentfremden.“ 56 Leider trauen sich<br />

die wenigsten, öffentlich zu widersprechen. Das ist normal, so<br />

ist der Mensch. Umso demokratiegefährdender ist es, wenn Institutionen<br />

<strong>das</strong> – in falscher guter Absicht – ausnutzen. <strong>Im</strong> Juni<br />

2021 <strong>war</strong>en gerade noch 45 % der Befragten in einer Erhebung<br />

des Instituts für Demoskopie Allensbach der Ansicht, „man<br />

könne seine Meinung frei sagen, praktisch gleich viele, 44 %<br />

widersprachen“. 57 Doch immerhin, auch hier regt sich nun Widerspruch,<br />

zum Beispiel an der Universität Kassel. 58<br />

In den USA lässt der Widerstand gegen die linksidentitären<br />

Auswüchse – mindestens an oberster Stelle – noch auf sich <strong>war</strong>ten.<br />

In einer seiner ersten Amtshandlungen dekretierte Joe Biden,<br />

<strong>das</strong>s künftig Jungen und Männer an Sportwettbewerben<br />

tikern der Rechtschreibreform, der Gendersprache oder ‚politischer Korrektheit‘<br />

und ‚neurechten‘ bis rechtsextremistischen Kreisen – inklusive natürlich<br />

der Rückverfolgung entsprechender Versatzstücke in die Zeit des Nationalsozialismus.<br />

Zum schulmeisterlichen Stilgefühl Lobins gehört es außerdem, bei<br />

den Leuten, die sich nicht so einfach in die braune Soße tunken lassen, wenigstens<br />

darauf hinzuweisen, wie hochbetagt oder schon emeritiert sie seien<br />

(sprich: alte weiße Männer) oder, wie im Falle Monika Marons, ‚nicht gerade<br />

für Differenziertheit‘ bekannt.“<br />

56 Alexander Kissler, Der Zwang zum Gendern schadet allen, NZZ online vom<br />

14.7.2021 (https://www.nzz.ch/meinung/der-andere-blick/gendern-schadetallen-nicht-nur-der-sprache-ld.1635614).<br />

57 <strong>Thomas</strong> Petersen, Eine Mehrheit fühlt sich gegängelt, FAZ vom 16.6.2021.<br />

58 Ricarda Breyton/Nikolaus Doll, Jetzt formiert sich Widerstand gegen Gendern<br />

und Cancel Culture, WELTplus vom 13.4.2021.<br />

Das Virus der Identitätspolitik 35


von Mädchen und Frauen teilnehmen können, wenn sie behaupten,<br />

ihr Geschlecht sei weiblich. Schulen, die Bundesmittel erhalten,<br />

müssen <strong>das</strong> akzeptieren. So wird er die amerikanische Gesellschaft<br />

nicht befrieden können. 59 Aber auch in Deutschland<br />

ist ein Gesetzesentwurf zum Geschlechterwechsel (gepuscht<br />

durch Grüne und FDP) in Arbeit, demzufolge jeder sein Geschlecht<br />

frei wählen können soll. 60 Nur gibt es dafür noch keine<br />

Maßgaben zu den Ausführungsbestimmungen, also dazu, was<br />

dies für Frauensport, Frauenhäuser, Frauenquoten, Toiletten,<br />

Umkleidekabinen, Krankenzimmer oder Gefängnisse usw. bedeuten<br />

soll. 61 Jetzt schon gibt es Beispiele junger Männer, die –<br />

um die Konsequenzen aufzuzeigen – als angebliche Frauen an<br />

weiblichen Sportwettkämpfen teilgenommen und aus dem<br />

Stand vordere Plätze belegt haben. Kein Wunder, <strong>das</strong>s die Frauenverbände<br />

Sturm gegen diese Gesetze laufen. An dieser Stelle<br />

der verschwindend kleinen, aber radikalen Transgenderlobby<br />

nachzugeben, ist schlicht frauenfeindlich.<br />

Ganz gefährlich wird es, wenn man Kindern ab 14 Jahren<br />

ohne Einwilligung der Eltern die Hormoneinnahme zur Vorbereitung<br />

eines Geschlechtswechsels freistellt. Dazu muss man<br />

wissen, <strong>das</strong>s etwa 75 % der Jugendlichen, die derlei anstreben,<br />

Mädchen sind. Dass Mädchen offenbar größere Probleme ha-<br />

59 Offenbar verstehen die US-Demokraten nicht, <strong>das</strong>s Trumps neuerlich –<br />

trotz seiner Niederlage – sehr gute Wahlergebnisse nicht zuletzt mit ihrer<br />

Identitätspolitik zu tun haben. Vgl. Harald Martenstein, Der Tagesspiegel vom<br />

7.11.2020.<br />

60 „Nach den deutschen Gesetzesentwürfen soll ein Kind mit vollendetem<br />

vierzehnten Lebensjahr, also noch vor dem Ende der Pubertät und des körperlichen<br />

Reifungsprozesses, selbst – ohne ärztliche Beratung und elterliche Einwilligung<br />

– über den hormonellen Geschlechtswechsel entscheiden. Dass es in<br />

der Lage ist, diese Entscheidung zu überblicken, bevor es die Gefühlswirren der<br />

Pubertät überwunden und den körperlichen Reifungsprozess abgeschlossen<br />

hat, wird von Medizinverbänden bezweifelt, zumal es darüber nicht mehr informiert<br />

werden muss.“ (<strong>Thomas</strong> Thiel, Die Überwindung des Fleisches, FAZ<br />

vom 29.1.2021)<br />

61 Vgl. FOCUS online vom 13.2.2021.<br />

36 Annette Weidhas


en, ihren Körper anzunehmen, als Jungen, zeigt sich schon lange,<br />

bei der Bulimiegefährdung sieht es ähnlich aus. Die Mädchen<br />

brauchen also Hilfe. Aber bitte nicht durch die Erlaubnis zur<br />

Geschlechtsumwandlung im Kindesalter. In Großbritannien<br />

<strong>war</strong> dies eine Weile lang erlaubt, inzwischen hat man <strong>das</strong> Gesetz<br />

dazu aufgrund hochproblematischer Erfahrungen zurückgenommen.<br />

Alice Sch<strong>war</strong>zer gibt in derselben Stoßrichtung zu<br />

bedenken, <strong>das</strong> von den geschätzten 0,03 % aller Menschen, die<br />

sich im falschen Geschlecht fühlen, acht von neun Betroffenen<br />

Mädchen oder Frauen sind, weil die Frauenrolle enger sei als die<br />

Männerrolle. Sch<strong>war</strong>zers Warnung ist ernst zu nehmen: „Doch<br />

diese biologisch weiblichen Menschen wollen aufgrund ihres<br />

berechtigten Unbehagens ihre Rolle nicht etwa erweitern oder<br />

gar sprengen, im Gegenteil: Sie wollen von einer Rolle bzw.<br />

Schublade in die andere wechseln. Raus aus den Schubladen<br />

sind sie deswegen dann noch lange nicht.“ 62<br />

Derlei muss unbedingt mitbedacht werden, wenn man den<br />

von der SPD forcierten Wunsch nach Verankerung von Kinderrechten<br />

in der Verfassung debattiert. Während hier eine Übersexualisierung<br />

Minderjähriger zum Ausdruck kommt, gibt es<br />

auch <strong>das</strong> Gegenteil: Der Autorin und Influencerin Teresa Bücker<br />

ist ein Kinderbuch des populären Autors Janosch zu heikel, weil<br />

dort der Frosch die Ente einfach so küsst. Ohne Einverständniserklärung.<br />

„Das kann nicht im Ernst eine Kindergeschichte sein,<br />

<strong>das</strong>s eine Figur an einer anderen, schweigenden Figur sexuelle<br />

Handlungen vornimmt.“ 63 Der richtige Umgang mit Sexualität<br />

<strong>war</strong> zu allen Zeiten eine Herausforderung. Heute stehen ihm Libertinität<br />

und Moralisierung entgegen.<br />

Aber auch ohne solche extremen Auswüchse ist die sexualisierte<br />

Genderideologie problematisch. Vom Grundsatz her. Die<br />

62 Alice Sch<strong>war</strong>zer, Sprechakte und Realität, EMMA vom 12.4.2021 (https://<br />

www.emma.de/artikel/koerperpolitik-338437?fbclid=IwAR2-7tVk2R4lcFScm<br />

QQYOUkkBx_7rcwDuUwCVbboyuSfNJXp87P5nR7hrNg).<br />

63 Berliner Zeitung von 27.3.2021.<br />

Das Virus der Identitätspolitik 37


mit ihr verbundene identitäre Festlegung von Frauen, Homo-,<br />

Trans- und Asexuellen auf einen Opferstatus behindert Gleichberechtigung,<br />

statt sie zu fördern, da sie freiheitlicher Selbstbestimmung<br />

der minderheitlichen Gruppen entgegensteht<br />

und die Angehörigen der sogenannten „Mehrheitsgesellschaft“<br />

automatisch in einen Täterstatus zwingt. Das hat die Mehrheitsgesellschaft<br />

verleitet (mich lange eingeschlossen), sich den Ideologemen<br />

einer lautstarken Minderheit zu öffnen. Denn wer will<br />

schon Täter sein? Inzwischen ist jedoch überdeutlich, <strong>das</strong>s diese<br />

Praxis unsere Gesellschaft in immer kleinere Gruppen spaltet<br />

und andere identitäre populistische Bewegungen befördert. Es<br />

geht, wie schon gesagt, nicht mehr um Rechtsgleichheit für Individuen,<br />

sondern um Sonderrechte für bestimmte Gruppen.<br />

Der ursprünglich beabsichtigte Gleichheits- und Gerechtigkeitsgewinn<br />

tritt nicht ein, dafür aber gerät die Freiheit in Gefahr.<br />

Francis Fukuyama schreibt in seinem 2019 erschienenen Buch<br />

Identität: „Die Tatsache, <strong>das</strong>s ich auf diese oder jene Weise geboren<br />

wurde, bedeutet nicht, <strong>das</strong>s ich auf diese oder jene Weise<br />

denken muss.“ 64 Und natürlich bedeutet die Tatsache, <strong>das</strong>s die<br />

halbe Menschheit als Frau geboren wurde und sich überwiegend<br />

mehrheitlich auch als Frau empfindet, nicht, <strong>das</strong>s ihr nicht bestimmte<br />

Charakteristika wie Durchsetzungsfähigkeit, Mut, Ehrgeiz<br />

usw. eigen sein können, die traditionell vor allem Männern<br />

zugeschrieben werden. Die Gendertheorie als Lehre vom „sozialen<br />

Geschlecht“ schreibt gerade solche einengenden Festlegungen<br />

fort. Wie kommen z. B. manche Transmänner auf die Idee,<br />

<strong>das</strong>s hochhackige Schuhe, auffällige Schminkerei usw. typisch<br />

weiblich seien, wo doch die übergroße Mehrheit der Frauen<br />

derlei vermissen lässt? Schreibt sich hier nicht ein männliches<br />

Wunschbild, dem allenfalls junge Frauen entsprechen, fort?<br />

Doch sei’s drum. Es wäre nicht schlimm, wenn diese Transmän-<br />

64 Francis Fukuyama, Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie<br />

gefährdet, Hamburg 2019, 149. Vgl. dazu die Rezension von Ingolf U. Dalferth<br />

in: ThLZ 144 (2019), 1236.<br />

38 Annette Weidhas


ner sich in erster Linie als Menschen begriffen (statt als weibliche<br />

Prototypen) – so, wie Frauen in ihrer übergroßen Mehrzahl in<br />

erster Linie als Menschen gesehen werden möchten. „Nicht alle<br />

Kämpfe von Minderheiten und unterdrückten Gruppen sind<br />

also per se fortschrittlich und emanzipatorisch. Das sind nur<br />

jene, die den Anspruch auf Rechte nicht im Namen der Besonderheiten<br />

der unterschiedlichen Gruppen erheben, sondern im<br />

Namen der gemeinsamen Zugehörigkeit zur Menschheit.“ 65<br />

In all dem spiegelt sich der bis in die 1980er Jahre zurückreichende<br />

politische Streit um die Frage wider, was entscheidender<br />

ist: die biologischen oder die gesellschaftlichen Tatsachen. Oft<br />

liegt die Antwort in der Mitte – wie im Hinblick auf Intelligenz.<br />

Das Geschlecht aber ist in der Regel biologisch klar festgelegt. 66<br />

Dass sich psychosoziale Zuschreibungen mischen können,<br />

Männer also angeblich weibliche Verhaltensweisen an den Tag<br />

legen und Frauen männliche, ändert daran nichts und ist kein<br />

Beweis gegen Bipolarität. Und nichts spricht dagegen, <strong>das</strong>s Menschen<br />

mit uneindeutiger Geschlechtsidentität sich ein „X“ als<br />

Geschlechtsangabe in den Ausweis eintragen lassen. Da <strong>das</strong> jedoch<br />

eher selten vorkommt und sich die Betroffenen zumeist im<br />

Jugend- und Erwachsenenalter biologisch und/oder mental auf<br />

Mann oder Frau festlegen, gibt es keinen Grund, die prinzipielle<br />

Bipolarität der Geschlechter anzuzweifeln. Die Schöpfungsgeschichte<br />

(„und er schuf sie als Mann und Frau“) muss nicht umgeschrieben<br />

werden, da Doppelgeschlechtlichkeit, Asexualität<br />

oder Transsexualität kein wirklich Drittes, Viertes, Fünftes usw.<br />

sind. Da man ständig „neue Geschlechter“ entdeckt, ist zu befürchten,<br />

<strong>das</strong>s es eines Tages ebenso viele Geschlechter wie Menschen<br />

gibt. Jeder ist unverwechselbar und von jedem anderen<br />

unterscheidbar. Aber gerade darum vergleichbar! Nur Unter-<br />

65 Cinzia Sciuto, Sie sind cisgender! FAZ vom 26.7.2021.<br />

66 Uwe Steinhoff, Die Transgender-Ideologie ist totalitär und frauenfeindlich,<br />

Cicero.de vom 30.5.2021 (https://www.cicero.de/kultur/kulturkampf-transgender-ideologie-totalitaer-cancel-culture?fbclid=IwAR0OLtHYs5nK1OqrYu0<br />

jEjQbce33D_QNKZEehLJyINj18_g0LM3kzxnkWY8).<br />

Das Virus der Identitätspolitik 39


schiedenes kann verglichen werden. Zu Diskriminierung dürfen<br />

Unterscheidungen aber natürlich nicht führen.<br />

Das lateinische discrimino bedeutet unterscheiden und absondern.<br />

Das Absondern ist zu bekämpfen, Unterscheiden aber lässt<br />

sich nicht verhindern – und ist die Voraussetzung für Toleranz.<br />

Ohne handhabbare, schnell verfügbare und zumeist zutreffende<br />

– und damit normierende – Unterscheidungen könnten wir<br />

nicht überleben, schon gar nicht in einer komplexen Umwelt.<br />

Mann/Frau ist eine solche orientierende Unterscheidung – und<br />

kein Ausdruck einer Theorie über die biologische Konstitution<br />

bestimmter Individuen. Es ist gerade die Übertheoretisierung<br />

der Fragestellung, die verdeckt, <strong>das</strong>s komplizierte Unterscheidungen<br />

mit vielen Alternativen in konkreten Lebenssituationen<br />

nicht mehr zur Orientierung taugen, sondern die offenkundige<br />

Realität verfehlen. Die Unterscheidung zwischen biologisch und<br />

kulturell determinierter Geschlechtlichkeit hat durchaus eine<br />

Orientierungsfunktion, allerdings nur so lange, wie beides nicht<br />

vollständig auseinandergerissen wird, denn dann können<br />

Selbst- und Fremdwahrnehmung nicht mehr übereingebracht<br />

werden.<br />

Zu hoffen ist, <strong>das</strong>s den neuen Sprachvorschriften auf breiter<br />

Front widersprochen wird. Denn Sprache beeinflusst z<strong>war</strong> unser<br />

Denken, tut dies aber unreflektiert, nichtintentional. Und der<br />

Genderstern ist nur ein Zeichen ohne sprachliche Bedeutung.<br />

Die Zuschreibungen, mit denen er versehen wird, könnten sich<br />

ebenso gut dem inklusiven Maskulinum beilegen lassen. Warum<br />

geschieht <strong>das</strong> nicht? Weil bestimmte Pressure Groups <strong>das</strong> sichtbare<br />

Bekenntnis zu ihrer Ideologie verlangen? Ich fürchte, so ist es.<br />

Schon jetzt gerät, wer den Genderstern nicht benutzt, in Gefahr,<br />

gegen sein Selbstverständnis als Diskriminierungsfreund angesehen<br />

zu werden. Aber: Wer bewusst sprachpolitisch eingreift,<br />

manipuliert 67 und befördert autokratisch-antidemokratische<br />

67 Vgl. Rudolf Stöber, Genderstern und Binnen-I. Zu falscher Symbolpolitik in<br />

Zeiten eines zunehmenden Illiberalismus, Publizistik 66, 11–20 (2021), https://<br />

40 Annette Weidhas


Tendenzen. 68 In der DDR-Gesellschaft konnte man täglich erleben,<br />

wie solche Ausgrenzung funktioniert. Wer den Sowjetimperialismus<br />

nicht ausdrücklich begrüßte, <strong>war</strong> ein Friedensfeind,<br />

wer für mehr Selbstverantwortung und Leistungsbereitschaft<br />

beim Wirtschaften eintrat, ein Kapitalismusfreund, und wer sich<br />

als Christ bekannte, galt als unaufgeklärter Fortschrittsfeind. Die<br />

Realität aber haben diese jahrzehntelangen Sprachideologeme<br />

nicht verändert. Die allgegenwärtige Behauptung „Der Sozialismus<br />

siegt“ erwies sich als irrationales Wunschdenken. Was man<br />

allerdings bei einem großen Teil der Bevölkerung erreichte, <strong>war</strong><br />

ein obrigkeitliches Bewusstsein, <strong>das</strong> entweder „hirngewaschene“<br />

Zustimmung erzeugte oder den Spagat zwischen offizieller<br />

und (heimlicher) privater Meinung. Inzwischen sagen 62 % der<br />

US-Amerikaner, <strong>das</strong>s sie sich selbst zensieren. Sehr viel anders<br />

dürfte es auch in Deutschland nicht mehr aussehen. Alles im Namen<br />

eines „progressiven“ Umbaus der Gesellschaft. Hat man<br />

vergessen, <strong>das</strong>s die Fortschrittsideologien des 20. Jahrhunderts<br />

in reaktionären Diktaturen endeten? Nicht mit ihnen „zog die<br />

neue Zeit“, andere – unter ihnen zuvor Diffamierte – modernisierten<br />

nach dem Krieg und nach der Wiedervereinigung wirkungsvoll<br />

Gesellschaft, weil maßvoll und realitätsnah.<br />

link.springer.com/article/10.1007/s11616-020-00625-0.<br />

68 Dazu lesen man Peter Graf Kielmansegg, Die Schließung der Demokratie,<br />

FAZ vom 17.5.2021. Unter Bezugnahme auf Tocqueville schreibt er: „Fast zweihundert<br />

Jahre nach Tocquevilles Amerika-Buch wissen wir: Er hat recht behalten<br />

mit seiner Warnung, <strong>das</strong>s Konformitätsdruck zu einer dramatischen Gefährdung<br />

der Freiheit in der Demokratie werden kann. Er hat recht behalten mit<br />

seiner Wahrnehmung, <strong>das</strong>s Stigmatisierung die tödliche Waffe des Konformitätsdrucks<br />

ist. Nicht recht behalten hat er aber mit seiner Annahme, <strong>das</strong>s es die<br />

Mehrheit sei, von der die Gefahr des neuen gesellschaftlichen Despotismus ausgeht.<br />

Für die westlichen Demokratien unserer Tage jedenfalls gilt: Es sind von<br />

unerschütterlicher Selbstgewissheit getragene, oft kleine, aber sehr aggressive<br />

Minderheiten, die ‚<strong>das</strong> Denken mit einem erschreckenden Ring zu umspannen‘<br />

versuchen, die <strong>das</strong> Ideal der offenen Gesellschaft aufkündigen und die Prozesse<br />

der Schließung der Demokratie im Namen der Demokratie in Gang setzen.“<br />

Das Virus der Identitätspolitik 41


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Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Gestaltung: FRUEHBEETGRAFIK, <strong>Thomas</strong> Puschmann · Leipzig<br />

Coverbilder: © Heritage <strong>Im</strong>ages / Fine Art <strong>Im</strong>ages / akg-images (Moses),<br />

© AdobeStock (Galaxie)<br />

Druck und Binden: CPI books GmbH<br />

ISBN 978-3-374- 07010-7 // eISBN (PDF) 978-3-374- 07011-4<br />

www.eva-leipzig.de

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