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Thomas von Aquin // Rochus Leonhardt: Worin das Glück besteht (Leseprobe)

Das Glück des Menschen galt in der abendländischen Theologie spätestens seit Augustinus als etwas, das, wenn überhaupt, erst nach dem Ende des irdischen Lebens erlangt werden kann. Als im Hochmittelalter die »Nikomachische Ethik« des Aristoteles bekannt wurde, sahen sich die christlichen Theologen mit einer überzeugenden philosophischen Theorie des irdischen Glücks konfrontiert, die ohne Jenseits-Perspektive auskam. Wie sollte man christlich-theologisch damit umgehen? Die Antworten auf diese Frage waren unterschiedlich. Als besonders wirkmächtig erweisen sollte sich der Vermittlungsversuch des dominikanischen Theologen Thomas von Aquin (1224/25–1274). Der vorliegende Band enthält die erstmals ins Deutsche übersetzte Frühgestalt dieses Vermittlungsansatzes, die im Sentenzenkommentar (1252–1256) des Thomas enthalten ist.

Das Glück des Menschen galt in der abendländischen Theologie spätestens seit Augustinus als etwas, das, wenn überhaupt, erst nach dem Ende des irdischen Lebens erlangt werden kann. Als im Hochmittelalter die »Nikomachische Ethik« des Aristoteles bekannt wurde, sahen sich die christlichen Theologen mit einer überzeugenden philosophischen Theorie des irdischen Glücks konfrontiert, die ohne Jenseits-Perspektive auskam. Wie sollte man christlich-theologisch damit umgehen? Die Antworten auf diese Frage waren unterschiedlich. Als besonders wirkmächtig erweisen sollte sich der Vermittlungsversuch des dominikanischen Theologen Thomas von Aquin (1224/25–1274). Der vorliegende Band enthält die erstmals ins Deutsche übersetzte Frühgestalt dieses Vermittlungsansatzes, die im Sentenzenkommentar (1252–1256) des Thomas enthalten ist.

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Große Texte der Christenheit (GTCh) | 11<br />

<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong><br />

<strong>Worin</strong> <strong>das</strong> <strong>Glück</strong><br />

<strong>besteht</strong><br />

Herausgegeben, übersetzt und kommentiert<br />

<strong>von</strong> <strong>Rochus</strong> <strong>Leonhardt</strong>


Vorwort<br />

Seit der Arbeit an meiner Dissertation, deren Druckfassung<br />

1998 erschienen ist, habe ich mich nicht mehr eingehend mit<br />

<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong> beschäftigt. 1 Die Möglichkeit, den vorliegenden<br />

Band in der Reihe »Große Texte der Christenheit« zu<br />

publizieren, war mir Anlass, mich noch einmal intensiv mit<br />

dem prominenten Denker des Hochmittelalters zu befassen.<br />

Dabei fiel mir auf, <strong>das</strong>s – jedenfalls im <strong>von</strong> mir überschauten<br />

deutschsprachigen Bereich – in den letzten Jahren nur wenige<br />

Spezialuntersuchungen zu der Frage erschienen sind, worin<br />

nach <strong>Thomas</strong> <strong>das</strong> <strong>Glück</strong> <strong>besteht</strong>. Dies gilt in besonderer Weise<br />

für die Lehre vom <strong>Glück</strong>/<strong>von</strong> der <strong>Glück</strong>seligkeit (beatitudo),<br />

wie sie im Sentenzenkommentar entfaltet ist. Überraschenderweise<br />

hat Michael Basse in einem neueren Beitrag zu diesem<br />

Frühwerk des <strong>Thomas</strong> in seinen Hinweisen zur beatitudo-Lehre<br />

auf den entsprechenden Abschnitt meiner bald<br />

25 Jahre alten Dissertation verwiesen. 2<br />

Angesichts dieser Lage habe ich mich dazu entschlossen,<br />

in diesem Band den inhaltlich wichtigsten Teil des umfangreichen<br />

<strong>Glück</strong>seligkeitstraktats aus dem Sentenzenkommentar<br />

des <strong>Thomas</strong> zu präsentieren. Anders als im Fall des beati-<br />

1 Vgl. <strong>Rochus</strong> <strong>Leonhardt</strong>, <strong>Glück</strong> als Vollendung des Menschseins. Die<br />

beatitudo-Lehre des <strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong> im Horizont des Eudämonismus-<br />

Problems, Berlin/New York 1998 (AKG 68).<br />

2 Vgl. Michael Basse, Sentenzenkommentar, in: <strong>Thomas</strong> Handbuch, hrsg.<br />

<strong>von</strong> Volker Leppin, Tübingen 2016, 178-182, 181.<br />

5


Vorwort<br />

tudo-Traktats der »Summa Theologiae« 3 liegt dazu ebenso<br />

wenig eine deutsche Übersetzung vor wie (bezüglich des Gesamtwerks)<br />

eine kritische Edition des lateinischen Textes. Die<br />

hier gebotene Übersetzung hat deshalb ebenso Premierencharakter<br />

wie die im Stellenkommentar erfolgte Verifikation<br />

der im Text des <strong>Thomas</strong> zitierten oder erwähnten philosophischen<br />

und theologischen Quellen.<br />

Bei der Erstellung eines (hoffentlich) gut lesbaren deutschen<br />

Textes war mir Frau stud. theol. Anna Luisa Walldorf<br />

behilflich. Frau Britta Abicht, Lektorin für Alte Sprachen an<br />

der Leipziger Theologischen Fakultät, hat mich bei der Entschlüsselung<br />

des lateinischen Textes unterstützt, der, genauer<br />

betrachtet, manchmal doch schwerer zu verstehen ist,<br />

als es auf den ersten Blick scheint. Herr Dr. Florian Priesemuth<br />

schließlich, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Leipziger<br />

Theologischen Fakultät im Bereich Systematische Theologie/Ethik,<br />

war mir eine Hilfe bei der Identifikation der Stellen<br />

aus philosophischen oder theologischen Schriften, auf die<br />

sich <strong>Thomas</strong> bezogen hat. – Ihnen allen sei herzlich gedankt.<br />

Ebenso zu danken habe ich den Herausgebern der Reihe<br />

»Große Texte der Christenheit«, den Kollegen Dietrich Korsch<br />

(Marburg) und Johannes Schilling (Kiel), sowohl für die Aufnahme<br />

dieses Bandes als auch für ihre sachlichen Hinweise<br />

und Anregungen. Schließlich, last but not least, geht ein<br />

Dank an die Evangelische Verlagsanstalt, namentlich an die<br />

Programmleiterin, Frau Dr. Annette Weidhas, die die Realisierung<br />

dieses Buchprojekts mit gewohnter Professionalität<br />

vorangetrieben hat.<br />

3 <strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong>, Über <strong>das</strong> <strong>Glück</strong> – De beatitudine. Übersetzt, mit<br />

einer Einleitung und einem Kommentar herausgegeben <strong>von</strong> Johannes<br />

Brachtendorf, Hamburg 2012.<br />

6


Vorwort<br />

Die im Band verwendeten Abkürzungen <strong>von</strong> biblischen<br />

Büchern, Zeitschriften und Buchreihen folgen den »Abkürzungen<br />

Theologie und Religionswissenschaften nach RGG 4 «<br />

(Tübingen 2007); darin nicht enthaltene Titel sind ausgeschrieben.<br />

Die in den deutschen Text eingefügten hochgestellten<br />

Ziffern in eckigen Klammern verweisen auf die Erläuterungen<br />

im Stellenkommentar.<br />

Leipzig, im Dezember 2021<br />

<strong>Rochus</strong> <strong>Leonhardt</strong><br />

7


UDO KERN<br />

ZUM<br />

26. JUNI 2022


Inhalt<br />

Vorwort<br />

A DER TEXT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />

Divisio textus/Aufteilung des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />

Obiectiones und sed-contra-Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />

Quaestiuncula 1/Teilfrage 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />

Obiectiones/Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />

Sed-contra-Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18<br />

Quaestiuncula 2/Teilfrage 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />

Obiectiones/Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />

Sed-contra-Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22<br />

Quaestiuncula 3/Teilfrage 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24<br />

Obiectiones/Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24<br />

Sed-contra-Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />

Quaestiuncula 4/Teilfrage 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28<br />

Obiectiones/Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28<br />

Sed-contra-Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30<br />

Solutiones et responsiones/Erklärungen und<br />

Antworten (auf die Einwände) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34<br />

Quaestiuncula 1/Teilfrage 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34<br />

Solutio/Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34<br />

Responsiones/Antworten (auf die Einwände) . . . . . . . . . . . . 34<br />

Quaestiuncula 2/Teilfrage 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40<br />

Solutio/Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40<br />

Responsiones/Antworten (auf die Einwände) . . . . . . . . . . . . 46<br />

Quaestiuncula 3/Teilfrage 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48<br />

Solutio/Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48<br />

Responsiones/Antworten (auf die Einwände) . . . . . . . . . . . . 50<br />

9


Inhalt<br />

Quaestiuncula 4/Teilfrage 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54<br />

Solutio/Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54<br />

Responsiones/Antworten (auf die Einwände) . . . . . . . . . . . . 60<br />

B<br />

C<br />

ERLÄUTERUNGEN<br />

1. Charakter, werkgeschichtlicher Ort und<br />

Bedeutung des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />

a) Text und Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />

b) Biographisch-werkgeschichtlicher Ort des Textes . . . . . . 72<br />

c) Das Thema <strong>Glück</strong>/<strong>Glück</strong>seligkeit im Werk des <strong>Thomas</strong> 76<br />

2. Terminologische und theologiegeschichtliche Hinweise . . 84<br />

a) Zur <strong>Glück</strong>sterminologie des <strong>Thomas</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84<br />

b) Bemerkungen zur Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91<br />

c) Zum theologiegeschichtlichen Umfeld des Textes . . . . . . 92<br />

3. Stellenkommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105<br />

4. Systematisches Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155<br />

ANHANG<br />

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175<br />

Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176<br />

10


A<br />

Der Text


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong><br />

Divisio textus<br />

Postquam determinavit Magister de his quae pertinent ad judicium<br />

generale, in parte hac incipit determinare de praemiis<br />

et poenis quae judicium generale sequuntur; et dividitur in<br />

partes duas: in prima determinat de praemiis bonorum; in secunda<br />

de poenis malorum, 50 dist., ibi: hic oritur quaestio et<br />

cetera. Prima autem pars dividitur in partes tres: in prima<br />

enim describit qualis erit beatitudo sanctorum, quae eis in<br />

praemium post generale judicium dabitur; in secunda ostendit<br />

quomodo ad eam consequendam omnis humanus appetitus<br />

tendat, ibi: solet etiam quaeri de beatitudine, utrum omnes<br />

eam velint. In tertia qualiter eam habentes, diversimode<br />

ipsam participant, ibi: solet etiam quaeri, utrum aliquid de<br />

Deo cognoscat aliquis magis meritus, ut Petrus, quod non cognoscat<br />

aliquis minus meritus, ut Linus. Circa hoc tria facit:<br />

primo ostendit diversitatem quae in beatitudine sanctorum<br />

accidit ex parte cognitionis; secundo ex parte gaudii, vel delectationis,<br />

ibi: solet etiam quaeri, an in gaudio dispares sint.<br />

Tertio inquirit de augmento beatitudinis, quod accidet ex resumptione<br />

corporis, ibi: post hoc quaeri solet, si beatitudo<br />

sanctorum major sit futura post judicium quam interim.<br />

12


<strong>Worin</strong> <strong>das</strong> <strong>Glück</strong> <strong>besteht</strong><br />

Aufteilung des Textes<br />

Nachdem Petrus Lombardus die Dinge umrissen hat, die <strong>das</strong> allgemeine<br />

Gericht betreffen, beginnt er in dieser distinctio (49 des<br />

4. Buches), <strong>von</strong> den Belohnungen und Strafen zu handeln, die<br />

dem allgemeinen Gericht folgen. Und dieses Thema wird in<br />

zwei Abschnitte geteilt: im ersten skizziert er die Belohnungen<br />

für die Guten; im zweiten die Strafen für die Bösen, (letzteres) in<br />

distinctio 50, wo es heißt: »hier ergibt sich die Frage« usw. Der<br />

erste Abschnitt aber weist eine Dreiteilung auf: [1] Zuerst beschreibt<br />

er, <strong>von</strong> welcher Art die <strong>Glück</strong>seligkeit der Heiligen sein<br />

wird, die ihnen als Belohnung nach dem allgemeinen Gericht<br />

gegeben wird; im zweiten zeigt er, auf welche Weise jedes<br />

menschliche Streben dazu tendiert, sie (die <strong>Glück</strong>seligkeit) zu<br />

erlangen, nämlich hier: »was die <strong>Glück</strong>seligkeit angeht, so wird<br />

üblicherweise auch gefragt, ob alle sie wollen«. Im dritten (Abschnitt<br />

zeigt er), wie diejenigen, die sie besitzen, auf verschiedene<br />

Weise an ihr teilhaben, (nämlich) hier: »Es wird üblicherweise<br />

auch gefragt, ob ein Verdienstvollerer, wie Petrus, etwas<br />

<strong>von</strong> Gott erkennt, was ein weniger Verdienstvoller, wie Linus,<br />

nicht erkennt.« Dabei thematisiert er dreierlei: Die Unterschiedlichkeit,<br />

die die <strong>Glück</strong>seligkeit der Heiligen aufweist, zeigt er zuerst<br />

hinsichtlich der Erkenntnis, zweitens hinsichtlich der<br />

Freude oder des Genusses, nämlich hier: »Es wird üblicherweise<br />

auch gefragt, ob sie (die Heiligen) in der Freude ungleich sind«.<br />

Drittens untersucht er den Zuwachs an <strong>Glück</strong>seligkeit, der sich<br />

aus der Wiedererlangung des Körpers ergibt, nämlich hier:<br />

»Danach wird üblicherweise gefragt, ob die <strong>Glück</strong>seligkeit der<br />

Heiligen nach dem Gericht größer sein wird als (sie) bis dahin<br />

(war)«.<br />

13


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong><br />

Hic quaeruntur quinque.<br />

Primo de beatitudine.<br />

Secundo de visione Dei, in qua principaliter beatitudo<br />

con sistit.<br />

Tertio de delectatione, quae formaliter beatitudinem<br />

complet.<br />

Quarto de dotibus quae in beatitudine continentur.<br />

Quinto de aureolis, quibus beatitudo perficitur et decoratur.<br />

Circa primum quaeruntur quatuor:<br />

1 in quo sit quaerenda beatitudo;<br />

2 quid sit;<br />

3 utrum omnes eam appetant;<br />

4 utrum ab omnibus aequaliter participetur.<br />

14


<strong>Worin</strong> <strong>das</strong> <strong>Glück</strong> <strong>besteht</strong><br />

Hier (im Kommentar) werden fünf (Punkte) untersucht. [2]<br />

1. Die <strong>Glück</strong>seligkeit (als solche) [quaestio 1].<br />

2. Die Gottesschau, in der die <strong>Glück</strong>seligkeit hauptsächlich<br />

<strong>besteht</strong> [quaestio 2].<br />

3. Der Genuss, der die <strong>Glück</strong>seligkeit der Wesensbestimmtheit<br />

nach vervollständigt [quaestio 3].<br />

4. Die Gaben, die in der <strong>Glück</strong>seligkeit enthalten sind<br />

[quaestio 4]. [3]<br />

5. Die Aureolen, durch die die <strong>Glück</strong>seligkeit vervollkommnet<br />

und geschmückt wird [quaestio 5]. [4]<br />

Was den ersten Punkt angeht, werden vier Punkte untersucht:<br />

[5]<br />

1. worin die <strong>Glück</strong>seligkeit gesucht werden muss [Ar tikel 1];<br />

2. was sie ist [Artikel 2];<br />

3. ob alle sie erstreben [Artikel 3];<br />

4. ob alle gleichermaßen (an ihr) teilhaben [Artikel 4].<br />

15


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong><br />

Obiectiones und sed-contra-Argumente<br />

Quaestiuncula 1<br />

Obiectiones<br />

Ad primum sic proceditur. Videtur quod beatitudo in bonis<br />

corporis consistat.<br />

Quia quod a pluribus dicitur, impossibile est falsum esse<br />

totaliter, ut Commentator dicit in Libr. de anima; et philosophus<br />

dicit in 7 Ethicor., quod opinio non perditur, quam populi<br />

multi famant. Sed major hominum multitudo inclinatur<br />

ad quaerendum corporales delectationes et corporalia bona<br />

quasi finem. Ergo finis humanae vitae in corporalibus bonis<br />

consistit. Finem autem humanae vitae dicimus beatitudinem.<br />

Ergo beatitudo in bonis corporis quaerenda est.<br />

Praeterea, quanto aliquis finis est magis ultimus in consecutione,<br />

tanto prior est in intentione et appetitu. Sed homo<br />

prius appetit corporale bonum quam spirituale, cum ex amore<br />

corporalium rerum in amorem invisibilium manuducamur,<br />

ut Gregorius dicit. Ergo bonum corporale est ultimus finis<br />

noster. Talis autem finis est beatitudo. Ergo in bonis corporalibus<br />

beatitudo est quaerenda.<br />

Praeterea, quanto aliquod bonum est communius, tanto divinius,<br />

ut patet in 1 Ethic. Sed bonum corporale communius est<br />

quam spirituale: quia corporale ad plantas et animalia bruta<br />

se extendit, non autem spirituale. Ergo corporale bonum spirituali<br />

praeminet; et ita in corporalibus bonis magis est beatitudo<br />

quaerenda.<br />

16


Obiectiones und sed-contra-Argumente<br />

Teilfrage 1<br />

<strong>Worin</strong> <strong>das</strong> <strong>Glück</strong> <strong>besteht</strong><br />

Einwände<br />

Zum ersten wird so vorgegangen. Es scheint, <strong>das</strong>s die <strong>Glück</strong>seligkeit<br />

in Gütern des Körpers <strong>besteht</strong>.<br />

1. Denn was <strong>von</strong> der Mehrheit gesagt wird, ist unmöglich<br />

völlig falsch, wie Averroes im Buch über die Seele sagt. [6] Und<br />

Aristoteles sagt in Buch VII der »Nikomachischen Ethik«,<br />

»eine Meinung, die viele Völker verbreiten, vergeht nicht«. [7]<br />

Die Mehrzahl der Menschen aber ist dazu geneigt, körperliche<br />

Genüsse und körperliche Güter als Ziel zu suchen. Also<br />

<strong>besteht</strong> <strong>das</strong> Ziel des menschlichen Lebens in körperlichen<br />

Gütern. Das Ziel des menschlichen Lebens aber nennen wir<br />

<strong>Glück</strong>seligkeit. Also muss die <strong>Glück</strong>seligkeit in körperlichen<br />

Gütern gesucht werden.<br />

2. Je höher ein Ziel steht, <strong>das</strong> erlangt werden soll, desto früher<br />

ist es in der Absicht und im Streben gegenwärtig. Der Mensch<br />

aber erstrebt eher ein körperliches Gut als ein geistiges, weil wir,<br />

wie Gregor der Große sagt, <strong>von</strong> der Liebe zu den körperlichen Dingen<br />

zur Liebe zum Unsichtbaren geführt werden. [8] Unser höchstes<br />

Ziel ist also ein körperliches Gut. Um ein solches höchstes<br />

Ziel handelt es sich aber bei der <strong>Glück</strong>seligkeit. Also muss die<br />

<strong>Glück</strong>seligkeit in körperlichen Gütern gesucht werden.<br />

3. Je allgemeiner ein Gut ist, desto göttlicher (ist es), wie<br />

Buch I der »Nikomachischen Ethik« zeigt. [9] Ein körperliches<br />

Gut ist aber allgemeiner als ein geistiges, weil sich <strong>das</strong> Körperliche<br />

auf Pflanzen und unvernünftige Tiere erstreckt, nicht<br />

aber <strong>das</strong> Geistige. Also übertrifft <strong>das</strong> körperliche Gut <strong>das</strong> geistige.<br />

Und so muss die <strong>Glück</strong>seligkeit eher in körperlichen<br />

Gütern gesucht werden.<br />

17


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong><br />

Praeterea, beatitudo ab omnibus ponitur finis virtutis. Sed<br />

virtus habet finem suum non solum in bonis spiritualibus,<br />

sed etiam in corporalibus: per virtutem enim temperantiae et<br />

alias virtutes homo conservatur a nocivis etiam secundum<br />

corpus. Ergo beatitudo non solum in spiritualibus, sed etiam<br />

in corporalibus bonis est quaerenda.<br />

Praeterea, secundum philosophum in 2 Phys., felicitas et fortuna<br />

circa idem esse videntur. Sed bona fortunae sunt corporalia.<br />

Ergo bona in quibus consistit beatitudo et felicitas, sunt<br />

corporalia.<br />

Praeterea homo ex anima et corpore constituitur. Ergo bonum<br />

hominis debet esse commune animae et corpori. Sed<br />

bonum spirituale non potest esse commune corpori; bonum<br />

autem corporale potest esse commune animae, inquantum<br />

anima de corporalibus delectatur. Ergo beatitudo, quae est<br />

bonum hominis, magis consistit in corporalibus quam in spiritualibus<br />

bonis.<br />

Sed-contra-Argumente<br />

Sed contra, illud quod convenit homini secundum corpus,<br />

potest esse commune sibi et aliis animalibus. Sed beatitudo<br />

aliis animalibus non potest competere. Ergo beatitudo non<br />

est quaerenda in bonis corporis.<br />

Praeterea, beatitudo est summum bonum hominis. Ergo in<br />

praecipuis hominis bonis est quaerenda. Sed bona animae<br />

sunt nobiliora bonis corporis, sicut et anima corpore nobilior.<br />

Ergo beatitudo est quaerenda in bonis animae.<br />

18


<strong>Worin</strong> <strong>das</strong> <strong>Glück</strong> <strong>besteht</strong><br />

4. Die <strong>Glück</strong>seligkeit wird <strong>von</strong> allen (Menschen) für <strong>das</strong><br />

Ziel der Tugend gehalten. Die Tugend aber hat ihr Ziel nicht<br />

nur in geistigen Gütern, sondern auch in körperlichen. Durch<br />

die Tugend der Mäßigung und andere Tugenden wird der<br />

Mensch nämlich auch vor Schäden des Körpers bewahrt. Also<br />

darf die <strong>Glück</strong>seligkeit nicht nur in geistigen, sondern muss<br />

auch in körperlichen Gütern gesucht werden.<br />

5. Nach Aristoteles in Buch II der Physikvorlesung scheinen<br />

(irdisches) <strong>Glück</strong> und Zufallsglück irgendwie <strong>das</strong>selbe<br />

zu sein. [10] Aber die Güter des Zufallsglücks sind körperliche<br />

(Güter). Also sind die Güter, in denen <strong>Glück</strong>seligkeit und (irdisches)<br />

<strong>Glück</strong> bestehen, körperliche (Güter).<br />

6. Der Mensch ist aus Seele und Körper zusammengesetzt.<br />

Das Gut des Menschen muss also für Seele und Körper gleichermaßen<br />

zugänglich sein. Ein geistiges Gut kann aber nicht<br />

dem Körper zugänglich sein. Ein körperliches Gut aber kann<br />

der Seele zugänglich sein, sofern sich die Seele an Körperlichem<br />

erfreut. Also <strong>besteht</strong> die <strong>Glück</strong>seligkeit, die <strong>das</strong> Gut<br />

des Menschen ist, eher in körperlichen als in geistigen Gütern.<br />

Dagegen spricht aber:<br />

1. Was dem Menschen dem Körper nach entspricht, kann<br />

ihm und anderen Lebewesen gemeinsam sein. Aber die <strong>Glück</strong>seligkeit<br />

kann anderen Lebewesen nicht zukommen. Also darf<br />

die <strong>Glück</strong>seligkeit nicht in Gütern des Körpers gesucht werden.<br />

2. Die <strong>Glück</strong>seligkeit ist <strong>das</strong> höchste Gut des Menschen.<br />

Also muss sie in den vorzüglichen Gütern des Menschen gesucht<br />

werden. Die Güter der Seele sind aber edler als die<br />

Güter des Körpers, so wie die Seele edler (ist) als der Körper. [11]<br />

Also muss die <strong>Glück</strong>seligkeit in Gütern der Seele gesucht<br />

werden.<br />

19


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong><br />

Praeterea, illud quod est ultima mensura, non est aliquo mo -<br />

do mensuratum. Ergo illud quod non potest esse bonum nisi<br />

prout est mensuratum, non potest esse mensura ultima in rebus<br />

humanis; et ita nec ultimus finis, qui est beatitudo; cum<br />

finis sit mensura imponens modum his quae sunt ad finem.<br />

Sed bona corporalia non sunt laudabilia nec bona nisi<br />

inquantum sunt mensura virtutis, ut patet per philosophum<br />

in 2 Ethic. Ergo in bonis corporalibus non potest esse beatitudo.<br />

Quaestiuncula 2<br />

Obiectiones<br />

Ulterius. Videtur quod beatitudo magis consistat in his quae<br />

sunt voluntatis quam in his quae sunt intellectus.<br />

Quia beatitudo est summum bonum. Sed bonum est objectum<br />

voluntatis inquantum hujusmodi, non autem intellectus. Ergo<br />

beatitudo magis consistit in actu voluntatis quam intellectus.<br />

Praeterea, delectatio, secundum philosophum in 7 Ethic., ad<br />

beatitudinem requiritur; unde et in Graeco nomen beatitudinis<br />

a gaudio accipitur. Sed delectatio est in voluntate, sive in<br />

affectu. Ergo et beatitudo.<br />

Praeterea, secundum philosophum in 10 Ethic., in actu nobilissimae<br />

virtutis consistit felicitas sive beatitudo. Sed caritas<br />

est excellentissima omnium virtutum, ut patet per apostolum<br />

1 Corinth. 13. Ergo cum caritas sit in voluntate, ibi quaerenda<br />

est beatitudo.<br />

20


3. Das, was der höchste Maßstab ist, ist auf keinen Fall etwas<br />

Messbares. Das, was nur als Messbares ein Gut sein kann,<br />

kann also in menschlichen Belangen nicht der höchste Maßstab<br />

sein, und so (kann es) auch nicht <strong>das</strong> Letztziel (sein), <strong>das</strong><br />

die <strong>Glück</strong>seligkeit ist – weil ein (solches Letzt-) Ziel der Maßstab<br />

ist, der der den Dingen, die zum Ziel führen sollen, ihre<br />

Bestimmung gibt. Die körperlichen Güter können aber nicht<br />

gelobt werden und sind insofern keine Güter, es sei denn, sie<br />

sind Indizien für die Tugend, wie Aristoteles in Buch II der<br />

»Nikomachischen Ethik« zeigt. [12] Also kann die <strong>Glück</strong>seligkeit<br />

nicht in körperlichen Gütern bestehen.<br />

Teilfrage 2<br />

<strong>Worin</strong> <strong>das</strong> <strong>Glück</strong> <strong>besteht</strong><br />

Einwände<br />

Weiter. Es scheint, <strong>das</strong>s die <strong>Glück</strong>seligkeit eher in den (Dingen)<br />

<strong>besteht</strong>, die zum Willen als in denen, die zum Verstand gehören.<br />

1. Denn die <strong>Glück</strong>seligkeit ist <strong>das</strong> höchste Gut. Ein Gut<br />

aber ist Gegenstand des Willens als solchem, nicht aber des<br />

Verstandes. Also <strong>besteht</strong> die <strong>Glück</strong>seligkeit eher im Vollzug<br />

des Willens als des Verstandes.<br />

2. Nach Aristoteles in Buch VII der »Nikomachischen<br />

Ethik« wird der Genuss für die <strong>Glück</strong>seligkeit erfordert. [13]<br />

Deshalb wird auch im Griechischen <strong>das</strong> Wort »<strong>Glück</strong>seligkeit«<br />

<strong>von</strong> »Freude« abgeleitet. [14] Der Genuss aber ist im Willen<br />

oder in der Gemütsbewegung. Also auch die <strong>Glück</strong>seligkeit.<br />

3. Nach Aristoteles in Buch X der »Nikomachischen Ethik«<br />

<strong>besteht</strong> <strong>das</strong> (irdische) <strong>Glück</strong> oder die <strong>Glück</strong>seligkeit im Vollzug<br />

der edelsten Tugend. [15] Die Gottesliebe aber ist die vorzüglichste<br />

aller Tugenden, wie es durch Paulus in 1Kor 13 klar<br />

ist. [16] Weil also die Gottesliebe im Willen vorhanden ist, muss<br />

die <strong>Glück</strong>seligkeit auch hier gesucht werden.<br />

21


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong><br />

Praeterea, sicut anima imperat corpori, ita voluntas imperat<br />

intellectui, et per consequens est eo superior. Sed beatitudo<br />

magis ponitur in bonis animae quam corporis, quia anima est<br />

superior corpore. Ergo eadem ratione magis debet poni in voluntate<br />

quam in intellectu.<br />

Praeterea, beatitudo hominis consistit in perfecta conjunctione<br />

ad Deum. Sed perfectius homo conjungitur Deo per voluntatem<br />

quam per intellectum; unde dicit Hugo de sancto<br />

Victore, 7 cap. Cael. Hier. super illud: mobile, et acutum etc.:<br />

dilectio supereminet scientiae, et major est intelligentia. Plus<br />

enim Deus diligitur quam intelligatur; intrat dilectio ubi<br />

scientia foris est. Ergo beatitudo consistit magis in dilectione<br />

quam in cognitione, et in voluntate quam in intellectu.<br />

Sed-contra-Argumente<br />

Sed contra est quod dicitur Joan. 17, 3: haec est vita aeterna ut<br />

cognoscant te verum Deum, et quem misisti Jesum Christum.<br />

Sed vita aeterna est ipsa beatitudo. Ergo beatitudo in cognitione<br />

consistit.<br />

Praeterea, 1 Corinth. 15, super illud: cum tradiderit regnum<br />

Deo et patri, dicit Glossa: idest, cum perduxerit credentes ad<br />

contemplationem Dei patris, ubi est finis omnium, requies<br />

sempiterna et gaudium. Sed hoc est beatitudo. Ergo in contemplatione<br />

intellectus beatitudo consistit.<br />

Praeterea, philosophus in 10 Eth. ostendit quod in contemplativae<br />

virtutis actu ultima hominis beatitudo consistit. Sed<br />

hoc pertinet ad intellectum. Ergo beatitudo maxime consistit<br />

in intellectu.<br />

22


<strong>Worin</strong> <strong>das</strong> <strong>Glück</strong> <strong>besteht</strong><br />

4. Wie die Seele dem Körper befiehlt, so befiehlt der Wille<br />

dem Verstand, und demzufolge ist er (der Wille) diesem überlegen.<br />

Die <strong>Glück</strong>seligkeit aber wird eher zu den Gütern der<br />

Seele als (zu denen) des Körpers gerechnet, weil die Seele dem<br />

Körper überlegen ist. Aus demselben Grund muss sie also eher<br />

im Willen als im Verstand verortet sein.<br />

5. Die <strong>Glück</strong>seligkeit des Menschen <strong>besteht</strong> in der vollkommenen<br />

Verbindung mit Gott. Der Mensch wird aber durch<br />

den Willen vollkommener mit Gott verbunden als durch den<br />

Verstand. Deshalb sagt Hugo <strong>von</strong> St. Victor über »Beweglichkeit«<br />

und »Schärfe« usw. in Kapitel 7 der »Himmlischen Hierarchie«:<br />

»Die Liebe überragt <strong>das</strong> Wissen und ist größer als die<br />

Verständigkeit. Gott wird nämlich mehr geliebt, als er verstanden<br />

werden kann; die Liebe tritt ein, wo <strong>das</strong> Wissen ausgeschlossen<br />

ist.« [17] Also <strong>besteht</strong> die <strong>Glück</strong>seligkeit eher in der Liebe als<br />

in der Erkenntnis, und (mehr) im Willen als im Verstand.<br />

Dagegen spricht aber,<br />

1., was in Joh 17,3 gesagt wird: »Das ist aber <strong>das</strong> ewige<br />

Leben, <strong>das</strong>s sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den<br />

du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.« Das ewige Leben<br />

aber ist die <strong>Glück</strong>seligkeit selbst. Also <strong>besteht</strong> die <strong>Glück</strong>seligkeit<br />

in einer Erkenntnis. [18]<br />

2. Die Glosse sagt über (die Bibelstelle) 1Kor 15,24 (»wenn<br />

er <strong>das</strong> Reich Gott, dem Vater, übergeben wird«): »<strong>das</strong> heißt,<br />

wenn er die Glaubenden zur Betrachtung Gottes des Vaters<br />

ge führt hat, wo <strong>das</strong> Ziel aller Dinge ist, ewige Ruhe und<br />

Freude.« [19] Dies aber ist die <strong>Glück</strong>seligkeit. Also <strong>besteht</strong> die<br />

<strong>Glück</strong>seligkeit in einer Betrachtung des Verstandes.<br />

3. In Buch X der »Nikomachischen Ethik« zeigt Aristoteles,<br />

<strong>das</strong>s die höchste <strong>Glück</strong>seligkeit im Vollzug der betrachtenden<br />

Tugend <strong>besteht</strong>. [20] Das aber betrifft den Verstand. Also <strong>besteht</strong><br />

die <strong>Glück</strong>seligkeit in höchstem Maße im Verstand.<br />

23


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong><br />

Praeterea, secundum philosophum in 1 Ethic., bonum in quo<br />

per se est sufficientia, est felicitas vel beatitudo. Sed hoc est in<br />

cognitione, ut patet Joan. 14, 8: domine ostende nobis patrem,<br />

et sufficit nobis. Ergo idem quod prius.<br />

Quaestiuncula 3<br />

Obiectiones<br />

Ulterius. Videtur quod beatitudo magis consistat in actu intellectus<br />

practici quam speculativi. Quanto enim aliquod bonum<br />

est communius, tanto est divinius, ut patet in 1 Ethic.<br />

Sed bonum intellectus speculativi est singulariter ejus qui<br />

speculatur; bonum autem intellectus practici potest esse<br />

commune multorum. Ergo magis consistit beatitudo in intellectu<br />

practico quam speculativo.<br />

Praeterea, beatitudo est ultima perfectio hominis. Sed major<br />

est perfectio alicujus rei secundum quod est causa alterius,<br />

quam secundum quod in se perfecta existit; unde dicit Dionysius<br />

in 3 cap. Caelest. Hierarch., quod omnium divinius<br />

est Dei cooperatorem fieri in reductione aliorum. Per intellectum<br />

autem speculativum homo habet perfectionem in seipso;<br />

intellectus autem practicus est causa aliorum. Ergo beatitudo<br />

magis consistit in intellectu practico quam in speculativo.<br />

Praeterea, finis est conformis his quae sunt ad finem. Sed<br />

beatitudo est finis et praemium virtutum, ut in 1 Ethic. dicitur;<br />

virtutes autem magis consistunt in operatione quam in<br />

24


4. Nach Aristoteles in Buch I der »Nikomachischen Ethik«<br />

ist <strong>das</strong> (irdische) <strong>Glück</strong> oder die <strong>Glück</strong>seligkeit ein Gut, in dem<br />

es Selbstgenügsamkeit gibt. [21] Diese aber liegt in einer Erkenntnis,<br />

wie aus Joh 14,8 klar wird: »Herr, zeige uns den Vater, und<br />

es genügt uns.« Also (ergibt sich) <strong>das</strong>selbe wie vorhin [s. c. 1]<br />

Teilfrage 3<br />

<strong>Worin</strong> <strong>das</strong> <strong>Glück</strong> <strong>besteht</strong><br />

Einwände<br />

Weiter. Es scheint, <strong>das</strong>s die <strong>Glück</strong>seligkeit eher im Vollzug des<br />

praktischen als in dem des betrachtenden Verstandes <strong>besteht</strong>.<br />

1. Je allgemeiner nämlich ein Gut ist, desto göttlicher (ist<br />

es), wie es in Buch I der »Nikomachischen Ethik« klar wird. [22]<br />

Das Gut des betrachtenden Verstandes ist aber einzig und<br />

allein (ein Gut) dessen, der betrachtet. Das Gut des praktischen<br />

Verstandes kann aber etwas Gemeinsames für viele<br />

sein. Also <strong>besteht</strong> die <strong>Glück</strong>seligkeit eher im praktischen als<br />

im betrachtenden Verstand.<br />

2. Die <strong>Glück</strong>seligkeit ist die höchste Vollkommenheit des<br />

Menschen. Die Vollkommenheit einer Sache ist aber dann<br />

größer, wenn sie ursächlich für etwas anderes ist, als wenn sie<br />

in sich selbst vollkommen <strong>besteht</strong>. Deshalb sagt Dionysius<br />

im 3. Kapitel der »Himmlischen Hierarchie«, <strong>das</strong>s es göttlicher<br />

als alles ist, unter Hintanstellung <strong>von</strong> anderem zu einem<br />

Mitarbeiter Gottes zu werden. [23] Durch den betrachtenden<br />

Verstand aber hat der Mensch die Vollkommenheit in sich<br />

selbst. Der praktische Verstand ist aber die Ursache <strong>von</strong> anderem.<br />

Also <strong>besteht</strong> die <strong>Glück</strong>seligkeit eher im praktischen als<br />

im betrachtenden Verstand.<br />

3. Ein Ziel entspricht den zum Ziel führenden Dingen.<br />

Die <strong>Glück</strong>seligkeit aber ist Ziel und Lohn der Tugenden, wie<br />

in Buch I der »Nikomachischen Ethik« gesagt wird. [24] Tugen-<br />

25


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong><br />

cognitione; quia scire, parum, vel nihil prodest ad virtutem,<br />

ut patet 2 Ethic. Ergo beatitudo magis consistit in intellectu<br />

practico quam in speculativo.<br />

Praeterea, beatitudo hominis consistit in eo quod est in homine<br />

nobilius. Sed intellectus practicus est nobilior speculativo,<br />

quia ipse legem ponit speculativo intellectui; per prudentiam<br />

enim legislatoris ordinatur qualiter quis discere<br />

debeat disciplinas speculativas, ut patet in 1 Ethic. Ergo beatitudo<br />

magis est in intellectu practico quam speculativo.<br />

Sed-contra-Argumente<br />

Sed contra, beatitudo, cum sit ultimus finis, propter seipsam<br />

quaeritur, et non propter alterum. Sed cognitio practica ordinatur<br />

ad alterum tamquam ad finem, quia ad opus, ut in 2<br />

Metaph. dicitur; non autem speculativa, sed propter seipsam<br />

quaeritur, ut patet in 1 Metaphys. Ergo beatitudo magis consistit<br />

in intellectu speculativo quam practico.<br />

Praeterea, beatitudo nostra consistit in hoc quod Deo conjungimur.<br />

Sed nos non conjungimur Deo per intellectum<br />

practicum, sed per speculativum. Ergo beatitudo magis consistit<br />

in intellectu speculativo quam practico.<br />

Praeterea, in ratione beatitudinis est diuturnitas, et sufficientia,<br />

et delectatio. Sed in actu contemplativi intellectus est<br />

homo magis sufficiens sibi quam in actu intellectus practici,<br />

ad quem multis auxiliis exterioribus indiget; nullaque actio<br />

est in qua homo possit ita diu persistere sicut in contempla-<br />

26


<strong>Worin</strong> <strong>das</strong> <strong>Glück</strong> <strong>besteht</strong><br />

den aber bestehen eher im (Be-)Wirken als im Denken, weil<br />

Wissen für die Tugend wenig oder nichts nützt, wie es Buch II<br />

der »Nikomachischen Ethik« zeigt. [25] Also <strong>besteht</strong> die <strong>Glück</strong>seligkeit<br />

eher im praktischen als im betrachtenden Verstand.<br />

4. Die <strong>Glück</strong>seligkeit des Menschen <strong>besteht</strong> in dem, was<br />

im Menschen edler ist. Der praktische Verstand aber ist edler<br />

als der betrachtende, weil er diesem ein Gesetz auferlegt.<br />

Durch die Klugheit eines Gesetzgebers wird nämlich angeordnet,<br />

wie jemand die betrachtenden Wissenschaften erlernen<br />

soll, wie es Buch I der »Nikomachischen Ethik« zeigt. [26]<br />

Also liegt die <strong>Glück</strong>seligkeit eher im praktischen als im betrachtenden<br />

Verstand.<br />

Dagegen spricht aber,<br />

1., <strong>das</strong>s die <strong>Glück</strong>seligkeit, weil sie <strong>das</strong> Letztziel ist, um ihrer<br />

selbst willen erstrebt wird und nicht um eines anderen<br />

willen. Die praktische Erkenntnis aber wird auf etwas anderes<br />

gleichsam als Ziel ausgerichtet, weil (sie) auf eine Hervorbringung<br />

(zielt), wie in Buch II der Metaphysik gesagt ist; [27]<br />

nicht aber <strong>das</strong> betrachtende (Erkennen), sondern es wird um<br />

seiner selbst willen erstrebt, wie in Buch I der Metaphysik klar<br />

wird. [28] Also <strong>besteht</strong> die <strong>Glück</strong>seligkeit eher im betrachtenden<br />

als im praktischen Verstand.<br />

2. Unsere <strong>Glück</strong>seligkeit <strong>besteht</strong> darin, <strong>das</strong>s wir mit Gott<br />

verbunden werden. Aber wir werden nicht durch den praktischen,<br />

sondern durch den betrachtenden Verstand mit<br />

Gott verbunden. [29] Also <strong>besteht</strong> die <strong>Glück</strong>seligkeit eher im<br />

betrachtenden als im praktischen Verstand.<br />

3. Zur Beschaffenheit der <strong>Glück</strong>seligkeit gehören Dauerhaftigkeit,<br />

Selbstgenügsamkeit und Genuss. [30] Im Vollzug des<br />

betrachtenden Verstandes ist der Mensch aber eher sich selbst<br />

genug als im Vollzug des praktischen Verstandes, für den er<br />

vieler äußerer Hilfsmittel bedarf. [31] Und es gibt keine Hand-<br />

27


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong><br />

tione, propter remotionem a corporeis instrumentis, quorum<br />

debilitas lassitudinem inducit: neque est aliqua delectatio ita<br />

pura sicut contemplationis, quia ei nullum contrarium admiscetur,<br />

neque enim contrarium habet. Ergo beatitudo maxime<br />

in actu intellectus speculativi consistit.<br />

Quaestiuncula 4<br />

Obiectiones<br />

Ulterius. Videtur quod beatitudo in hac vita habeatur. Quia<br />

Matth. 5, 3, dicitur: beati pauperes spiritu, quoniam ipsorum<br />

est regnum caelorum ; et similiter: beati qui persecutionem patiuntur<br />

; et cetera hujusmodi. Sed omnia haec in hac vita habentur.<br />

Ergo beatitudo est in hac vita.<br />

Praeterea, si beatitudo non posset esse in hac vita, nullus beatitudinem<br />

cognosceret, nisi qui de alia vita notitiam haberet.<br />

Sed multi philosophi de beatitudine tractaverunt, futuram<br />

vitam penitus ignorantes. Ergo beatitudo potest etiam esse in<br />

hac vita.<br />

Praeterea, praesens vita hominis est perfectior quam praesens<br />

vita alicujus alterius animalis. Sed vita praesens aliorum animalium<br />

includit finem ultimum eorumdem. Ergo et vita<br />

praesens hominis beatitudinem includit, qui est finis ejus.<br />

28


lung, in der der Mensch so dauerhaft verharren kann wie in<br />

der Betrachtung – wegen der Unabhängigkeit <strong>von</strong> körperlichen<br />

Fertigkeiten, deren Schwächung eine Ermüdung herbeiführt.<br />

Und es gibt keinen so reinen Genuss wie den der<br />

Betrachtung, weil ihm nichts Hinderliches beigemischt ist;<br />

es gibt nämlich für ihn gar nichts Hinderliches. Also <strong>besteht</strong><br />

die <strong>Glück</strong>seligkeit in höchstem Maße im Vollzug des betrachtenden<br />

Verstandes.<br />

Teilfrage 4<br />

<strong>Worin</strong> <strong>das</strong> <strong>Glück</strong> <strong>besteht</strong><br />

Einwände<br />

Weiter. Es scheint, <strong>das</strong>s man die <strong>Glück</strong>seligkeit in diesem<br />

Leben besitzt. Denn<br />

1. in Mt 5,3 wird gesagt: »Selig (beati) sind, die da geistlich<br />

arm sind; denn ihrer ist <strong>das</strong> Himmelreich«; und ähnlich:<br />

»Selig (beati) sind, die (um der Gerechtigkeit willen) verfolgt<br />

werden« [Mt 3,10] und weiteres derartiges. Aber all dies besitzt<br />

man in diesem Leben. Also gibt es die <strong>Glück</strong>seligkeit in diesem<br />

Leben.<br />

2. Wenn es die <strong>Glück</strong>seligkeit nicht in diesem Leben geben<br />

könnte, würde niemand die <strong>Glück</strong>seligkeit erkennen, außer<br />

derjenige, der <strong>von</strong> einem anderen Leben Kenntnis hätte. Aber<br />

viele Philosophen haben die <strong>Glück</strong>seligkeit behandelt, ohne<br />

<strong>das</strong>s sie irgendetwas über ein zukünftiges Leben wussten.<br />

Also kann es die <strong>Glück</strong>seligkeit auch in diesem Leben geben.<br />

3. Das gegenwärtige Leben des Menschen ist vollkommener<br />

als <strong>das</strong> gegenwärtige Leben irgendeines anderen Lebewesens.<br />

Das gegenwärtige Leben anderer Lebewesen schließt<br />

aber deren Letztziel ein. Also schließt auch <strong>das</strong> gegenwärtige<br />

Leben des Menschen die <strong>Glück</strong>seligkeit ein, die sein Ziel<br />

ist.<br />

29


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong><br />

Praeterea, unaquaeque res naturaliter desiderat finem suum.<br />

Sed ex desiderio finis nascitur desiderium eorum quae sunt ad<br />

finem. Illa autem praecipue sunt ordinata ad finem sine quibus<br />

ad finem perveniri non potest. Sic autem ad beatitudinem<br />

hominis mors esset ordinata, si in hac vita beatitudinem habere<br />

non posset. Ergo homo naturaliter desiderat mortem;<br />

quod experimento falsum esse sentitur, et auctoritati apostoli<br />

contradicit, qui dicit, 2 Corinth. 5,4: nolumus expoliari, sed supervestiri.<br />

Ergo beatitudo hominis est in hac vita.<br />

Sed-contra-Argumente<br />

Sed contra, nullus potest esse beatus qui non habet hoc quod<br />

bene vult. Sed quilibet beatus bene et ordinate vult sua beatitudine<br />

nunquam posse privari. Ergo quicumque hoc non habet,<br />

non est vere beatus. Sed nullus hoc in hac vita habet; quia<br />

ipsam beatitudinem quam in hac vita habere posset, oportet<br />

quod ad minus mors tollat. Ergo beatitudo in hac vita haberi<br />

non potest.<br />

Praeterea, nullus ad ultimum vitae jam pervenit, cui restat<br />

aliquid appetendum; eo quod beatitudo in se sufficientiam<br />

habeat, ut etiam philosophus dicit. Sed quantumcumque aliquis<br />

sit in hac vita perfectus vel scientia vel virtute vel quocumque<br />

alio modo, adhuc ei restat aliquid appetendum, scilicet<br />

multa scire quae nescit; immo bonitas etiam suae perfectionis,<br />

quamdiu haec vita durat, certa esse non potest; cum<br />

etiam sapientissimi et perfectissimi viri per infirmitates corporales<br />

possint in insaniam devenire. Ergo beatitudo in hac<br />

vita haberi non potest.<br />

30


<strong>Worin</strong> <strong>das</strong> <strong>Glück</strong> <strong>besteht</strong><br />

4. Jede Sache begehrt natürlicherweise ihr Ziel. Aus dem<br />

Begehren nach dem Ziel aber entsteht ein Begehren nach den<br />

auf <strong>das</strong> Ziel gerichteten Dingen. Vorzugsweise sind aber jene<br />

Dinge auf ein Ziel ausgerichtet, ohne die man nicht zum Ziel<br />

gelangen kann. So aber wäre, wenn man die <strong>Glück</strong>seligkeit in<br />

diesem Leben nicht besitzen könnte, der Tod des Menschen<br />

auf die <strong>Glück</strong>seligkeit ausgerichtet. Also begehrt der Mensch<br />

natürlicherweise den Tod; was aufgrund <strong>von</strong> Erfahrung als<br />

falsch empfunden wird und der Autorität des Apostels widerspricht,<br />

der in 2Kor 5,4 sagt: »wir wollen nicht entkleidet, sondern<br />

überkleidet werden«. Also gibt es die <strong>Glück</strong>seligkeit des<br />

Menschen in diesem Leben. [32]<br />

Dagegen spricht aber:<br />

1. Niemand kann glückselig sein, der nicht <strong>das</strong> hat, was er<br />

gern will. Jeder wohlgeordnet <strong>Glück</strong>selige will aber seiner<br />

<strong>Glück</strong>seligkeit niemals beraubt werden. Also kann, wer dies<br />

[<strong>das</strong> Nicht-Beraubtwerdenkönnen seiner <strong>Glück</strong>seligkeit] nicht<br />

hat, nicht wahrhaft glückselig sein. Niemand aber hat dies<br />

in diesem Leben. Denn es ist unvermeidbar, <strong>das</strong>s wenigstens<br />

der Tod die <strong>Glück</strong>seligkeit beseitigt, die er in diesem Leben<br />

besitzen kann. Also kann man die <strong>Glück</strong>seligkeit in diesem<br />

Leben nicht besitzen.<br />

2. Niemand, dem noch irgendetwas zu erstreben bleibt,<br />

ist schon zum Letztziel gelangt. Aufgrund dessen muss der<br />

<strong>Glück</strong>seligkeit Selbstgenügsamkeit zukommen, wie es auch<br />

Aristoteles sagt. [33] Aber wie vollkommen jemand in diesem<br />

Leben auch ist, entweder an Wissen oder an Tugend oder auf<br />

irgendeine andere Weise: ihm bleibt etwas darüber hinaus zu<br />

erstreben, nämlich vieles zu wissen, was er nicht weiß. Es<br />

kann sogar keine sichere Vortrefflichkeit seiner Vollkommenheit<br />

geben, solange dieses Leben dauert, weil auch die weisesten<br />

und vollkommensten Männer durch körperliche Schwä-<br />

31


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong><br />

Praeterea, beatitudo ab omnibus ponitur maximum bonum.<br />

Sed maximum bonum est quod est malo penitus impermixtum.<br />

Cum ergo vita haec absque malis esse non possit, quantumcumque<br />

aliquis sit sapiens et virtute perfectus (ut manifeste<br />

apparet varios casus hominis intuendo); videtur quod in<br />

hac vita beatitudo esse non possit.<br />

32


<strong>Worin</strong> <strong>das</strong> <strong>Glück</strong> <strong>besteht</strong><br />

chen in Krankheit fallen können. Also kann man die <strong>Glück</strong>seligkeit<br />

in diesem Leben nicht besitzen.<br />

3. Die <strong>Glück</strong>seligkeit wird <strong>von</strong> allen für <strong>das</strong> größte Gut gehalten.<br />

Das größte Gut aber ist, was völlig unvermischt mit<br />

Üblem ist. Weil jedoch dieses Leben nicht ohne Übel sein<br />

kann, wie weise und an Tugend vollkommen jemand auch<br />

sein mag (wie sich durch <strong>das</strong> Betrachten der wechselnden<br />

Schicksale des Menschen deutlich zeigt), scheint es, <strong>das</strong>s es in<br />

diesem Leben keine <strong>Glück</strong>seligkeit geben kann.<br />

33


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong><br />

Solutiones et responsiones<br />

Quaestiuncula 1<br />

Solutio<br />

Respondeo dicendum ad primam quaestionem, quod beatitudo,<br />

cum sit naturaliter ab omnibus hominibus desiderata,<br />

nominat ultimum humanae vitae finem. Finis autem cujuslibet<br />

rei est operatio propria, vel per operationem propriam ad<br />

finem venit. Cum autem forma propria sit in qualibet re operationis<br />

propriae principium; forma autem propria hominis,<br />

inquantum est homo, sit rationalis anima; oportet quod vel in<br />

ipsis actibus rationalis animae beatitudo consistat, vel in his<br />

ad quae homo per actus rationalis animae comparatur. Haec<br />

autem bona animae dicuntur; unde necesse est beatitudinem<br />

ponere in bonis animae, etiam secundum philosophos. Quod<br />

autem aliqui beatitudinem in bonis corporis ponunt, ex hoc<br />

provenit quod seipsos quid essent ignorabant; non enim<br />

agnoscebant se secundum id quod est in eis melius, quod eorum<br />

esse formaliter complet, sed secundum id quod de eis exterius<br />

apparet; et secundum hoc in exterioribus bonis suam<br />

beatitudinem quaesierunt.<br />

Responsiones<br />

Ad primum ergo dicendum, quod multorum opinionem non<br />

est necesse esse veram simpliciter, sed secundum partem.<br />

Multitudo autem hominum in bonis corporis beatitudinem<br />

34


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Cover: makena plangrafik, Leipzig<br />

Satz: Druckerei Böhlau, Leipzig<br />

Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen<br />

ISBN 978-3-374-06920-0 // eISBN (PDF) 978-3-374-06921-7<br />

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