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VELKD – Christine Axt-Piscalar & Andreas Ohlemacher: Die lutherischen Duale (Leseprobe)

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<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong> / <strong>Andreas</strong> <strong>Ohlemacher</strong> (Hrsg.)<br />

<strong>Die</strong> <strong>lutherischen</strong> <strong>Duale</strong><br />

Gesetz und Evangelium, Glaube<br />

und Werke, Alter und Neuer Bund,<br />

Verheißung und Erfüllung


Vorwort<br />

Luther und die lutherische Theologie versuchen die Vielfalt<br />

der biblischen Texte und die Einheit von Altem und Neuem<br />

Testament im Licht des Evangeliums von Jesus Christus zu<br />

verstehen und existenzerschließend auszulegen, indem sie<br />

die <strong>Duale</strong> von Gesetz und Evangelium, Glaube und Werken,<br />

Altem und Neuem Bund, Verheißung und Erfüllung für die<br />

Auslegung der Schrift zur Geltung bringen. Welches ist der<br />

spezifische Sinn dieser <strong>Duale</strong>? Wie werden sie von Luther in<br />

seinem zeitgenössischen Kontext gebraucht? Inwiefern<br />

kommt ihnen eine zentrale Bedeutung auch für die Gegenwart<br />

zu? Welchen Anhalt haben sie an der Schrift, und lässt<br />

sich ihre Bedeutung auch unter den Bedingungen der historisch-kritischen<br />

Exegese behaupten? Darf das Alte Testament<br />

im hermeneutischen Rahmen dieser <strong>Duale</strong> ausgelegt werden<br />

oder widerspricht dies nicht nur dem Eigensinn der Texte,<br />

sondern auch ihrer eigenständigen Auslegung in den Traditionen<br />

des Judentums? Nicht zuletzt: Sind mit dem Gebrauch<br />

der <strong>Duale</strong> antijudaistische Abgrenzungen und Abwertungen<br />

verbunden? Wie können die <strong>Duale</strong> so gebraucht werden, dass<br />

jeglichem Antijudaismus gewehrt wird?<br />

<strong>Die</strong> vorliegende Aufsatzsammlung nimmt diese Fragen<br />

auf und führt sie einer vertieften Auseinandersetzung aus der<br />

Sicht der verschiedenen theologischen Disziplinen zu. <strong>Die</strong><br />

Beiträge behandeln die mit der Thematik der <strong>Duale</strong> gestellten<br />

Fragen nicht in jeder Hinsicht und nicht umfassend, nehmen<br />

jedoch grundlegende Klärungen vor. Dabei werden auch vor-<br />

5


Vorwort<br />

handene Spannungen zwischen den Auffassungen der Beitragenden<br />

deutlich: solche, die im spezifisch methodischen Zugang<br />

der jeweiligen Disziplinen begründet liegen, und auch<br />

solche, die innerhalb derselben Disziplin zu jeweils eigentümlichen<br />

Sichtweisen und unterschiedlichen Gewichtungen<br />

führen. So vermitteln die Texte ein Bild der lebendigen<br />

Auseinandersetzung um die <strong>Duale</strong> als einem zentralen Thema<br />

lutherischer Theologie, von der die Diskussionen dazu<br />

im Theologischen Ausschuss der Vereinigten Evangelisch-<br />

Lutherischen Kirche Deutschlands (<strong>VELKD</strong>) geprägt waren.<br />

<strong>Die</strong> Autoren und die Autorin zeichnen für ihre jeweiligen<br />

Beiträge verantwortlich und sind von der Kritik insofern<br />

auch entsprechend in die Verantwortung zu nehmen. <strong>Die</strong>se<br />

Sammlung erscheint parallel zur Handreichung Um des<br />

Evangeliums willen, einem vom Theologischen Ausschuss<br />

im Auftrag der Bischofskonferenz erarbeiteten und gemeinsam<br />

verantworteten Text. <strong>Die</strong> Beiträge können zur vertiefenden<br />

Lektüre herangezogen, aber auch selbständig für sich<br />

wahrgenommen werden, wie umgekehrt die Handreichung<br />

auch.<br />

<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong> entfaltet in einer Thesenreihe den<br />

Dual von Gesetz und Evangelium in seiner theologischen,<br />

hermeneutischen, existenziellen und homiletischen Bedeutung<br />

für die lutherische Theologie, um den Dual in seiner<br />

existenzerschließenden Bedeutung für die Gottes-, Selbstund<br />

Welterfahrung des Menschen zu erhellen. Dabei geht es<br />

um Gottes zweifaches Handeln am Menschen durch Gesetz<br />

und Evangelium, um das Verständnis dessen, was das „Sein<br />

unter dem Gesetz“ eigentlich meint und wie dies für die<br />

Selbst- und Welterfahrung des Menschen heute plausibilisiert<br />

werden kann. So wird das „Sein unter dem Gesetz“ als<br />

eine fundamentalanthropologische Bestimmung erläutert,<br />

6


Vorwort<br />

die nicht von der Abgrenzung gegenüber der jüdischen Religion<br />

lebt. Ferner wird dargelegt, wie vor diesem Hintergrund<br />

die befreiende Kraft des Evangeliums zu verstehen ist und<br />

welche Formen der Vergesetzlichung vor allem innerhalb der<br />

christlichen Theologie und der christlichen Frömmigkeitspraxis<br />

durch die rechte Unterscheidung von Gesetz und<br />

Evangelium zurückgewiesen werden, um das Evangelium<br />

zur Geltung zu bringen. Da dem Gebot als Gottes lebensdienlichem<br />

Willen bei Luther ebenso eine positive Bedeutung für<br />

das Leben des Christenmenschen zukommt, wird zugleich<br />

die spezifische Bestimmtheit des christlichen Handelns in<br />

den Blick genommen und verdeutlicht, dass die Heiligung im<br />

Alltag der Welt unabdingbar zum christlichen Leben gehört<br />

und inwiefern sie ihre Ermöglichung und eigentümliche Prägung<br />

im Glauben an Christus findet.<br />

Wolf-Friedrich Schäufele geht Luthers Gebrauch der Unterscheidung<br />

von Gesetz und Evangelium in den Vorreden zur<br />

Weihnachtspostille, zum Neuen Testament und zum Alten<br />

Testament (1522/23) im Einzelnen nach und erörtert, inwiefern<br />

Luther den theologischen Tiefsinn und die Komplexität,<br />

die er bezüglich des Gebrauchs der Unterscheidung bereits<br />

erreicht hatte und dann in seinen späteren Schriften hermeneutisch<br />

auch zur Geltung bringt, in den Vorreden nicht in<br />

angemessener Weise durchhält. Luthers theologische Erkenntnis,<br />

dass auch im Alten Testament Evangelium und im Neuen<br />

Testament auch Gesetz verkündigt wird, kommt in den Vorreden<br />

nicht konsequent genug zum Tragen, indem das Gesetz<br />

einseitig dem Alten Testament zugeordnet und dieses vorwiegend<br />

als ein Buch verstanden wird, das vor allem das Gesetz<br />

lehrt. <strong>Die</strong>se Auffassung vom Alten Testament als „Gesetzbuch“,<br />

die eine breite Wirkungsgeschichte zur Zeit Luthers<br />

und in der ganzen Theologiegeschichte hat, entspricht offen-<br />

7


Vorwort<br />

sichtlich, so Schäufeles Fazit, weder Martin Luthers tieferen<br />

Einsichten noch dem Stand lutherischer Theologie.<br />

Rochus Leonhardt behandelt den Dual Glaube und Werke,<br />

indem er zunächst die Auseinandersetzungen um die Bedeutung<br />

der Werke erörtert, die im Zusammenhang der <strong>lutherischen</strong><br />

Lehrbildung des 16. Jahrhunderts aufkamen und einer<br />

Klärung zugeführt wurden. Sodann erläutert er Luthers Verhältnisbestimmung<br />

von Glaube und Werken und macht<br />

deutlich, dass Luther stets und konsequent an der Bedeutung<br />

der guten Werke festgehalten hat, dass er jedoch mit allem<br />

Nachdruck gegen ihre Funktionalisierung für den Gewinn<br />

des Heils polemisierte, weil auf der Basis der Werke der<br />

Mensch zu keiner Gewissheit vor Gott und auch nicht vor sich<br />

selbst kommen kann. Dass das Verständnis der „Werkgerechtigkeit“<br />

in seiner Bedeutung für die Selbst- und Welterfahrung<br />

auch des modernen Menschen erhellend ist, zeigt Leonhardt<br />

etwa an der Erfahrung der Überforderung und ihren<br />

Folgen. Vor diesem Hintergrund profiliert er die Befreiung,<br />

die sich mit dem Glauben an das Evangelium einstellt, indem<br />

sich die Person im Glauben unabhängig von allen Werken als<br />

unbedingt heilswürdig erfährt. Indem der Glaubende so von<br />

der Sorge um sich selbst befreit ist, kann er sich selbstlos dem<br />

<strong>Die</strong>nst in der Welt zuwenden. Dabei schärft Leonhardt ein,<br />

dass das Reich Gottes nicht durch den Menschen verwirklicht<br />

werden kann und „protestantische Freiheit für eine von<br />

(selbst-)kritischer Reflexion geprägte Haltung (steht), in der<br />

sich eine dem Wohl des Nächsten verpflichtete Verantwortungsbereitschaft<br />

mit dem Bewusstsein der Differenz zwischen<br />

Letztem und Vorletztem verbindet“ (s. u. 127).<br />

Achim Behrens gibt einen Einblick in die zeitgenössische<br />

in sich vielstimmige Diskussion um die Bestimmung des Verhältnisses<br />

von Altem Testament und Neuem Testament in<br />

8


Vorwort<br />

der alttestamentlichen Wissenschaft, die sich in immer wieder<br />

neuen Schüben mit der Frage konfrontiert sieht, inwiefern<br />

das Alte Testament mit seinen auf vorchristliche Zeit<br />

zurückgehenden Texten christliche Relevanz hat und haben<br />

kann. Behrens legt dar, wie unterschiedlich in der alttestamentlichen<br />

Wissenschaft diesbezüglich argumentiert wird.<br />

Er wirbt dafür, die historisch-kritische Arbeit, die am Ursprungssinn<br />

der Texte orientiert ist, mit einer theologischen<br />

Gesamtschau zu verbinden, um den christlichen Gebrauch<br />

des Alten Testaments in Theologie und Kirche auch von Seiten<br />

der alttestamentlichen Wissenschaft angemessen zu reflektieren.<br />

Behrens führt dazu eine Reihe eigener Thesen zum<br />

Verständnis des Alten Testaments im Raum von christlicher<br />

Theologie und Kirche in die exegetische und allgemeintheologische<br />

Debatte ein.<br />

Ulrich Heckel behandelt das Them Alter und Neuer<br />

Bund in der biblischen Überlieferung und hält zunächst fest,<br />

dass die Unterscheidung keine typisch lutherische, sondern<br />

eine biblische ist und nur vor dem Hintergrund der biblischen<br />

Überlieferung, schon im Alten Testament und dann bei<br />

Paulus sowie im Hebräerbrief, angemessen zu verstehen ist.<br />

Heckel liefert einen höchst differenzierten Beitrag, der dadurch<br />

noch einmal besonderes Gewicht erhält, dass das Thema<br />

Alter und Neuer Bund einerseits prominent in der Abendmahlsliturgie<br />

vorkommt und insofern für das Selbstverständnis<br />

der christlichen Gemeinde zentral ist, dass der Dual<br />

andererseits jedoch in der gesamten Kirchengeschichte und<br />

nicht zuletzt auch bei Luther zu einer Abwertung des jüdischen<br />

Volkes und seiner Erwählung geführt hat. <strong>Die</strong>se Spannung<br />

hat Heckel kontinuierlich im Blick. Er bringt gegen das<br />

abgründige Missverständnis des göttlichen Ratschlusses als<br />

Abwertung eine differenzierte Analyse der biblischen Theolo-<br />

9


Vorwort<br />

gie in Stellung, insbesondere die paulinische Israeltheologie<br />

(Röm 9-11) und Theologie des Bundes, den Gott mit Abraham<br />

und in ihm mit allen Kindern Israels, die der Verheißung<br />

glauben, geschlossen hat. Während der Sinaibund von Paulus<br />

als ein bloß zeitweilig geltender Ausdruck des Bundeswillens<br />

ein- und zurückgestuft wird, ist für den Apostel im Blick auf<br />

Israel ausschlaggebend, dass Gott seiner Verheißung treu<br />

bleibt und an seiner Erwählung festhält, dass die christliche<br />

Gemeinde der apostolischen Mahnung untersteht, nicht hochmütig<br />

gegenüber Israel zu sein, dass sie vielmehr mit Israel<br />

den eschatologischen Erweis von Gottes Herrlichkeit erwartet.<br />

Das Grundbekenntnis der christlichen Gemeinde zu Christus<br />

als ihrem Herrn und Erlöser wird dadurch nicht relativiert.<br />

Vielmehr wird der Ratschluss Gottes anerkannt, der<br />

sich darin manifestiert, dass sich faktisch zwei Religionen gegenüberstehen,<br />

bis schließlich durch das Kommen des Erlösers<br />

vom Zion her, in dem die Christen den wiederkommenden<br />

Christus erwarten, ganz Israel errettet werden wird.<br />

Uwe Beckers Beitrag widmet sich dem Dual Verheißung<br />

und Erfüllung, der kein typisch lutherischer ist, sondern ein<br />

„Grundmodell der christlichen Rezeption der Bibel“ darstellt.<br />

Wie diese Rezeption sich durch die Jahrhunderte hinweg, bei<br />

Luther und in der neueren Theologiegeschichte, gestaltet hat,<br />

zeigt Becker an exemplarischen Konzeptionen. Dabei geht er<br />

besonders auf das im Neuen Testament prägende Verständnis<br />

des Christusgeschehens und auf die von den Verfassern des<br />

Neuen Testaments geübte Hermeneutik ein, die mit Verweis<br />

auf entsprechende alttestamentliche Zitate das Christusgeschehen<br />

als Erfüllung der Schriften verstanden haben. Dem<br />

räumt Becker ein gewisses Recht insofern ein, als die Sprachwelt<br />

des Alten Testaments dazu gedient habe und habe dienen<br />

müssen, das Neue des Christusgeschehens überhaupt<br />

10


Vorwort<br />

aussagen zu können. Als Alttestamentler und Anwalt der<br />

Texte mahnt Becker jedoch nachdrücklich die Einsicht in<br />

die Bedeutung des historischen Ursprungssinns der alttestamentlichen<br />

Texte für deren Verstehen an. Von daher kritisiert<br />

er eine vorschnelle Vereinnahmung der Texte des Alten Testaments<br />

und die damit einhergehende Gefahr einer Herabstufung<br />

des Alten Testament zu einer bloßen Vorstufe des<br />

Neuen Testaments. Demgegenüber ist dem „doppelten Ausgang“<br />

des Alten Testaments angemessen Rechnung zu tragen,<br />

die jüdische Auslegung der hebräischen Bibel zu würdigen<br />

und neben ihr auch eine christliche Lesart des Alten<br />

Testaments für legitim und notwendig anzuerkennen. Den<br />

Dual von Verheißung und Erfüllung in der Bezugnahme auf<br />

einzelne alttestamentliche Texte sieht Becker aus exegetischer<br />

Sicht jedoch als hochproblematisch an, da die Texte selber<br />

in ihrem historischen Ursprungssinn einen Bezug auf das<br />

Christusgeschehen nicht hergeben. Becker regt daher an, das<br />

Verständnis des Duals von den konkreten Bezugnahmen auf<br />

bestimmte Texte zu lösen und zu transformieren, „indem<br />

man aus einer zeitbedingten hermeneutischen Methode ein<br />

theologisches Programm zum Verhältnis der Testamente<br />

entwickelt“ (Becker, 254).<br />

<strong>Die</strong> Bischofskonferenz der <strong>VELKD</strong> hatte den Auftrag zu<br />

einer Befassung des Theologischen Ausschusses der <strong>VELKD</strong><br />

mit den <strong>lutherischen</strong> <strong>Duale</strong>n, insbesondere vor dem Hintergrund<br />

der grundlegenden Kritik an ihnen, an weiteren Zügen<br />

der Theologie und der Person Martin Luthers im Zusammenhang<br />

des jüdisch-christlichen Dialogs in den Jahren vor dem<br />

Reformationsjubiläum 2017 gegeben. <strong>Die</strong> hier versammelten<br />

Aufsätze sind während der mehrjährigen Arbeit am Thema<br />

entstanden, auch im Austausch mit den weiteren Kolleginnen<br />

und Kollegen im Theologischen Ausschuss der <strong>VELKD</strong>.<br />

11


Vorwort<br />

<strong>Die</strong> Bischofskonferenz der <strong>VELKD</strong> differenziert deutlich zwischen<br />

den von den einzelnen Beiträgern <strong>–</strong> Autorin und Autoren<br />

<strong>–</strong> zu verantwortenden wissenschaftlichen Beiträgen und<br />

der oben bereits erwähnten „Handreichung“, die separat erscheint.<br />

Ausdrücklich sieht es die Bischofskonferenz als Anliegen<br />

der <strong>VELKD</strong>, den wissenschaftlichen Diskurs in einem<br />

für lutherische Kirchen und Theologie existenziellen Feld zu<br />

fördern, in diesem Fall mit dem besonders hervorgehobenen<br />

Ziel, antijudaistischen Fehldeutungen zu wehren und vergangene<br />

Fehldeutungen aufzuarbeiten. Den Leserinnen und<br />

Lesern, insbesondere solchen im Predigtdienst, mögen die<br />

Aufsätze als Vertiefung und Anregung für ihren <strong>Die</strong>nst und<br />

für eine ausgewogene Nutzung der <strong>lutherischen</strong> <strong>Duale</strong> in der<br />

Predigtvorbereitung dienen.<br />

<strong>Die</strong> Herausgeber<br />

Göttingen/Hannover im März 2021<br />

12


Inhalt<br />

Gesetz und Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />

Thesen zur Bedeutung der <strong>lutherischen</strong> Unterscheidung<br />

<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong><br />

Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium . . . . . . . . . . . . . 49<br />

Ihre Bedeutung für das Verständnis des Alten Testaments<br />

nach seinen Bibelvorreden<br />

Wolf-Friedrich Schäufele<br />

Glaube und Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73<br />

Zur Aktualität einer reformatorischen Unterscheidung<br />

für die evangelische Ethik<br />

Rochus Leonhardt<br />

Altes und Neues Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129<br />

Neuere Modelle zur Bestimmung ihres Verhältnisses<br />

innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft<br />

Achim Behrens<br />

Alter und neuer Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151<br />

Zur Bedeutung dieses Gegensatzes in der biblischen Überlieferung<br />

Ulrich Heckel<br />

Verheißung und Erfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233<br />

Zu einem Grundmodell der christlichen Rezeption<br />

der jüdischen Bibel<br />

Uwe Becker<br />

Autoren und Theologischer Ausschuss der <strong>VELKD</strong> . . . . . . . . . . . . . . . 255<br />

13


<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong><br />

Gesetz und Evangelium<br />

Thesen zur Bedeutung der <strong>lutherischen</strong> Unterscheidung<br />

1. <strong>Die</strong> Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist für Luther<br />

und die lutherische Theologie die zentrale hermeneutische,<br />

theologische, existenzielle und homiletische Kategorie.<br />

Sie hat ihr eigentliches Zentrum in der existenziellen Erschließungskraft<br />

für die Gottes-, Selbst- und Welterfahrung<br />

des Menschen.<br />

1.1 <strong>Die</strong> Unterscheidung von Gesetz und Evangelium verhilft<br />

dazu, die Schrift als Ganze in der Einheit von Altem und<br />

Neuem Testament recht zu verstehen. Darin liegt ihre hermeneutische<br />

Bedeutung. „Es gilt nämlich zu wissen, dass die<br />

ganze Heilige Schrift in zweierlei Worte aufgeteilt wird: Gebot<br />

oder Gesetz Gottes und Verheißung oder Zusage.“ 1<br />

1.1.1 Dabei wird nicht einfach das Gesetz dem Alten Testament<br />

und das Evangelium dem Neuen Testament zugeordnet.<br />

Vielmehr redet auch das Neue Testament von dem Doppelgebot<br />

der Liebe und enthält ethische Weisungen in ihrer<br />

Bedeutung für das Leben des Christenmenschen; und auch<br />

das Alte Testament ist nicht nur Gesetz; in ihm gibt es nicht<br />

nur Gebote, sondern auch Verheißungen Gottes, die seine<br />

1 M. Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520), in: Deutsch-<br />

Deutsche Studienausgabe (= DDStA), Bd. 1, hg. v. D. Korsch, Leipzig 2012,<br />

287, 17<strong>–</strong>19.<br />

15


<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong><br />

Treue und Barmherzigkeit zusagen. Insofern gilt: „Es ist keyn<br />

buch ynn der Biblien, darynnen sie nicht beyderley sind, gott<br />

hatt sie alwege beyeynander gesetzt, beyde, gesetz und tzusagung.“<br />

2<br />

1.1.2 Im Kontext reformatorischer Bibelhermeneutik wird<br />

die Schrift in der Einheit von Altem und Neuem Testament<br />

vom Evangelium von Jesus Christus her und auf es hin ausgelegt<br />

und begriffen. Dadurch bekommt die Schrifthermeneutik<br />

ihren evangeliumsgemäßen, christlich geprägten Sinn.<br />

In dieser Perspektive liest, hört und rezipiert die Auslegungsgemeinschaft<br />

der <strong>lutherischen</strong> Kirchen die Bibel in der Einheit<br />

von Altem und Neuem Testament.<br />

1.2 <strong>Die</strong> Unterscheidung von Gesetz und Evangelium<br />

verhilft dazu, Gottes zweifaches Reden und Handeln am<br />

Menschen recht zu verstehen. Darin liegt ihre theologische<br />

Bedeutung. Das Gesetz ist diejenige Weise des Redens und<br />

Handelns Gottes, durch die er den Menschen in seiner Erlösungsbedürftigkeit<br />

(im Sein unter dem Gesetz) festhält und<br />

ihm seine Erlösungsbedürftigkeit aufdeckt (durch die Predigt<br />

des Gesetzes). Das Evangelium ist diejenige Weise des Redens<br />

und Handelns Gottes, durch die er den Menschen wahrhaft<br />

zu sich selbst bringt, indem er ihn zum Glauben an Jesus<br />

Christus führt, der ihn eine neue Kreatur werden lässt. Von<br />

Gott zu reden heißt, von diesem zweifachen Wirken Gottes zu<br />

reden, durch das er sich dem Menschen zu erfahren gibt und<br />

ihn durch die Gesetzerfahrung hindurch zum Evangelium<br />

führt.<br />

1.2.1 Wie kaum ein anderer Theologe reflektiert Luther auf<br />

die Erfahrung, dass Gottes Handeln durch das Gesetz den<br />

Menschen auf sich in seiner Verlorenheit und auf die Welt in<br />

2 M. Luther, Adventspostille, WA 10/1,2, 159, 7 f.<br />

16


Gesetz und Evangelium<br />

ihrer Übermächtigkeit zurückwirft; dass Gott sich dem Einzelnen<br />

und der Welt nur in diesem seinem „fremden Werk“<br />

zu erfahren gibt; dass er „sein gnädiges Angesicht verbirgt“ 3 .<br />

1.2.2 <strong>Die</strong>se Erfahrung ist für den Glaubenden, der an Gott<br />

festhält, die Erfahrung des Gesetzes in der Form radikaler Anfechtung.<br />

Jesu Gebet am Ölberg (Mk 14,33 ff.) sowie die Sterbeworte<br />

Jesu am Kreuz bei Markus (Mk 15,34) und Matthäus<br />

(Mt 27,46) sind für Luther der Ausdruck dieser Erfahrung in<br />

extremis, indem der, der sich ganz aus der Einheit mit Gott<br />

begriffen und aus dieser gelebt hat, von Gott in die abgrundtiefe<br />

Erfahrung seiner Verborgenheit geführt wird.<br />

1.2.3 Auch dem Glaubenden ist die Erfahrung der Anfechtung,<br />

die Gott durch sein fremdes Werk (opus alienum) an<br />

ihm heraufführt, nicht abgenommen. Durch sie hindurch,<br />

und zwar so, dass der Mensch nichts mehr von sich, sondern<br />

alles von Gott erwartet, führt Gott sein eigentliches Werk<br />

(opus proprium), die Erlösung des Menschen durch das Evangelium,<br />

herauf.<br />

„Und das ist es, was Jesaja Kap. 28 ,das fremde Werk Gottes‘ nennt,<br />

damit er sein [eigenes] Werk wirke (das heißt, er demütigt uns in uns,<br />

indem er uns zu Verzweifelnden macht, um uns in seiner Barmherzigkeit<br />

zu erhöhen, indem er uns zu Hoffenden macht).“ 4<br />

3 Mit dieser Formulierung ist die biblische Tradition (neben der Gottverlassenheitserfahrung<br />

Jesu, diejenige Hiobs und der Beter des Psalters) aufgerufen,<br />

auf die sich Luther für seine Rede vom Wirken des verborgenen Gottes<br />

bezieht. Luther beschreibt damit eine Erfahrung, die der Glaubende<br />

mit Gott macht. In der Phänomenologie der Glaubenserfahrung liegt die<br />

besondere Überzeugungskraft von Luthers Theologie. <strong>Die</strong>s gilt besonders<br />

für die Beschreibung der Erfahrung der Verborgenheit Gottes, des Seins<br />

unter dem Gesetz, der Freiheit im Glauben sowie des als simul iustus et peccator<br />

bestimmten Existenzvollzugs des Glaubenden.<br />

4 M. Luther, Heidelberger Disputation (1518), in: Lateinisch-Deutsche Studienausgabe<br />

(= LDStA), Bd. 1, hg. v. W. Härle, Leipzig 2006, 39, 28<strong>–</strong>32.<br />

17


<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong><br />

1.3 <strong>Die</strong> Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zielt<br />

im Kern darauf, so gebraucht zu werden, dass die Gottes-,<br />

Selbst- und Welterfahrung des Menschen in ihrer Heillosigkeit<br />

aufgedeckt wird und zugleich die befreiende Kraft des<br />

Evangeliums zum Tragen kommt. Darin erweist sich die Unterscheidung<br />

von Gesetz und Evangelium in ihrer existenziellen<br />

Bedeutung.<br />

1.4 Gesetz und Evangelium in dieser Weise als eine theologische<br />

Kategorie zu gebrauchen, in der durch das Gesetz das<br />

faktische Menschsein erhellt wird, darin liegt für Luther und<br />

die lutherische Theologie die fundamentale existenzielle Bedeutung<br />

der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.<br />

1.5 <strong>Die</strong> Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist<br />

für Luther von daher auch eine zentrale homiletische Kategorie.<br />

In der Predigt geht es um ein Geschehen, in dem der<br />

Mensch über sich selbst aufgeklärt (Gesetz) und wahrhaft zu<br />

sich selbst geführt (Evangelium) wird. Denn die Predigt hat<br />

die Aufgabe, das Evangelium von Jesus Christus auszulegen,<br />

und es so zuzusagen, dass sich seine freimachende, erlösende,<br />

heilsame Kraft an der Selbsterfahrung des Menschen existenziell<br />

bewahrheitet. Mit Luther zu sprechen: Es soll durch die<br />

Verkündigung dazu kommen, „dass du deinen Gott zu dir<br />

reden hörst“ 5 .<br />

1.6 In der Predigt, die das Evangelium als befreiende Botschaft<br />

für die Gottes-, Selbst- und Welterfahrung des Menschen<br />

auslegt und zusagt, kommt die existenzielle Bedeutung<br />

der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium im<br />

Eigentlichen zum Vollzug. 6 Daran wird deutlich, dass die<br />

5 M. Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520), DDStA, Bd. 1,<br />

285, 17, Hervorhebung CAP.<br />

6 <strong>Die</strong>s schließt andere Dimensionen der Predigt nicht aus. Indes, in der Wahr-<br />

18


Gesetz und Evangelium<br />

Un terscheidung von Gesetz und Evangelium nicht auf eine<br />

inhaltlich fixierte, ein für alle Mal feststehende Lehre abstellt,<br />

sondern ein Geschehen meint, in dem der Mensch über sich<br />

selbst aufgeklärt (Gesetz) und wahrhaft zu sich selbst (Evangelium)<br />

geführt wird.<br />

2. Das von Gott heraufgeführte Geschehen von Gesetz und<br />

Evangelium zielt darauf, den Menschen über sich selbst aufzuklären<br />

und ihn wahrhaft zu sich selbst zu führen. Beides<br />

steht dem Menschen von sich selbst her nicht offen. Weder vermag<br />

der Mensch sich selbst wahrhaft zu erkennen, noch vermag<br />

er aus sich heraus sich wahrhaft selbst zu finden. Es gehört<br />

zur erhellenden Kraft des Wortes Gottes in Gestalt von<br />

Gesetz und Evangelium, dass es den Menschen sich so erfahren<br />

lässt, wie es ihm aus sich heraus nicht immer schon möglich ist.<br />

2.1 <strong>Die</strong> Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist<br />

auf ein existenzielles Grundgeschehen bezogen. Sie stellt dar-<br />

nehmung von Gesetz und Evangelium liegt aus lutherischer Sicht die<br />

zentrale Bedeutung des Predigtgeschehens, indem die theologische Unterscheidung<br />

für die konkrete Gemeinde und auf ihre Lebenserfahrung hin <strong>–</strong><br />

diese erhellend, vertiefend und verwandelnd <strong>–</strong> zum Vollzug gebracht wird.<br />

Indem es in der Kraft des Heiligen Geistes dazu kommt, dass Gesetz und<br />

Evangelium den Menschen existenziell angehen, ihn ergreifen und verwandeln,<br />

handelt durch das Geschehen der Verkündigung Gott selbst.<br />

<strong>Die</strong>sen eschatologischen Charakter des Kerygmas hat R. Bultmann mit<br />

Recht in besonderer Weise betont, worauf hier eigens hingewiesen sei.<br />

Dass es dazu kommt, dass die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium<br />

auch gehört und das Evangelium im Glauben existenziell bestimmend<br />

wird, ist ein geistgewirktes und unverfügbares Geschehen im Herzen des<br />

Menschen. Es ist zu verstehen als ein Eingeholtwerden des menschlichen<br />

Herzens durch Gottes Wort <strong>–</strong> nicht als „Entscheidung“ des Menschen (ge -<br />

gen Bultmann u. a.), sich auf das Wort Gottes in existenzbestimmender<br />

Weise einzulassen.<br />

19


<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong><br />

auf ab, dass der Mensch über sich selbst der Aufklärung bedarf,<br />

und zwar einer Aufklärung, die ihm nicht schon durch<br />

sich selbst ohne weiteres möglich ist. Der Mensch ist blind<br />

sein Leben lang, wie Luther daher feststellt.<br />

2.2 Im Geschehen der Predigt des Gesetzes geht es nicht<br />

darum, dem Menschen gleichsam etwas äußerlich anzudemonstrieren.<br />

Darin liegt die größte Gefahr der Predigt des<br />

Gesetzes: in einen Modus des äußerlichen Andemonstrierens<br />

zu verfallen, der den Einzelnen gerade nicht innerlich zu erreichen<br />

vermag. Im Geschehen der Predigt des Gesetzes geht<br />

es demgegenüber vielmehr darum, den Menschen über sich<br />

selbst so aufzuklären, dass er sich und seine Lebenserfahrung<br />

darin wiedererkennt. Ein solches Sich-Wiedererkennen geht<br />

ihn <strong>–</strong> auf bedrängend erhellende Weise <strong>–</strong> unmittelbar an.<br />

2.2.1 Solches Sich-Wiedererkennen geht ihn so an, dass<br />

dieses Sich, das er darin wiedererkennt, ein solches ist, mit<br />

dem er selbst nicht im Reinen, nicht in Übereinstimmung,<br />

nicht in Identität steht 7 <strong>–</strong> so sehr es zugleich unveräußerlich<br />

zu ihm gehört.<br />

2.2.2 Solches Sich-Wiedererkennen geht ihn so an, dass<br />

das Sich, von dem der Einzelne durch seine Lebensgeschichte<br />

herkommt und das ihn unweigerlich ausmacht, als ein solches<br />

offenbar wird, das <strong>–</strong> bewusst oder unbewusst <strong>–</strong> an sich<br />

selbst festkrampft, ohne in gelingender Weise zu sich selbst<br />

zu kommen. „Verzweifelt man selbst sein wollen“, hat dies<br />

Kierkegaard genannt. 8<br />

7 Zur Erfahrung von Nichtidentität im Gewissen vgl. unten Nr. 6.<br />

8 S. Kierkegaard, <strong>Die</strong> Krankheit zum Tode. Eine christliche psychologische<br />

Erörterung zur Erbauung und Erweckung (1849), in: Gesammelte<br />

Werke, hg. v. E. Hirsch und H. Gerdes, 24./25. Abt., Gütersloh 3 1985; zur<br />

In terpretation vgl. Ch. <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong>, Ohnmächtige Freiheit. Studien<br />

zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius<br />

20


Gesetz und Evangelium<br />

2.2.3 Solches Sich-Wiedererkennen geht ihn so an, dass<br />

das Sich, das er darin wiedererkennt, dasjenige ist, auf das er<br />

sich selbst und auf das seine Welt um ihn herum ihn festgelegt<br />

hat und festlegt.<br />

2.2.4 Solches Sich-Wiedererkennen geht ihn so an, dass<br />

ihm die Endlichkeit seines Lebens, die vertanen Möglichkeiten<br />

gelingenden Menschseins und die Endgültigkeit des eigenen<br />

Todes bewusstwerden.<br />

2.2.5 Solches Sich-Wiedererkennen geht ihn so an, dass<br />

das Sich den Weltzusammenhang, in den es sich eingestellt<br />

findet, als einen übergriffigen, es selbst und seine Lebenswelt<br />

übermächtig und verhängnishaft bestimmenden Wirkzusammenhang<br />

wahrnimmt; es diesen als „Mächte und Gewalten“<br />

(Röm 8,38) erlebt, die sein Leben dominieren und ihn unfrei<br />

machen.<br />

2.2.6 Solches Sich-Wiedererkennen geht ihn so an, dass<br />

ihm der Mangel deutlich wird, den die von ihm für sich erstrebten<br />

Güter dieser Welt bei ihm hinterlassen.<br />

2.2.7 Solches Sich-Wiedererkennen geht ihn so an, dass<br />

der empfundene Mangel ihn zugleich ein wahrhaft Gutes <strong>–</strong><br />

unbestimmt <strong>–</strong> ahnen lässt, das Erfüllung des Lebens verheißt<br />

und mit sich bringt.<br />

Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher, Tübingen 1996;<br />

<strong>Die</strong>s., <strong>Die</strong> Krise der Freiheit. Überlegungen zur Sünde im Anschluss an<br />

Sören Kierkegaard, in: H. Hoping/M. Schulz, (Hg.), Unheilvolles Erbe?<br />

Zum Verständnis der Erbsündenlehre, Quaestio disputandi 231, Freiburg<br />

2009, 142<strong>–</strong>160; <strong>Die</strong>s., In sich verstrickte Freiheit. Zur Gegenwartsbedeutung<br />

von Sören Kierkegaards Sündenlehre, in: Ch. <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong>/M. Lasogga<br />

(Hg.), Christliche Existenz heute. Beiträge zur Gegenwartsbedeutung der<br />

Theologie Sören Kierkegaards, Leipzig 2015, 11<strong>–</strong>33.<br />

21


<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong><br />

3. Das Gesetz wird nicht nur und auch nicht vorwiegend als<br />

ethische Instanz erfahren, welche die Schulderfahrung des<br />

Menschen und das Verfehlen seiner geschöpflichen Bestimmung<br />

aufdeckt und vertieft. Der Wirkzusammenhang des<br />

Seins unter dem Gesetz geht darüber hinaus. Er greift dort, wo<br />

der Mensch auf sich und das, was er aus sich heraus ist und<br />

aus sich macht, zurückgeworfen wird. Er greift dort, wo der<br />

Weltzusammenhang, die „Mächte” und „Gewalten“ dieser<br />

Welt (Röm 8,28<strong>–</strong>39), als verhängnishafter Entfremdungszusammenhang<br />

erfahren wird und dem Menschen der Horizont<br />

auf Neues und Zukunft verstellt ist.<br />

4. <strong>Die</strong> faktische Erfahrung des Seins unter dem Gesetz ist<br />

nicht an die Predigt des Gesetzes gebunden. Der Machtcharakter<br />

des Seins unter dem Gesetz ist auch gerade außerhalb<br />

der kirchlichen Verkündigung erfahrbar. Er bestimmt den<br />

Menschen in seiner Selbst- und Welterfahrung und manifestiert<br />

sich in der bedrängenden Erfahrung der Selbstentzweiung<br />

und der als verhängnishaft und entfremdend erfahrenen<br />

Übermächtigkeit der Welt. <strong>Die</strong> Predigt des Gesetzes deckt nur<br />

auf, „was schon in der menschlichen Natur existiert“ 9 , wodurch<br />

sie mithin immer schon und weitgehend unbewusst bestimmt<br />

ist. „Denn das Gesetz ist zuvor schon faktisch da.“ 10<br />

4.1 In diesem Machtcharakter des Seins unter dem Gesetz<br />

wird Gott erfahren, nämlich als der verborgene, der die Selbstund<br />

Welterfahrung des Menschen immer schon und faktisch,<br />

indes verborgen gegenwärtig bzw. als abwesend gegenwärtig<br />

9 M. Luther, Erste Disputation gegen die Antinomer (1537), WA 39, 361, 30<br />

(„quae iam existunt in natura humana“).<br />

10 M. Luther, Zweite Disputation gegen die Antinomer (1538), WA 39, 477, 7<br />

(„Nam lex iam adest, ist schon da. Lex prius adest in facto“).<br />

22


Gesetz und Evangelium<br />

bestimmt. 11 „Denn er ist nicht fern von einem jeden von uns,<br />

[…], sei es innerlich oder äußerlich, weil wir in ihm selbst sind,<br />

leben und weben.“ 12<br />

11 Gegenüber der von Karl Barth und den sich ihm anschließenden Theologen<br />

hinsichtlich der <strong>lutherischen</strong> Weise, Gesetz und Evangelium zu unterscheiden,<br />

geübten Kritik ist u. E. an der Auffassung von der Erfahrung des<br />

Gesetzes als eines Existenzials, das den Menschen faktisch <strong>–</strong> weitgehend<br />

unbewusst und latent <strong>–</strong> bestimmt, und das entsprechend „fundamentalanthropologisch“<br />

erfasst und beschrieben werden kann, festzuhalten. Da -<br />

mit ist die Auffassung von einer bloß vorläufigen, uneigentlichen, in seiner<br />

abgründigen existenziellen Bedeutung allererst vom Evangelium her<br />

wahrhaft zu begreifenden Bedeutung des Seins unter dem Gesetz verknüpft,<br />

und eine durch Anknüpfung und Widerspruch hindurch vom<br />

Evangelium her aufgehobene Erkenntnis der Dimension des Gesetzeserfahrung<br />

behauptet. Mit dieser Auffassung geht der Anspruch einher, die<br />

Selbst- und Welterfahrung des natürlichen Menschen zu beschreiben und<br />

an sie anzuknüpfen, und so wird der Einsicht Rechnung getragen, dass die<br />

befreiende Erfahrung des Evangeliums eine Erfahrung darstellt, die sich<br />

an der Erfahrung des natürlichen Menschen heilsam bewahrheitet.<br />

<strong>Die</strong> hier vertretene Auffassung meint indes keine gleichsam einlinige Stufung,<br />

die von der unbewussten zur bewussten Gesetzeserfahrung und von<br />

ihr zum Evangelium in einer Weise fortschreitet, dass damit das Evangelium<br />

von ersterer bestimmt abhängig gemacht wird, wie der Vorwurf<br />

lautet. Es ist auch nicht intendiert, die Reihenfolge <strong>–</strong> zunächst Gesetzes-,<br />

dann Evangeliumspredigt <strong>–</strong> homiletisch gleichsam festzuschreiben. Indes:<br />

Um als Evangelium <strong>–</strong> als heilsam für den Menschen <strong>–</strong> erfahren zu werden,<br />

muss deutlich werden, inwiefern es auf eine existenzielle Situation des<br />

Menschen trifft, die von der Art ist, des zugesprochenen Heils bedürftig zu<br />

sein, sonst könnte das Evangelium nicht als Heil erfahren werden.<br />

<strong>Die</strong> hier vertretene Auffassung nimmt ferner theologisch ernst, dass die<br />

Gegenwart Gottes <strong>–</strong> als verborgene bzw. als abwesend gegenwärtige <strong>–</strong> die<br />

Selbst- und Welterfahrung des Menschen immer schon bestimmt, als solche<br />

dem Menschen indes nicht bewusst ist. <strong>Die</strong>s wird im Sinne einer faktischen<br />

und latenten Erfahrung des Gesetzes begriffen, die dem Menschen<br />

durch die Gesetzespredigt als Erfahrung des göttlichen Handelns und also<br />

im Blick auf die Gottesbeziehung erschlossen wird. <strong>Die</strong>se Erfahrung wird<br />

23


<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong><br />

5. Mit dem Beschriebenen ist noch keine konkrete Auslegung<br />

des Gesetzes gegeben, keine konkrete Erfahrung beschrieben,<br />

in der und durch die das Gesetz in der Weise wirkt, wie es beschrieben<br />

wurde. Es ist gleichsam nur eine strukturelle Bestimmung<br />

13 gegeben, wie das Gesetz am Menschen wirkt. <strong>Die</strong><br />

konkrete „Applikation“ des Gesetzes auf die gegenwärtige<br />

Selbst- und Welterfahrung des Menschen ist die vornehmliche<br />

Aufgabe der Predigt.<br />

6. Deutlich sollte zunächst der Grundzug der Gesetzespredigt<br />

geworden sein: Das Gesetz führt eine in jedem Fall schmerzhafte<br />

Selbsterkenntnis herauf bzw. vertieft sie <strong>–</strong> schmerzhaft,<br />

weil sie das Selbst aufdeckt, das unweigerlich zum Einzelnen<br />

gehört und von dem er sich nicht zu distanzieren vermag.<br />

6.1 <strong>Die</strong>se Selbsterfahrung wird dem Menschen von außen<br />

<strong>–</strong> durch die Predigt des Gesetzes <strong>–</strong> aufgedeckt bzw. vertieft.<br />

durch den Zuspruch des Evangeliums <strong>–</strong> als eines Neuen vom Himmel her<br />

(1Kor 2,9) <strong>–</strong> in einen anderen Horizont gestellt, dadurch noch einmal radikal<br />

vertieft und zugleich auf die Versöhnung hin ausgerichtet bzw. von der<br />

Versöhnung her begriffen. Will heißen, evangeliumsgemäße Predigt vom<br />

Gesetz ist immer im Horizont der Versöhnungsbotschaft wahrzunehmen.<br />

Dazu vgl. auch unten 11 ff.<br />

12 M. Luther, Über den rechtfertigenden Glauben (De fide iustificante),<br />

LDSTA, Bd. 2, 489, These 26. und 27. („Non enim longe abest ab unoquoque<br />

nostrum, […] sive intus, sive foris. Cum in ipso simus, vivamus et moveamur“);<br />

vgl. Apg 17,27 f.<br />

13 <strong>Die</strong> strukturelle Bestimmung ist keine Flucht ins dogmatisch Abstrakte;<br />

sie soll dazu verhelfen, die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium<br />

in ihrem Grundcharakter als zentrale hermeneutische, theologische und<br />

existenzielle Unterscheidung zu verstehen, um auf dieser Grundlage eine<br />

ge genwartsbezogene, vom Prediger wahrgenommene „Applikation“ der<br />

Un terscheidung zu ermöglichen. Vornehmlich der Predigt, dem mündlichen<br />

Wort, indem es auf die konkrete Gemeinde ausgerichtet ist, kommt<br />

die eigentümliche Aufgabe zu, diese Applikation zu vollziehen.<br />

24


Gesetz und Evangelium<br />

Mit dieser Selbsterfahrung wird er durch die Predigt des Gesetzes<br />

konfrontiert. Sie ist ein Geschehen, in dem der Mensch<br />

über sich selbst aufgeklärt, so aufgeklärt und mit sich konfrontiert<br />

wird, dass er sich darin wiedererkennt und wie Paulus<br />

spricht: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen?“<br />

(Röm 7,24).<br />

7. Das Evangelium und die Bewegung des Glaubens kulminieren<br />

darin, dass der Mensch unter dem Gesetz von sich selbst<br />

loskommt und dem ihn bedrängenden Weltzusammenhang<br />

entrissen wird, indem er im Glauben an Jesus Christus zu<br />

einem neuen Selbstsein gelangt.<br />

7.1 Vor dem Horizont der durch die Predigt des Gesetzes<br />

gewirkten Selbsterfahrung erhellt dasjenige, worin im Kern<br />

das Erlösende des Evangeliums liegt. Luther bringt es auf den<br />

Punkt: „Damit du aber aus dir und von dir, das heißt: aus<br />

deinem Verderben, herauskommen kannst.“ 14<br />

7.2 Von sich selbst loskommen wollen können und von<br />

sich selbst loskommen <strong>–</strong> ohne sich zu verlieren, sondern um<br />

wahrhaft zu sich selbst zu kommen <strong>–</strong>, dies ist die durch das<br />

Evangelium eröffnete Bewegung des Glaubens. Auf diese<br />

Grundbewegung hin begreift Luther den Glauben: dass der<br />

Mensch von sich loskommt, indem er in Christus <strong>–</strong> extra se <strong>–</strong><br />

sein wahres Selbstsein findet.<br />

7.2.1 <strong>Die</strong>se Grundbewegung ist eine radikale Anmutung<br />

für den Menschen, der in der Einstellung lebt, dass er durch<br />

sich selbst und für sich selbst zu wahrem Selbstsein gelangen<br />

kann.<br />

14 M. Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, DDStA, Bd. 1, 285,<br />

Z. 23 f., Hervorhebung CAP.<br />

25


<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong><br />

7.2.2 <strong>Die</strong>se Grundbewegung ist für den Menschen heilsam,<br />

indem das, was seine Identität ausmacht, nicht in seiner<br />

Hand und bei ihm selbst liegt, sondern in einem anderen<br />

<strong>–</strong> extra se in Christus <strong>–</strong> erlangt und erfahren wird.<br />

7.3 Der Glaubende findet das, was ihn zur Person macht,<br />

nicht schon in sich selbst. Er findet es im Bild Jesu Christi,<br />

lässt es sich durch das Evangelium zugesagt sein und eignet<br />

es sich existenzbestimmend an, indem er sich ganz von dem<br />

her begreift, wie Gott im Bilde Jesu Christi ihn sieht. 15 So<br />

„stellt er seinen lieben Sohn Jesus Christus vor dich hin und lässt dir<br />

durch sein lebendiges, tröstliches Wort sagen: Du sollst dich ihm mit<br />

festem Glauben überlassen und frisch auf ihn vertrauen.“ 16<br />

Darin erfährt der Glaubende das Evangelium, „wenn die<br />

stymme kompt, die da sagt, Christus sey deyn eygen mit leben,<br />

leren, wercken, sterben, aufferstehen unnd alles was er<br />

ist, hat, thutt und vermag“. 17 Denn:<br />

„Das Hauptstück und der Grund des Evangeliums ist, dass du Christus<br />

[…] als eine Gabe und ein Geschenk aufnimmst und erkennst, das<br />

dir von Gott gegeben und dir eigen ist <strong>–</strong> und zwar auf die Weise, dass<br />

du, wenn du ihm zusiehst oder zuhörst, wie er etwas tut oder leidet,<br />

nicht daran zweifelst, er selbst, Christus, sei mit solchem Tun und<br />

Leiden dein. Darauf sollst du dich nicht weniger verlassen, als hättest<br />

du es getan, ja als wärest du Christus selbst.“ 18<br />

15 Mit dieser Formulierung sei <strong>–</strong> bewusst ohne Rückgriff auf die Rechtfertigungslehre<br />

und ihre Terminologie <strong>–</strong> im Kern dasjenige ausgedrückt, was<br />

im Glauben existenziell angeeignet wird.<br />

16 M. Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, DDStA, Bd. 1, 285,<br />

24<strong>–</strong>27.<br />

17 M. Luther, Vorrede zum Septembertestament 1522, WA DB 6, 8, 18 f.<br />

18 M. Luther, Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen<br />

und erwarten soll (1522), DDStA, Bd. 1, 491, 33<strong>–</strong>40.<br />

26


Gesetz und Evangelium<br />

8. Von sich selbst loskommen können, extra se in einem anderen,<br />

in Jesus Christus, sich finden, in ihm zu sich selbst kommen,<br />

und dieses in ihm gewonnene Personsein gegen das alte<br />

Selbst und gegen den alten Weltzusammenhang zum Zuge<br />

bringen können: <strong>Die</strong>s ist der Grundzug des im Evangelium<br />

von Jesus Christus gründenden Glaubens.<br />

9. Das Evangelium ist auf die Erfahrung des Gesetzes bezogen.<br />

9.1 Indem es dem Selbst, von dem der Mensch herkommt,<br />

von dem her er sich versteht, von dem er sich selbst abhängig<br />

macht und auf das ihn die Welt festlegt, ein anderes Selbst<br />

entgegenstellt durch die Zusage einer neuen Identität in Jesus<br />

Christus. „Ist jemand in Christus, ist er eine neue Kreatur.<br />

Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“ (2Kor 5,17).<br />

9.2 Indem es die Schuld, die auf dem Menschen lastet und<br />

ihm sein Gottes-, Selbst- und Weltverhältnis verstellt, vergibt<br />

<strong>–</strong> und ihm so wieder Zukunft eröffnet.<br />

9.3 Indem es die „Mächte“ und „Gewalten“, die das Selbst<br />

der Dominanz des Weltzusammenhangs unterwerfen, durchbricht.<br />

Denn es nimmt den Glaubenden aus der Bestimmtheit<br />

durch den Weltzusammenhang heraus, indem es ihm<br />

eine unverbrüchliche Identität bei Gott zusagt und wahrhaft<br />

Neues, das nicht dem Weltzusammenhang entspringt, aufkommen<br />

lässt; ein Neues, das dem Einzelnen Zukunft ansagt<br />

und ihm neue Möglichkeiten des Lebens zuspielt.<br />

9.4 Indem es dem Menschen seine ihm von Gott zugedachte<br />

geschöpfliche Bestimmung vergewissert und ihn so<br />

mitnimmt in die Bewegung des von Gott als dem wahrhaft<br />

Guten bewegten und dem wahrhaft Guten lebenden Lebens. 19<br />

19 Das wahrhaft Gute ist der trinitarische Gott, indem er sich dem Einzelnen<br />

als derjenige verspricht, der sein Leben in seiner individuellen Besonder-<br />

27


<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong><br />

9.5 Indem es die unbedingte Affirmation des gelebten Lebens<br />

bei Gott und seine Vollendung durch die Auferstehung<br />

von den Toten verbürgt. 20<br />

9.6 Denn „selig werden […] weiß man wohl, daß nichts<br />

andres heißet, denn von Sunden, Tod, Teufel [i. e. den lebenswidrigen,<br />

übergriffigen Mächten und Gewalten] erlöset in<br />

Christus Reich kommen und mit ihm ewig leben“ 21 , jetzt<br />

schon und dann am Ende der Tage. 22<br />

10. <strong>Die</strong> Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist jeweils<br />

neu für die Gegenwart anzueignen und auszulegen.<br />

heit schafft und erhält, es aus der Verlorenheit von Sünde, Tod, Mächten<br />

und Gewalten erlöst und es in seinem ewigen Reich vollendet. Darin macht<br />

er wahr, was er zusagt und dem Einzelnen im Glauben vergewissert: „Ich<br />

bin der Herr dein, dein Gott, dich, dich meine ich und keinen andern.“ WA<br />

16, 433, 18 f., Hervorhebung CAP; vgl. Ch. <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong>, Was heißt<br />

einen Gott haben oder was ist Gott? Freiheitserfahrung im Lichte des<br />

ersten Gebots, in Ch. <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong>/M. Lasogga (Hg.), Dimensionen<br />

christlicher Freiheit. Beiträge zur Gegenwartsbedeutung der Theologie<br />

Luthers, Leipzig 2015, 55<strong>–</strong>81.<br />

20 M. Luther, Großer Katechismus, BSLK, 660.<br />

21 M. Luther, Großer Katechismus BSLK, 695, 46<strong>–</strong>696, 2 (BSELK, 1116, 18<strong>–</strong>20).<br />

22 Im Glauben wird dem Einzelnen Gottes Schöpferwille, der auf die Gemeinschaft<br />

mit seinem Geschöpf zielt, und seine in Christus offenbare Bestimmung<br />

vergewissert, auf die hin Gott mit ihm in seinem Leben ihn erlösend<br />

handelt und ihn in seinem ewigen Reich durch die Teilhabe am ewigen<br />

Leben vollendet. Vgl. M. Luther, Großer Katechismus, BSLK, 660, 32<strong>–</strong>38:<br />

„Denn er hat uns eben dazu geschaffen, daß er uns erlösete und heiligte<br />

und über, […] hat er uns auch seinen Sohn und heiligen Geist geben, durch<br />

welche er uns zu sich brächte.“ Das Evangelium sagt dies zu, es vergewissert<br />

dem Glaubenden, dass Gott verlässlich und wahrhaftig ist, und stiftet<br />

so ein das Leben im Ganzen tragendes Vertrauen. <strong>Die</strong>ses Vertrauen ehrt den<br />

trinitarischen Gott, indem es sich ganz auf Gott verlässt; und so ist es die<br />

Erfüllung des ersten Gebots.<br />

28


10.1 Luther sieht in der rechten Unterscheidung von Gesetz<br />

und Evangelium die höchste Kunst in der Christenheit:<br />

„Denn dieser Unterscheid zwischen dem Gesetz und Evangelio<br />

ist die hoecheste Kunst in der Christenheit, die alle und<br />

jede, so sich des Christlichen Namens rhuemen oder annemen,<br />

koennen und wissen sollen.“ 23 Es ist eine Kunst, die den<br />

Theologen zum wahren Theologen macht. „Wer das Evangelium<br />

recht vom Gesetz zu unterscheiden weiß, der danke Gott<br />

und darf wissen, daß er ein Theologe sei.“ 24 Es ist zugleich<br />

eine überaus schwierig zu übende theologische Kunst, die<br />

auch für Luther, wie er selbst zugibt, eine besondere Herausforderung<br />

darstellt.<br />

„<strong>Die</strong>se Kunst, nehmlich das Gesetz und Evangelium recht zu unterscheiden<br />

und eigentlich von einander zu sondern, ist wohl bald gelernet,<br />

so viel die Wort betrifft; wenns aber dazu kömmet, daß mans im<br />

Leben und Herzen erfahren und versuchen soll, da wirds einem so<br />

hoch und schwer, daß er gar nichts davon kann noch verstehet.“ 25<br />

Und weiter:<br />

Gesetz und Evangelium<br />

„Kein Mensch auf Erden ist, der da kann und weiß das Evangelium<br />

und Gesetz recht zu unterscheiden. Wir lassen es uns wol dünken,<br />

wenn wir hören predigen, wir verstehens; aber es feilet weit, allein der<br />

heilige Geist kann diese Kunst. Dem Manne Christo hats auch gefeilet<br />

am Oelberge, also, daß ihn ein Engel mußte trösten; der war doch ein<br />

Doctor vom Himmel und der heilige Geist war in Gestalt einer Tauben<br />

auf ihme gesessen, noch ward er durch den Engel gestärkt. Ich<br />

hätte auch wol gemeinet, ich könnte es, weil ich so lange und so viel<br />

23 M. Luther, Predigt zu Gal 3,23 ff. (1532); WA 36, 25, 21<strong>–</strong>24.<br />

24 M. Luther, Galatervorlesung (1531) WA 40/1, 207, 17 f. („Qui igitur bene<br />

novit discernere Euangelium a lege, is gratias agat Deo et sciat se esse Theologum.“)<br />

25 M. Luther, Tischreden, WA TR 6, 142, 26<strong>–</strong>30.<br />

29


<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong><br />

davon geschrieben hab; aber wahrlich, wenn es ans Treffen gehet, so<br />

sehe ich wol, daß mirs weit, weit feilet! Also soll und muß allein Gott<br />

der heiligste Meister und Lehrer sein.“ 26<br />

10.2 <strong>Die</strong> Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist eine<br />

theologisch und existenziell grundlegende Kategorie, die zu<br />

üben, zu praktizieren, zu gebrauchen ist, will heißen: die vom<br />

Theologen jeweils neu für seine Gegenwart anzueignen und<br />

existenziell auszulegen ist. Ihre fundamentale Bedeutung bewährt<br />

die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, indem<br />

sie die elementare existenzielle Situation des Menschen<br />

aufdeckt bzw. mit ihr konfrontiert und das Evangelium als<br />

Erfahrung der Befreiung und der Erlösung zur Geltung<br />

bringt. Darin, dieses für den Menschen und seine Gottes-,<br />

Selbst- und Welterfahrung auszulegen, liegt die Aufgabe und<br />

Herausforderung, die mit der Unterscheidung von Gesetz<br />

und Evangelium dem Theologen jeweils neu gestellt ist.<br />

11. Das, was dem Menschen „Gesetz“ ist, ist an der Selbsterfahrung<br />

des Menschen der Gegenwart zu erhellen und zu bewähren.<br />

<strong>Die</strong>s bedeutet, es gibt nicht die ein für alle Mal inhaltlich<br />

gleichsam feststehende Rede vom Gesetz und vom<br />

Sein unter dem Gesetz. Es gehört vielmehr zur theologischen<br />

Kunst, die Rede vom Gesetz und vom Sein unter dem Gesetz in<br />

gegenwartsverantworteter Weise mit Blick auf die Selbst- und<br />

Welterfahrung des Menschen zum Zuge zu bringen.<br />

11.1 <strong>Die</strong>s kann und es soll zu theologisch unterschiedlichen<br />

Konkretionen der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium<br />

führen.<br />

26 M. Luther, Tischreden, WA TR 2, 4, 8<strong>–</strong>16.<br />

30


Gesetz und Evangelium<br />

11.2 Hermeneutisch wichtig ist zum einen, dass es sich<br />

dabei <strong>–</strong> im Sinne des Sich-Wiedererkennens <strong>–</strong> um elementare<br />

Erfahrungen des Menschen handelt, die durch die Predigt<br />

des Gesetzes zur Sprache und ans Licht gebracht werden.<br />

11.3 Hermeneutisch unabdingbar ist dabei zum anderen,<br />

dass die Bezogenheit auf das Evangelium mitgeführt und damit<br />

vereitelt wird, dass die Rede vom Gesetz vom Evangelium<br />

verselbständigt und in der Folge gesetzlich gehandhabt wird.<br />

Denn eine vom Evangelium verselbständigte und insofern<br />

gesetzliche Handhabung des Gesetzes macht die negative<br />

Selbsterfahrung zum Selbstzweck. Darin krampft das Selbst<br />

immer noch an sich selbst fest und kann gerade nicht von sich<br />

loslassen. <strong>Die</strong>sem Verständnis der Selbsterfahrung unter dem<br />

Gesetz wehrt Luther nachdrücklich <strong>–</strong> und dies ist vor allem<br />

im Blick auf unterschiedlich geprägte christliche Frömmigkeitskulturen<br />

zu hören. Hier liegt eine besondere Stoßrichtung<br />

von Luthers Kritik an einer vom Evangelium losgelösten<br />

Fixierung auf die durch das Gesetz gewirkte Erfahrung. Zwar<br />

kommt es und muss es durch das Gesetz zur schmerzhaften<br />

Selbsterfahrung kommen, weil der Mensch sonst nicht von<br />

sich selbst loskommen wollen kann. <strong>Die</strong>se negative Selbsterfahrung<br />

ist jedoch kein Selbstzweck, sondern eine heilsame<br />

Erfahrung, indem sie zugleich auf das Evangelium hin ausgerichtet<br />

wird und durch das Evangelium Versöhnung erfährt.<br />

12. Gesetz und Evangelium sind zu unterscheiden und in rechter<br />

Weise aufeinander zu beziehen, damit das Gesetz nicht<br />

gesetzlich gebraucht wird; damit das Evangelium nicht zum<br />

Gesetz wird; und damit das Evangelium nicht banalisierend<br />

und verharmlosend gebraucht wird.<br />

31


<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong><br />

12.1 Das Gesetz wird gesetzlich gehandhabt, wenn es<br />

nicht auf das Evangelium und die Versöhnung, die das Evangelium<br />

zusagt, bezogen wird.<br />

12.2 Das Evangelium wird zum Gesetz, wenn es nicht als<br />

reine Gabe und reine Zusage und Verheißung gepredigt wird.<br />

12.3 Das Evangelium wird banalisiert und verharmlost,<br />

wenn nicht auch deutlich wird, dass und inwiefern es sich<br />

auf eine heillose Erfahrung des Menschen bezieht.<br />

12.4 Das Evangelium wird banalisiert und verharmlost,<br />

wenn nicht auch von der anderen Weise des Handelns Gottes<br />

am Menschen, seinem Handeln durch den Anspruch des Gesetzes<br />

in seiner bedrängenden Verborgenheit, in der Erfahrung<br />

des Machtcharakters des Seins unter dem Gesetz und in<br />

der Anfechtung des Glaubenden gesprochen wird.<br />

13. <strong>Die</strong> Unterscheidung von Gesetz und Evangelium bezieht<br />

beides aufeinander und ordnet beides einander zu. Sie impliziert<br />

indes nicht, dass immer und in jedem Fall zunächst das<br />

Gesetz und daraufhin das Evangelium zu predigen ist.<br />

14. <strong>Die</strong> bei Luther vorhandene scharfe Kritik an einer falschen<br />

Handhabung des Gesetzes ist in ihrem theologischen Kern<br />

nicht primär religionsspezifisch adressiert. 27 Sie zielt auf die<br />

im Evangelium begründete Mahnung, das Evangelium nicht<br />

zum Gesetz werden zu lassen und mit dem Gesetz im christlichen<br />

Leben nicht gesetzlich umzugehen. Ihren primären Ort<br />

hat diese scharfe Polemik im Kontext der christlichen Konfessionen.<br />

Denn sie bekennen das Evangelium von Jesus Christus<br />

und haben es in seinem Charakter als reine Gabe zu wahren.<br />

27 Allenfalls ist zu sagen, dass aus Luthers Sicht alle Religiosität, die nicht<br />

vom Evangelium bestimmt ist, unter der Gesetzeserfahrung steht.<br />

32


Gesetz und Evangelium<br />

14.1 <strong>Die</strong> Kritik am Gesetz zielt bei Luther zuvörderst auf<br />

eine gesetzliche Handhabung des Gesetzes innerhalb der<br />

christlichen Konfessionen. Hier hat sie ihre besonders scharfe<br />

Polemik, weil es dabei um das Eigentümliche, um das Evangeliumsgemäße<br />

des christlichen Glaubens geht.<br />

14.2 Luther sieht hier zum einen die Gefahr, dass das Evangelium<br />

als reine und unverdiente Gabe Gottes gesetzlich gepredigt<br />

und damit grundlegend verkehrt wird.<br />

14.2.1 <strong>Die</strong>s ist dann der Fall, wenn die Gabe des Evangeliums<br />

von der Erfüllung von Bedingungen auf Seiten des Menschen<br />

abhängig gemacht wird und so die Bedingungslosigkeit<br />

der im Glauben gewährten Gnade unterlaufen wird.<br />

14.2.2 <strong>Die</strong>s ist dann der Fall, wenn Christus lediglich als<br />

ethisches Vorbild und der Glaube bloß als imitatio dieses Vorbildes<br />

verstanden wird.<br />

14.2.3 Darin werden der Gabecharakter des Evangeliums<br />

und das Sich-beschenken-Lassen des Glaubens als Grundzug<br />

evangeliumsgemäßen Glaubens verkannt.<br />

14.3 Luther sieht in der gesetzlichen Handhabung des Gesetzes<br />

zum anderen die im Evangelium gründende Freiheit<br />

des Christenmenschen unterlaufen.<br />

14.3.1 <strong>Die</strong>s ist dann der Fall, wenn am Grad der Heiligkeit<br />

des Lebens der Grad des Gnadenstandes des Einzelnen abgelesen<br />

und seine Zugehörigkeit zur Gemeinde daran bemessen<br />

wird.<br />

14.3.2 <strong>Die</strong>s ist dann der Fall, wenn die schöpferische Kraft<br />

der Liebe, die das Evangelium dem Menschen offenbart und<br />

im Menschen weckt, durch eine Fixierung auf Normen <strong>–</strong><br />

welcher Art auch immer (religiöse, gesellschaftliche, ethische,<br />

politische) <strong>–</strong> eingeengt und so die schöpferische Kraft der Liebe<br />

unterlaufen wird, die sich spontan und ungezwungen auf<br />

den konkreten Einzelnen in seiner besonderen Situation ein-<br />

33


<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong><br />

lässt und ihm neue Möglichkeiten des Lebens und Zukunft<br />

zuspielt. 28 Davon erzählen die Gleichnisse Jesu.<br />

15. Im Glauben an das Evangelium kommt der neue Geist auf,<br />

der vom lebenswidrigen Sog des Gesetzes unter der Sünde befreit,<br />

indem er den Einzelnen davon entlastet, sein Personsein<br />

vor Gott, vor sich selbst und vor der Welt in die eigene Hand<br />

nehmen zu müssen. Der Geist führt im Glauben die Gewissheit<br />

herauf, dass Gott den Einzelnen im Bild Jesu Christi<br />

sieht, und lässt ihn in dieser Gewissheit, befreit von der Sorge,<br />

sein Personsein selbst begründen und sichern zu müssen, leben.<br />

16. <strong>Die</strong> Freiheit des Christenmenschen ist eine in der Bindung<br />

an Jesus Christus im Glauben gewonnene Freiheit. Sie ist eine<br />

Freiheit, die den Glaubenden zu einer neuen Kreatur werden<br />

lässt. Sie ist eine Freiheit, die zugleich den „Impuls“ zu einem<br />

christusförmigen Leben mit sich führt.<br />

17. <strong>Die</strong> Freiheit des Christenmenschen, die im Glauben in der<br />

Bindung an Christus gewonnen wird, befreit und bestimmt<br />

den Christenmenschen zugleich zu einem christusförmigen<br />

Leben, in welchem die Liebe Gottes, wie sie in Christus offenbar<br />

geworden ist <strong>–</strong> mithin die Liebe, mit der er uns zuerst geliebt<br />

hat <strong>–</strong> zum Quellgrund seines ethischen Handelns wird.<br />

17.1 <strong>Die</strong> Freiheit des Christenmenschen hebt die guten<br />

Werke nicht auf, sondern lässt den Glauben in den guten<br />

Werken wirksam werden.<br />

17.2 <strong>Die</strong> guten Werke werden im Glauben überformt<br />

durch die Liebe, die sich von der Liebe eingeholt erfährt, mit<br />

28 Zur Christusförmigkeit des christenmenschlichen Lebens und zur Liebe<br />

als Ausdrucksgestalt desselben vgl. unten bes. Nr. 21.<br />

34


Gesetz und Evangelium<br />

der Gott uns in Christus zuerst geliebt hat. „Lasst uns lieben;<br />

denn er hat uns zuerst geliebt“ (1Joh 4,19).<br />

17.3 Solche Liebe ist eine schöpferische Kraft, die den konkreten<br />

Einzelnen in seiner besonderen Situation im Blick hat<br />

und ihm neue Möglichkeiten des Lebens zuspielt und Zukunft<br />

eröffnet. Dadurch unterscheidet sich die Liebe von einer<br />

Norm oder einer allgemeinen Regel, die zum Prinzip ethischen<br />

Handelns erhoben wird.<br />

17.4 Mit der Betonung der Freiheit eines Christenmenschen<br />

geht keine abstrakte Polemik gegen die guten Werke<br />

und schon gar nicht ihre Aufhebung als Ausdrucksgestalt<br />

des Glaubens einher. Wie das Neue Testament so betont auch<br />

Luther das „In-der-Liebe-Bleiben“ als Ausdrucksgestalt des<br />

„Seins in der Liebe“, mithin als Ausdrucksgestalt des neuen<br />

Gottes- und Lebensverhältnisses, das im Glauben geschenkt<br />

und in dem vom Geist bewegten Lebensraum gelebt wird:<br />

„Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns,<br />

und seine Liebe ist in uns vollkommen. Daran erkennen wir,<br />

dass wir in ihm bleiben und er in uns, dass er uns von seinem<br />

Geist gegeben hat“ (1Joh 4,1 f.).<br />

18. <strong>Die</strong> Freiheit des Christenmenschen hebt die Bedeutung des<br />

Dekalogs nicht auf. Sie begreift den Dekalog als eine dem Leben<br />

des Einzelnen und der Gemeinschaft förderliche Grundorientierung.<br />

Denn das Gebot als Ausdruck des Willens Gottes<br />

ist dem Menschen zum Leben gegeben (Röm 7,10).<br />

18.1 Zwar gab es in der <strong>lutherischen</strong> Theologie der Reformationszeit<br />

eine Auseinandersetzung darüber, ob die Freiheit<br />

des Christenmenschen nicht gerade dadurch bestimmt<br />

sei, dass sie keiner Bindung an den Dekalog unterliegt, eine<br />

solche Bindung an den Dekalog gerade nicht brauche, sondern<br />

sie hinter sich lasse, indem der Christenmensch aus sei-<br />

35


<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong><br />

ner Freiheit im Glauben heraus die guten Werke tut. 29 <strong>Die</strong><br />

Konkordienformel hat diese Auffassung in einer differenzierten<br />

Argumentation zurechtgerückt.<br />

18.2 Sie hält zunächst und grundlegend fest, dass das Gesetz<br />

in seiner Funktion, den Übertreter des göttlichen Willens<br />

von der Gottesgemeinschaft auszuschließen, mit dem Kommen<br />

des Evangeliums in persona Jesu Christi ein für alle Mal<br />

ausgedient hat. <strong>Die</strong>s ist evangelische Grundeinsicht, an der<br />

nichts erübrigt werden kann.<br />

18.3 Zudem wird der Charakter des Evangeliums als reine<br />

Gabe betont und herausgestellt, dass das Halten der Gebote<br />

nicht dazu dienen kann, sich das Heil vor Gott zu erwerben<br />

und vor sich selbst mit sich ins Reine zu kommen. Auch diese<br />

Funktion der Einhaltung der Gebote ist mit dem Evangelium<br />

in persona Jesu Christi ans Ende geführt.<br />

18.4 <strong>Die</strong> Konkordienformel bekräftigt jedoch zugleich <strong>–</strong><br />

mit Verweis auf Ps 1,2 und 119,2 <strong>–</strong>, dass auch die Christenmenschen<br />

„sich doch im Gesetz des Herrn täglich üben sollen“<br />

30 . „Dann das Gesetz ist ein Spiegel, in welchem der Wille<br />

Gottes und was ihme gefällig, eigentlich abgemalet ist, das<br />

man den Gläubigen stets fürhalten, und bei ihnen ohn Unterlaß<br />

fleißig treiben soll.“ 31<br />

18.5 <strong>Die</strong> Konkordienformel begründet dies damit, dass<br />

auch der Christenmensch noch ein Sünder bleibt, 32 nicht<br />

schon vollkommen erneuert ist, und ihm der Dekalog insofern<br />

eine hilfreiche Orientierung gibt, sein Leben und das<br />

Leben der Gemeinschaft lebensförderlich zu gestalten. <strong>Die</strong><br />

29 Luther hat sich mit dieser Auffassung besonders in den Disputationen mit<br />

den Antinomern auseinandergesetzt.<br />

30 FC Art. VI, BSLK, 963, 27 f.<br />

31 FC Art. VI, BSLK, 963, 31<strong>–</strong>36.<br />

32 Vgl. unten Nr. 8 zum simul iustus et peccator.<br />

36


Gesetz und Evangelium<br />

Grundüberzeugung, die hierbei obwaltet, ist, dass das Gebot<br />

dem Menschen zum Leben gegeben ist (Röm 7,10), dass es als<br />

Ausdruck des Willens Gottes des Schöpfers ein lebensdienliches<br />

Gebot ist.<br />

18.6 <strong>Die</strong> Konkordienformel reflektiert freilich zugleich<br />

darauf, dass das Gebot als ein zum Leben Gegebenes in der<br />

Hand des Sünders verkehrt wird, so dass es seine eigentliche<br />

Funktion <strong>–</strong> ein gottwohlgefälliges Leben, gelingendes Menschsein<br />

und gemeinschaftsförderliches Leben zu ermöglichen <strong>–</strong><br />

nicht erfüllen kann („Sollte Gott gesagt haben?“, Gen 3,1). In<br />

der Hand des Sünders wird das Gebot in seiner lebensdienlichen<br />

Bedeutung verkehrt: etwa in der frommen Selbstgerechtigkeit;<br />

im gnadenlosen Richten, das es heraufbeschwört; in<br />

jenem Sog des Handelns, der mit dem Sollen auch ein Können<br />

fordert und einen krampfhaften Drang nach Selbstverwirklichung<br />

aufkommen lässt, der die Person über ihre Werke bestimmt.<br />

18.7 Vor diesem Hintergrund macht die Konkordienformel<br />

geltend, dass im Glauben an das Evangelium jener Grundimpuls<br />

gegeben wird, auf den das Gebot dem Willen des Schöpfers<br />

nach zielt: es als ein lebensdienliches sich gesagt sein zu<br />

lassen („Es ist dir gesagt Mensch, was gut ist“, Mi 6,8); es als<br />

dem Leben förderliches begreifen zu können und sich an ihm<br />

selbsttätig zu orientieren.<br />

19. <strong>Die</strong>se Wahrnehmung des Gebots als ein dem Leben dienliches<br />

und den Impuls zu seiner freiwillentlichen Einhaltung<br />

schenkt der Heilige Geist im Glauben. Ohne das evangeliumsgemäße<br />

Wirken des Heiligen Geistes steht der Mensch,<br />

und steht auch der Glaubende noch, in Gefahr, das ihm zum<br />

Leben gegebene Gebot in lebens- und gottwidriger Weise zu<br />

verkehren <strong>–</strong> und das Gebot gesetzlich zu handhaben.<br />

37


<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong><br />

20. <strong>Die</strong> Orientierung an der lebens- und gemeinschaftsdienlichen<br />

Bedeutung des Gebots ist gelebter Ausdruck der Freiheit<br />

des Christenmenschen. <strong>Die</strong>se gewinnt freilich in der Liebe ihre<br />

eigentümliche Gestalt, und sie gewinnt in der Liebe auch noch<br />

einmal die Freiheit vom Gebot, insofern die Liebe sich schöpferisch<br />

und spontan auf den konkreten Nächsten in der jeweiligen<br />

Situation einlässt und ihm zugute selbstlos handelt.<br />

21. In der schöpferischen und spontanen Zuwendung zum<br />

Nächsten kommt die Liebe zum Vollzug, und sie kommt so<br />

zum Vollzug, dass der Christenmensch im Glauben mit Christus<br />

eins, ihm gleichgestaltet wird und aus dieser Einheit mit<br />

Christus heraus christusförmig lebt und handelt.<br />

21.1 <strong>Die</strong> im Glauben begründete Teilhabe an der Liebe<br />

Christi und das Gleichgestaltetwerden mit Christus zu einem<br />

christusförmigen Handeln bringt Luther vornehmlich mit<br />

dem Philipperhymnus zum Ausdruck. 33 <strong>Die</strong> „ethische Orientierung“<br />

des Christenmenschen wird durch die Christusförmigkeit<br />

der Liebe eigentümlich geformt, die der Liebe Christi<br />

darin gleichförmig wird, dass sie dem anderen nicht nur „auf<br />

Augenhöhe“ begegnet und ihn schon gar nicht herabwürdigt<br />

und demütigt, sondern der Bewegung der Hingabe Jesu an<br />

den Mitmenschen folgt und diesen in der hingebenden Zuwendung<br />

zu ihm „erhöht“. 34<br />

„Denn deshalb bist du stark, damit du die Schwachen nicht noch ohnmächtiger<br />

machst durch Unterdrücken, sondern stark machst durch<br />

Erhöhen und Verteidigen. Und deshalb bist du weise, damit du die<br />

33 Vgl. M. Luther, Sermon über die zweifache Gerechtigkeit (1519), LDSTA,<br />

Bd. 2, 67<strong>–</strong>85, sowie den zweiten Teil der Freiheitsschrift.<br />

34 In der Freiheitsschrift verknüpft Luther das freie Herrsein des Christenmenschen<br />

im Glauben mit seinem Knechtsein gegenüber dem Nächsten;<br />

38


Gesetz und Evangelium<br />

Törichten nicht verlachst und sie so noch törichter machst, sondern<br />

damit du dich ihrer annimmst und sie klug machst, genauso wie du<br />

auch wolltest, dass man an dir tut. So bist du gerecht, damit du den<br />

Ungerechten rechtfertigst und entschuldigst, nicht aber ihn verdammst,<br />

erniedrigst, richtest und strafst. Das nämlich ist Christus<br />

uns Vorbild 35 <strong>–</strong> wie er es auch sagt: ,Der Menschensohn ist nicht<br />

gekommen, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn<br />

gerettet werde.‘ Und Luk 9 sagt er: ,Ihr wisst nicht, wes Geistes Kinder<br />

ihr seid. Der Menschensohn ist nicht gekommen, die Seelen zu verderben,<br />

sondern sie zu retten.‘ Aber die Natur stemmt sich heftig dagegen,<br />

weil sie sich an der Rache, an der Herrlichkeit ihrer eigenen Gerechtigkeit<br />

und an der Schande der Ungerechtigkeit des Nächsten er götzt.“ 36<br />

21.2 Zur Liebe gegenüber dem Nächsten ist der Christenmenschen<br />

befreit, indem er im Glauben dessen gewahr wird,<br />

was ihm selbst schon von Gott gewährt ist, so dass er sich <strong>–</strong><br />

losgelöst von der Sorge um sich selbst <strong>–</strong> dem anderen selbstlos<br />

zuwenden kann.<br />

22. Für den Vollzug der christusförmigen Liebe, in der sich die<br />

Freiheit des Christenmenschen verwirklicht, ist die Einheit<br />

des Glaubenden extra se mit Christus grundlegend.<br />

beides gründet in der Einheit des Glaubenden mit Christus, in beidem<br />

nimmt er teil an dem Sein Jesu Christi, der sein Herrsein in der Hingabe an<br />

die Verlorenen verwirklicht.<br />

35 Der Begriff des Vorbildes ist im Zusammenhang dessen zu begreifen, was<br />

zu Christus als Gabe ausgeführt wurde und zur Einheit mit Christus im<br />

Glauben, der teilnimmt an der Bewegung der Liebe Jesu Christi und in dieser<br />

christusförmigen Teilhabe die Liebe Gottes in die Welt bringt. Isoliert<br />

betrachtet führt der Begriff des Vorbildes in die Irre, und genau dies, so<br />

schärft Luther ein, darf nicht sein, wenn man dem Evangelium gemäß predigen<br />

will <strong>–</strong> hier gilt: Christus ist zuvor als Gabe und erst hernach als Vorbild<br />

zu begreifen. Vgl. dazu M. Luther, Ein kleiner Unterricht, was man<br />

in den Evangelien erwarten und suchen soll, 492 (s. Anm. 18).<br />

36 M. Luther, Sermon über die zweifache Gerechtigkeit, 79 f. (s. Anm. 33).<br />

39


<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong><br />

22.1 <strong>Die</strong> Einheit mit Christus gewinnt der Christenmensch,<br />

indem er im Glauben aus sich heraus <strong>–</strong> extra se <strong>–</strong> in<br />

Christus versetzt wird.<br />

22.2 <strong>Die</strong>se Einheit mit Christus extra se ist eine solche, in<br />

der das Ich des Glaubenden von Christus unterschieden ist<br />

und solcherart, als von Christus unterschiedenes, in der Einheit<br />

mit ihm lebt. Das Ich des Glaubenden wird im Glauben<br />

nicht ins mystische All-Eine aufgesogen, sondern es lebt als<br />

ein von Christus unterschiedenes in der Einheit mit Christus.<br />

22.3 Sie ist eine Einheit, die nicht als gleichsam bloß anfängliche<br />

Konstitution der Freiheit des Christenmenschen,<br />

die in der Folge dann aus sich selbst heraus tätig wäre, zu verstehen<br />

ist.<br />

22.4 Sie ist insbesondere keine bloß statische Einheit,<br />

sondern sie kommt vielmehr im tätigen Vollzug des ganzen<br />

Lebens eines Christenmenschen zur Verwirklichung.<br />

22.5 Mithin ist ein Werden in der Gleichgestaltung mit<br />

Christus gemeint, in welchem Werden sich die Verwirklichung<br />

der geschöpflichen Bestimmung des Menschen durch<br />

sein je konkretes Leben hindurch vollzieht und mit der Auferstehung<br />

von den Toten ihre Vollendung findet. „Denn<br />

Christus nimmt unablässig in uns Gestalt an, und wir werden<br />

zu seinem Bild gestaltet, solange wir hier leben.“ 37<br />

37 M. Luther, Thesen für fünf Disputationen über Römer 3,28 (1535<strong>–</strong>1537),<br />

LDSTA, Bd. 2, 441, These 34 („Formatur enim Christus in nobis continue, et<br />

nos formamur ad imaginem ipsius, dum hic vivimus.“); vgl. auch die Thesen<br />

aus der Disputation über den Menschen (Disputatio de homine 1536),<br />

LDSTA, Bd. 1, 669, These 35: „Daher ist der Mensch dieses Lebens Gottes bloßer<br />

Stoff für das Leben in seiner zukünftigen Gestalt“. („Quare homo huius<br />

vitae est pura materia Dei ad futurae formae suae vitam.“) Und These 38:<br />

„So ist der Mensch in diesem Leben im Verhältnis zu seiner künftigen<br />

Gestalt, wenn das Bild Gottes wiederhergestellt und vollendet worden sein<br />

40


Gesetz und Evangelium<br />

23. <strong>Die</strong> christliche Kirche ist die Gemeinschaft derer, die vom<br />

Evangelium von Jesus Christus bewegt sind und in ihrem Kommunikations-<br />

und Lebenszusammenhang die rechte Unterscheidung<br />

von Gesetz und Evangelium einüben und walten lassen.<br />

Kleine Summa: Was ist mit Gesetz gemeint?<br />

Was heißt „Sein unter dem Gesetz“?<br />

1. Wenn Luther vom Gesetz spricht, meint er vor allem<br />

eine existenzielle Grunderfahrung, die durch das Gesetz und<br />

das Sein unter dem Gesetz bedingt ist.<br />

2. Unter Gesetz versteht Luther nicht das Alte Testament<br />

als solches. Es gibt im Alten Testament auch Verheißungen<br />

Gottes; und es gibt im Neuen Testament auch Gebote und<br />

Weisungen.<br />

3. Unter Gesetz versteht Luther schon gar nicht die Zeremonial-<br />

und Kultgesetze des Alten Testaments. <strong>Die</strong>se haben<br />

ihre Geltung für die jüdische Kultusgemeinde. <strong>Die</strong> christliche<br />

Gemeinde betreffen sie nicht.<br />

4. <strong>Die</strong> Unterscheidung von Gesetz und Evangelium begreift<br />

Luther auch nicht primär als eine heilsgeschichtliche<br />

Abfolge, derart, dass die Zeit des Gesetzes durch die Zeit des<br />

Evangeliums abgelöst wird.<br />

4.1 Abgetan ist für ihn die den Menschen von der Gemeinschaft<br />

mit Gott trennende Bedeutung des Gesetzes in allen<br />

seinen Schattierungen, indem das Evangelium in persona<br />

Jesu Christi in die Welt gekommen ist.<br />

wird.“ („Talis est homo in hac vita ad futuram formam suam, cum reformata<br />

et perfecta fuerit imago Dei.“)<br />

41


<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong><br />

4.2 Abgetan ist für ihn die Bedeutung des Gesetzes, sich<br />

durch das Halten des Gesetzes vor Gott des Heils würdig zu<br />

machen. <strong>Die</strong>s ist mit dem Kommen des Evangeliums in persona<br />

Jesu Christi aufgehoben.<br />

4.3 Es ist vor allem im Kontext der christlichen Konfessionen<br />

wachzuhalten und polemisch nach innen hin zu entfalten,<br />

dass diese Funktionen des Gesetzes durch das Kommen<br />

des Evangeliums in persona Jesu Christi für die christliche<br />

Gemeinde aufgehoben sind, um zu vereiteln, dass sie im<br />

Raum der Kirche in unevangelischer Weise Platz greifen.<br />

5. Unter Gesetz versteht Luther den Dekalog als eine für<br />

die gelingende Gemeinschaft unter Menschen und für den<br />

Einzelnen lebensdienliche Grundorientierung. Als solche hat<br />

er eine orientierende Bedeutung auch für den Christenmenschen<br />

und die Kirche.<br />

5.1 Mit einer breiten theologischen und philosophischen<br />

Tradition geht Luther davon aus, dass der Dekalog „Naturgesetz“<br />

(lex naturae) in dem Sinne ist, dass seine Gebote universelle<br />

Gültigkeit haben. Und mit Röm 2,15 geht er, wiederum<br />

mit einer breiten Tradition, davon aus, dass das Naturgesetz<br />

dem Menschen ins Herz geschrieben, also allen Menschen bekannt<br />

ist und sie im Gewissen unweigerlich anspricht.<br />

6. Im Gewissen erfährt der Mensch den Anspruch des<br />

Gesetzes als ein Sollen von ihn subjektiv unbedingt bindendem<br />

Charakter. Im Gewissen erfährt er zugleich die richtende<br />

Instanz, welche die Abweichung vom Gesollten anklagt (im<br />

schlechten Gewissen) bzw. die Übereinstimmung mit dem<br />

Gesollten festhält (gutes Gewissen).<br />

6.1 <strong>Die</strong> Erfahrung des Gewissens ist gnadenlos, wo sie als<br />

diejenige unausweichliche Instanz im Menschen sich meldet,<br />

die ihn richtet und so die Erfahrung von Nicht-Identität mit<br />

sich heraufführt. Dabei ist es zunächst unerheblich, von wo-<br />

42


Gesetz und Evangelium<br />

her das Gewissen seine richtenden Normen bezieht (aus dem<br />

Dekalog, aus dem „Über-Ich“, aus dem gesellschaftlichen<br />

Wertekonsens, den Rollenzuschreibungen und Fremdwahrnehmungen).<br />

Ausschlaggebend ist der gnadenlose Charakter<br />

der Gerichtserfahrung im Gewissen, der sich der Einzelne<br />

nicht entziehen kann, insofern sie das Selbst betrifft, das ihn<br />

unweigerlich ausmacht.<br />

6.2 Gnadenlos indes kann auch die Erfahrung des guten<br />

Gewissens sein, insofern sie das getane Gesollte zum Maßstab<br />

der eigenen Selbsteinschätzung macht und den Menschen so<br />

in den Sog zieht, der Macher des eigenen Selbst und seiner<br />

Welt zu sein. Es potenziert den Sog der Selbstmächtigkeit, der<br />

die Person sich von ihrem Werk her verstehen lässt.<br />

6.3 Luther und eine breite Tradition lutherischer Theologie<br />

begreift das „Gewissen“ als Ort des richtenden Anspruchs<br />

Gottes, wenn und insofern im Gewissen die richtende Erfahrung<br />

gemacht wird, die in ihrer Absolutheit, Unentrinnbarkeit,<br />

Endgültigkeit und Bedingungslosigkeit nicht anders<br />

denn als Gericht Gottes verstanden werden kann (vgl. etwa<br />

E. Hirsch, K. Holl, G. Ebeling, N. Slenczka). Sie stellt sich ein,<br />

wenn das faktische Menschsein des Einzelnen im Licht seiner<br />

geschöpflichen Bestimmung zur Erfahrung radikaler Nicht-<br />

Identität gebracht wird. Unabhängig davon, ob man für diese<br />

Erfahrung das Gewissen in Anspruch nimmt und sich damit<br />

auch die philosophische und psychologische Kritik am Gewissensbegriff<br />

zuzieht, ist die Erfahrung, auf die hierbei abgestellt<br />

wird, festzuhalten: Es ist die Erfahrung, dass der<br />

Mensch in seinem Leben sich nicht nur anderen, sondern vor<br />

allem sich selbst, seiner geschöpflichen Bestimmung und damit<br />

sich auch Gott schuldig geblieben ist; und dass ihm dies<br />

zu einer Erfahrung gebracht wird, in der er sich in einem inneren<br />

und unauflöslichen Widerspruch zu sich selbst erfährt.<br />

43


<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong><br />

7. <strong>Die</strong> Unterscheidung von Gesetz und Evangelium versteht<br />

Luther vornehmlich als eine existenzielle Kategorie. Er<br />

bezieht dabei das Evangelium so auf das Gesetz, dass die anklagende,<br />

den Menschen auf sich und den Wirkzusammenhang<br />

seiner Welt festlegende Funktion des Gesetzes nicht das<br />

letztgültige Wort über den Menschen behält, sondern das<br />

Evangelium von Jesus Christus den Menschen in diesem Leben<br />

und am jüngsten Tag von dieser Dimension des Gesetzes<br />

erlöst, indem der Einzelne im Bild Jesu Christi sein wahres<br />

Selbst zugesprochen bekommt.<br />

8. Indem der Christenmensch im Glauben eine neue Kreatur<br />

ist und zugleich ein Sünder bleibt (simul iustus et peccator),<br />

greift auch die Gesetzeserfahrung in seinem Leben.<br />

8.1 Es gehört zu den tiefen existenziellen Einsichten Luthers<br />

in die Glaubenserfahrung, dass der Glaubende im Glauben<br />

an Christus zwar eine neue Kreatur ist, dass er jedoch<br />

nicht schon vollkommen erneuert ist, sondern zugleich „der<br />

alte Adam, als der unstellig, streitig Esel, […] auch noch ein<br />

Stück an ihnen“ ist. 38 Indem Luther festhält, dass der Mensch,<br />

solange er lebt, ein Sünder bleibt, hebelt er erneut und grundlegend<br />

eine gesetzliche Handhabung des Gesetzes und ein gesetzliches<br />

Fehlverständnis des Evangeliums aus.<br />

8.2 <strong>Die</strong> Zugehörigkeit zu Christus wird im Glauben dem<br />

Sünder und nicht dem Gerechten zugesprochen. Und die Zugehörigkeit<br />

zur Gemeinde wird nicht am Grad der Vollkommenheit<br />

des christlichen Lebens abgelesen und bemessen.<br />

Dafür steht das Evangelium in persona Jesu Christi ein. <strong>Die</strong><br />

Einsicht in das simul iustus et peccator hat insofern selbst<br />

noch einmal eine befreiende Wirkung: Sie entlastet den Glaubenden<br />

davon, der empirischen Wirklichkeit seines gelebten<br />

38 FC Art. VI, BSLK, 969, 16 f.<br />

44


Gesetz und Evangelium<br />

Lebens nach 39 ein Heiliger sein und sich danach verstehen zu<br />

müssen.<br />

8.3 Weil das, was ihn als Person ausmacht, nicht von ihm<br />

und dem, was er tut oder auch nicht tut, abhängt, sondern im<br />

Evangelium von Jesus Christus verbürgt ist, wird der Christenmensch<br />

dazu befreit, täglich gegen den alten Adam anzukämpfen<br />

und seiner gottgemäßen Bestimmung zu leben.<br />

Darin durchläuft er unter dem Beistand des Heiligen Geistes<br />

auch eine Entwicklung in seinem Glaubensleben. Doch diese<br />

ist nicht frei von Rückschlägen, in denen der alte Adam <strong>–</strong><br />

meist unvermerkt <strong>–</strong> sich wieder stärker ins Leben einschleicht<br />

und seine Wirkmächtigkeit entfaltet. Durch Wort und Sakrament<br />

erneuert Gott den Menschen wieder und wieder, 40 der<br />

dennoch zeitlebens ein Sünder bleibt, und „arbeitet“ an ihm<br />

und mit ihm zusammen (cooperari), damit er zu einem gelingenden<br />

Leben findet.<br />

9. <strong>Die</strong> Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist an<br />

der Selbst- und Welterfahrung des Menschen je neu zu bewähren.<br />

Darin liegt die besondere Herausforderung gerade<br />

der Predigt.<br />

Welche Einseitigkeiten zu vermeiden sind und wie nicht<br />

vom Gesetz und vom Sein unter dem Gesetz geredet werden<br />

39 Im Glauben indes hat der Glaubende teil an der Heiligkeit Christi und ist<br />

in diesem Glauben vor Gott geheiligt.<br />

40 <strong>Die</strong>se jeweils neue Vergewisserung des Glaubenden durch Wort und Sakrament<br />

ist zusammenzunehmen mit Luthers Betonung der Einmaligkeit<br />

und Unverbrüchlichkeit der in der Taufe begründeten Zugehörigkeit zu<br />

Christus in ihrer Bedeutung für das ganze Leben des Christenmenschen.<br />

Dazu vgl. Ch. <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong>, <strong>Die</strong> Bedeutung der Taufe für das Ganze<br />

des christenmenschlichen Lebens. Grundzüge lutherischer Lehre von der<br />

Taufe, in: Ch. <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong>/C. Cordemann, Taufe und Kirchenzugehörigkeit.<br />

Zum theologischen Sinn der Taufe, ihrer ekklesiologischen und<br />

kirchenrechtlichen Bedeutung, Leipzig 2017.<br />

45


<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong><br />

soll, damit das Evangelium nicht als Gesetz verstanden und<br />

das Gesetz nicht gesetzlich gehandhabt wird, wurde oben angesprochen.<br />

Welches aber sind solche Grunderfahrungen des<br />

Menschen, die als Erfahrungen des Gesetzes und<br />

des Seins unter dem Gesetz erhellt und für die<br />

Selbsterfahrung des Menschen in der Gegenwart<br />

durchsichtig gemacht werden können?<br />

<strong>Die</strong> konkrete Applikation der Gesetzespredigt gehört zu den<br />

grundlegenden Herausforderungen der Predigt. Solche Applikation<br />

kann den Predigerinnen und Predigern nicht abgenommen<br />

werden. Im Folgenden seien gleichwohl beispielhaft<br />

einige Grunderfahrungen genannt und kurz skizziert,<br />

die von existenzieller Relevanz sind und als Manifestationen<br />

des Seins unter dem Gesetz begriffen werden können. 41<br />

1. <strong>Die</strong> Erfahrung der Schuld : Man ist sich dem anderen<br />

schuldig geblieben; man ist sich sich selbst schuldig geblieben;<br />

man ist sich Gott schuldig geblieben. Es geht dabei um<br />

die geschöpfliche Bestimmung des Menschen, zu der er von<br />

Gott berufen ist, die der Mensch verfehlt bzw. immer schon<br />

verfehlt hat. „Moralines“ ist hier zu vermeiden. <strong>Die</strong> Ausrichtung<br />

auf ethisch Gesolltes greift, wenn es um die geschöpfliche<br />

Bestimmung des Menschen vor Gott <strong>–</strong> ein menschlicher<br />

Mensch unter Menschen in einer gemeinsam geteilten Welt<br />

zu sein <strong>–</strong> geht, zu kurz. Es geht um die existenzielle Einsicht,<br />

41 Dass und inwiefern das Evangelium eine freimachende Bedeutung hat,<br />

sollte durch die Ausführungen im Text hinreichend deutlich geworden<br />

sein.<br />

46


Gesetz und Evangelium<br />

sich Gott schuldig geblieben zu sein, den Gottesbezug im<br />

Leben verfehlt zu haben, indem man nicht dankbar wahrnimmt,<br />

was einem mit dem Leben und im Leben immer<br />

schon an guten Gaben gewährt ist. Es geht um die existenzielle<br />

Einsicht, von einem Lebensvollzug herzukommen und<br />

ihn zu perennieren, der durch selbstbezügliches Festkrampfen<br />

an dem eigenen Ich bestimmt war und ist, der so das<br />

eigene Ich und seine Mitwelt in der Enge eigener Selbstbezüglichkeit<br />

festgehalten hat, das heißt: sich dem Kommen<br />

der Zukunft Gottes und ihren freimachenden Möglichkeiten<br />

versperrt hat, vielfach eher faktisch und unbewusst als bewusst.<br />

2. Der um sich greifende Ungeist des Richtens : Der im<br />

Kleinen wie im Großen obwaltende Ungeist des wechselseitigen<br />

Richtens, der das Leben des Menschen durchzieht: im<br />

„moralinen“ Urteilen; im worin auch immer begründeten<br />

abschätzigen Umgang mit dem anderen; darin, dass man<br />

dem kursierenden Richtergeist seinen Lauf lässt und ihm<br />

nichts entgegenstellt; im Sich-selbst-Richten, wodurch auch<br />

immer; in der darin begründeten Engherzigkeit gegen sich<br />

selbst und gegenüber dem anderen.<br />

3. Der Blick, der mich festlegt : Darin, wie ich mich selbst<br />

sehe, und darin, wie andere mich sehen (Fremdwahrnehmung,<br />

Rollenerwartungen und ihre Internalisierungen); der<br />

Blick des Machers: Ich bin vor mir das, was ich aus mir gemacht<br />

habe; der Blick der anderen, die mich darauf festlegen,<br />

was ich bin/nicht bin, habe/nicht habe, versäumt habe/geleistet<br />

habe etc.<br />

4. <strong>Die</strong> Übergriffigkeit von Mächten und Gewalten : Der<br />

Wirkzusammenhang eines gesellschaftlichen Paradigmas,<br />

welches als Deutungszusammenhang überhandnimmt und<br />

den Sog mit sich führt, zur gleichsam allesbestimmenden<br />

47


<strong>Christine</strong> <strong>Axt</strong>-<strong>Piscalar</strong><br />

Wirklichkeit zu werden: Ideologien, Weltanschauungen, gesellschaftliche<br />

Systeme mit dem Anspruch auf alleiniges Deutungsmonopol<br />

und in ihrer faktischen übergriffigen Wirkmächtigkeit<br />

über die Gesellschaft und den Einzelnen. Dadurch<br />

kommt es zu einem festgelegten und eingeengten<br />

Horizont des Welt- und Selbstverstehens, der einen wirkmächtigen,<br />

verhängnishaft erfahrenen Wirkzusammenhang<br />

bildet, die Gesellschaft und den Einzelnen übergriffig dominiert<br />

und die Selbst- und Welterfahrung beherrscht.<br />

5. <strong>Die</strong> Ambivalenz der Freiheitserfahrung : <strong>Die</strong> Freiheit<br />

des Menschen ist nicht erst dann problematisch, wenn sie bewusst<br />

oder unbewusst etwas Böses tut. Sie hat immer schon<br />

einen ambivalenten Charakter, indem sie zur Selbstmächtigkeit<br />

aufruft und damit den Sog heraufführt, durch Selbsttätigkeit<br />

und Selbstverwirklichung auch „selig“ zu werden, ein<br />

gelingendes Leben haben zu können. Darin wirft der Ruf der<br />

Freiheit den Einzelnen auf sich selbst zurück: verzweifelt<br />

man selbst sein wollen. <strong>Die</strong> Freiheit manifestiert sich zugleich<br />

auch dort als ambivalent, wo sie verweigert wird, indem<br />

der Einzelne sich auf sich selbst zurückzieht und seine<br />

Bestimmung zur geschöpflichen Freiheit unbewusst oder bewusst<br />

verweigert: verzweifelt nicht man selbst sein wollen.<br />

6. <strong>Die</strong> Sprache in ihrem verdinglichenden Charakter, ihrem<br />

die Dinge und den Anderen verwertenden und zurichtenden<br />

Gestus. Unsere Sprache ist nicht erst dann „gesetzlich“,<br />

wenn sie mit Normen aufwartet, an denen der Einzelne gemessen<br />

und beurteilt wird. <strong>Die</strong> Sprache ist auch und vor allem<br />

dann gesetzlich, wenn sie verdinglichend, verwertend, zurichtend,<br />

nur im bloßen Modus der Aussage daherkommt und so<br />

ihr Leben eröffnender, Zukunft ansagender, Möglichkeiten<br />

zusprechender, den Horizont der Selbst- und Welterfahrung<br />

transformierender Charakter nicht zur Geltung kommt.<br />

48


Wolf-Friedrich Schäufele<br />

Luthers Unterscheidung von<br />

Gesetz und Evangelium<br />

Ihre Bedeutung für das Verständnis<br />

des Alten Testaments nach seinen Bibelvorreden<br />

I Theologischer und literarischer Dual:<br />

Gesetz/Evangelium und Altes Testament/<br />

Neues Testament<br />

<strong>Die</strong> Reformation hat ein neues Verständnis der Bibel und eine<br />

neue Art des Umgangs mit ihr begründet. Es sind elementare<br />

Grundentscheidungen der Theologie Luthers, die den<br />

Ge brauch der Bibel im Luthertum, die Prinzipien der reformatorischen<br />

Bibelhermeneutik und auch das Urteil über das<br />

Alte Testament über Jahrhunderte hinweg und teilweise bis<br />

heute maßgeblich geprägt haben.<br />

<strong>Die</strong>se Prägekraft der Theologie Luthers für die spätere lutherische<br />

Bibelhermeneutik hängt wesentlich damit zusammen,<br />

dass Luther der Bibel im Vergleich zur mittelalterlichen<br />

Theologie einen völlig veränderten Stellenwert anwies. <strong>Die</strong>ser<br />

bestand nicht allein darin, dass für ihn die Bibel nicht mehr<br />

nur die wichtigste, sondern die einzige, exklusive, gegen das<br />

kirchliche Lehramt und seine Rechtssätze mobilisierbare Norm<br />

für christlichen Glauben und christliches Leben war. Infolge<br />

von Luthers Entdeckung des göttlichen Wortes als Heilsmittel<br />

gewann die Bibel vielmehr soteriologischen Rang. Dass es<br />

das Wort der göttlichen Zusage (Verheißung, promissio) war,<br />

das im Menschen den Glauben (fides) weckt und, in diesem<br />

49


Wolf-Friedrich Schäufele<br />

Glauben empfangen, Vergebung, Leben und Seligkeit schenkt,<br />

war nach Oswald Bayer sogar der eigentliche Inhalt der reformatorischen<br />

Entdeckung Luthers. 1 Klassisch entfaltet hat<br />

Luther die Promissio-fides-Relation 1520 im Zusammenhang<br />

der Sakramentenlehre in „De captivitate Babylonica ecclesiae<br />

praeludium“, Bayer findet sie aber auch schon in der Disputation<br />

„De veritate inquirenda“ vom Frühsommer 1518. 2 Ob<br />

man den soteriologischen Charakter des Wortes zwingend<br />

am Promissio-Begriff festmachen muss, kann hier dahingestellt<br />

bleiben. Entscheidend ist, dass für Luther Gott sich in<br />

seinem Wort ausspricht, dem Menschen in seinem Wort als<br />

Richter und Erlöser begegnet und ihm durch das Wort seine<br />

Gnade mitteilt und den Heiligen Geist verleiht. Selbst die<br />

Sakramente sind in ihrem Kern demnach nichts anderes als<br />

verheißendes Wort, verbum visibile.<br />

Es ist wichtig zu betonen, dass für Luther Bibel und Wort<br />

Gottes nicht einfach in einem fundamentalistischen Kurzschluss<br />

zusammenfallen. Gottes Wort ist im Wesentlichen<br />

mündliches Wort: das lebendige Wort der Verkündigung der<br />

Propheten und der Apostel, das erst sekundär schriftlich in<br />

der Bibel fixiert wurde und heute im Wort der Predigt oder<br />

den Einsetzungsworten der Sakramente wieder laut wird. 3<br />

Doch auch wenn Bibel und Wort Gottes nicht einfach in eins<br />

fallen, so gehören beide doch untrennbar zusammen. Gegen<br />

die Spiritualisten und ihre Berufung auf das verbum internum<br />

1 O. Bayer, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen<br />

3 2007, 41<strong>–</strong>46.<br />

2 WA 1, 629<strong>–</strong>633.<br />

3 W. Maurer, Luthers Verständnis des neutestamentlichen Kanons, in:<br />

Ders., Kirche und Geschichte. Bd. 1: Luther und das evangelische Be kenntnis,<br />

hg. von E.-W. Kohls und G. Müller, Göttingen 1970, 134<strong>–</strong>158, hier:<br />

148<strong>–</strong>152.<br />

50


Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium<br />

des Heiligen Geistes hat Luther den besonderen Rang des verbum<br />

externum von Bibel und Predigt als Heilsmittel und Vehikel<br />

des Geistes hervorgehoben.<br />

Luthers theologische Überlegungen über das Wort Gottes<br />

als Heilsmittel haben deshalb auch sein Verständnis der Bibel<br />

unmittelbar bestimmt. Das gilt insbesondere für seine kategoriale<br />

Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. 4 Luther<br />

hat die Bedeutung dieser Unterscheidung immer wieder betont<br />

und ihre fundamentale und geradezu kriteriologische<br />

Bedeutung für die Theologie insgesamt hervorgehoben, so<br />

etwa 1522 in der Adventspostille 5 und 1535 im Großen Galaterkommentar.<br />

6<br />

Genetisch reicht die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium<br />

bis in die ältesten Formationen von Luthers theologischem<br />

Denken hinauf. Als eine Vorform kann die in der<br />

Ersten Psalmenvorlesung noch im Vordergrund stehende<br />

Gegenüberstellung von „Buchstabe“ und „Geist“ gelten. 7 In<br />

4 Dazu G. Heintze, Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium, München<br />

1958 (mit besonderem Fokus auf Luthers Predigtpraxis). Vgl. ferner G. Ebeling,<br />

Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 5 2006, 120<strong>–</strong>136; B.<br />

Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem<br />

systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 284<strong>–</strong>287; H.-M. Barth,<br />

<strong>Die</strong> Theologie Martin Lu thers. Eine kritische Würdigung, Gütersloh 2009,<br />

230<strong>–</strong>252; Ch. Danz, Einführung in die Theologie Martin Luthers, Darmstadt<br />

2013, 88<strong>–</strong>94.<br />

5 „Quando autem pene universa scriptura totiusque Theologiae cognitio<br />

pendet in recta cognitione legis et Evangelii …“ (WA 7, 502, 34 f.).<br />

6 „Qui igitur bene novit discernere Evangelium a lege, is gratias agat Deo et<br />

sciat se esse Theologum“ (WA 40.I, 207, 17 f.). <strong>–</strong> Vgl. auch WA 18, 680, 28<strong>–</strong>30<br />

(De servo arbitrio): „Obsecro autem te, quid ille in re Theologica vel sacris<br />

literis efficiat, qui nondum eo pervenit, ut quid Lex, quid Evangelion sit,<br />

norit aut si norit, contemnat tamen observare?“<br />

7 B. Lohse, Luthers Theologie, 85; vgl. Ch. Danz, Einführung (s. Anm. 4), 89.<br />

51


Wolf-Friedrich Schäufele<br />

ihrer ausgearbeiteten Gestalt findet sich die Fundamentalunterscheidung<br />

von Gesetz und Evangelium 1520 in der Freiheitsschrift.<br />

8 Vor allem im Zusammenhang der Antinomer-<br />

Debatten mit Johann Agricola in den Jahren 1527 und 1537 bis<br />

1539 hat sich Luther dann weiter vertieft mit der Thematik<br />

beschäftigt. Einen Niederschlag fand der Ertrag dieser Debatten<br />

in zwei Predigten der Jahre 1532 und 1537. 9<br />

Sachlich ist die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium<br />

Teil der Rechtfertigungslehre. „Luthers Lehre von der<br />

Rechtfertigung ist Ausdruck seines Verständnisses von Gesetz<br />

und Evangelium und ihrem Verhältnis zueinander“. 10<br />

Gesetz und Evangelium sind für Luther die beiden Gestalten,<br />

in denen Gottes Wort dem Menschen begegnet. Als Gesetz<br />

konfrontiert Gottes Wort den Menschen mit dem Willen Gottes<br />

und macht ihm zugleich seine Sünde bewusst, die ihn<br />

diesen Willen immer wieder verfehlen lässt. Es treibt so den<br />

Sünder in die Verzweiflung <strong>–</strong> eine Verzweiflung freilich, die<br />

ihm zum Heil wird, wenn er auch das Wort Gottes als Evangelium<br />

hört, das ihm die Gnade und Erlösung durch Christus<br />

verheißt, die ihm zuteilwird, wenn er dieses Wort im Glauben<br />

annimmt.<br />

Luther hat sich zeitlebens am Verständnis der theologischen<br />

Unterscheidung von Gesetz und Evangelium abgearbeitet.<br />

Nicht zufällig widmete auch Johann Aurifaber in<br />

seiner berühmten Ausgabe von Luthers Tischreden diesem<br />

Thema eine eigene Rubrik. 11 Immer wieder hat Luther die<br />

8 WA 7, 23, 24<strong>–</strong>24, 21.<br />

9 Wie das Gesetz und Evangelium recht gründlich zu unterscheiden sind.<br />

Item was Christus und sein Königreich sei (1.1.1532): WA 36, 8<strong>–</strong>79; Eine<br />

schöne Predigt von dem Gesetz und Evangelium (30.9.1537): WA 45, 145<strong>–</strong><br />

156.<br />

10 P. Althaus, <strong>Die</strong> Theologie Martin Luthers, Gütersloh 6 1983, 218.<br />

52


Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium<br />

Schwierigkeit der praktischen Handhabung der Unterscheidung<br />

von Gesetz und Evangelium betont. Bezeichnend erscheint<br />

die skeptische Einschätzung, die er in einer Tischrede<br />

des Jahres 1531 vornahm:<br />

„Lex et euangelium. Non est homo, qui vivit in terris, qui sciat discernere<br />

inter legem et euangelium. Wir lassens vns wol geduncken, wen<br />

wir horen predigen, wir verstehens; aber es felet weit. Solus Spiritus<br />

Sanctus hoc scit. Dem man Christus hats auch gefelt, am berge, ita ut<br />

Angelus cogebatur eum consolari; der war doch Doctor, von himel,<br />

durch den Engel confirmirt. Jch hett gemeint, ich kundt es, weill ich<br />

so lang vnd uill daruon geschriben, aber wenn es an das treffen gett, so<br />

sich ich wol, das es mir weitt, weitt felet. Also soll vnd muß allein Gott<br />

der heilig ist meister sein.“ 12<br />

Alles in allem ist Luther trotz der von ihm eingestandenen<br />

Schwierigkeiten zu einer differenzierten, sensiblen und plausiblen<br />

Ausgestaltung dieses schwierigen Lehrstücks gekommen.<br />

Doch ausgerechnet in einigen seiner bekanntesten und<br />

wirkungsmächtigsten Texte <strong>–</strong> den 1522 bzw. 1523 entstandenen<br />

Vorreden zur Weihnachtspostille, zum Neuen Testament<br />

und zum Alten Testament <strong>–</strong> ist er der Komplexität der Mate-<br />

11 Tischreden oder Colloquia Doct. Mart. Luthers, Eisleben 1566, fol. 164 r <strong>–</strong><br />

181 v .<br />

12 WA.TR 2, 3, 20<strong>–</strong>4, 5 (Nr. 1234). <strong>–</strong> In der deutschen Fassung Aurifabers in WA<br />

2, 4, 8<strong>–</strong>16: „Kein Mensch auf Erden ist, der da kann und weiß das Euangelium<br />

und Gesetz recht zu unterscheiden. Wir lassen es uns wol dünken,<br />

wenn wir hören predigen, wir verstehens; aber es feilet weit, allein der heilige<br />

Geist kann diese Kunst. Dem Manne Christo hats auch gefeilet am Oelberge,<br />

also, daß ihn ein Engel mußte trösten; der war doch ein Doctor vom<br />

Himmel und der heilige Geist war in Gestalt einer Tauben auf ihme gesessen,<br />

noch ward er durch den Engel gestärkt. Jch hätte auch wol gemeinet,<br />

ich könnte es, weil ich so lange und so viel davon geschrieben hab; aber<br />

wahrlich, wenn es ans Treffen gehet, so sehe ich wol, daß mirs weit, weit<br />

feilet! Also soll und muß allein Gott der heiligste Meister und Lehrer sein.“<br />

53


Wolf-Friedrich Schäufele<br />

rie nicht immer voll gerecht geworden und gab und gibt mit<br />

seinen Ausführungen Anlass zu Missverständnissen.<br />

Konkret geht es dabei um die Frage, wie sich der auf die Bibel<br />

angewendete theologische Dual von Gesetz und Evangelium<br />

zu dem literarischen Dual von Altem und Neuem Testament<br />

im zweiteiligen Kanon der christlichen Bibel verhält.<br />

Fallen beide <strong>Duale</strong> dahingehend zusammen, dass das Alte<br />

Testament mit dem Gesetz im theologischen Sinne zu identifizieren<br />

ist, das Neue Testament hingegen mit dem Evangelium?<br />

Und wenn ja, was bedeutet das für die theologische Beurteilung<br />

der beiden Testamente und ihres Verhältnisses zueinander?<br />

Impliziert der Dual von Gesetz und Evangelium<br />

womöglich eine Inferiorität des Alten Testaments und indirekt<br />

zugleich des Judentums gegenüber dem Neuen Testament<br />

und dem Christentum?<br />

II „Ein kleiner Unterricht, was man in den<br />

Evangelien suchen und erwarten solle“ (1522)<br />

Der „Kleine Unterricht“ wurde von Luther 1521/22 auf der<br />

Wartburg als Vorrede zu seiner Weihnachtspostille, einer<br />

Sammlung evangelischer Musterpredigten für die Gottesdienste<br />

der Weihnachtszeit, verfasst. 13 Luther bedient sich<br />

hier der von ihm entwickelten Unterscheidung von Gesetz<br />

und Evangelium, um das rechte Verständnis des Neuen Testaments<br />

zu erschließen (10, 17<strong>–</strong>19; 14, 17<strong>–</strong>19). Mittelbar will<br />

er damit zugleich der aus dem bis dahin vorherrschenden<br />

13 WA 10.I.1, 8<strong>–</strong>18. Belege hieraus im Folgenden mit Seiten- und Zeilenzahl<br />

in Klammern im fortlaufenden Text. <strong>–</strong> Vgl. G. Heintze, Luthers Predigt<br />

(s. Anm. 4), 76<strong>–</strong>79.<br />

54


Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium<br />

falschen Verständnis des Neuen Testaments resultierenden<br />

Verachtung des Alten Testaments begegnen (17, 4<strong>–</strong>6) und so<br />

letztendlich die ganze Heilige Schrift in ihrer Würde wiederherstellen<br />

(18, 1).<br />

Das größte Hindernis für ein rechtes Bibelverständnis<br />

sieht Luther im äquivoken Gebrauch des Terminus „Evangelium“.<br />

Luther selbst will den Begriff theologisch verstehen,<br />

als Inbegriff der Frohen Botschaft von der Erlösung durch<br />

Christus: „das er gottis ßon und mensch sey fur unß worden,<br />

gestorben und aufferstanden, eyn herr ubir alle ding gesetzt“<br />

(9, 18<strong>–</strong>20; vgl. 10, 6<strong>–</strong>8). Es handelt sich hier also um jenen Evangeliumsbegriff,<br />

der gemeinsam mit dem dialektisch auf ihn<br />

bezogenen Gesetzesbegriff den oben beschriebenen theologischen<br />

Dual konstituiert. Luther schärft seinen Lesern diesen<br />

theologischen Evangeliumsbegriff ein und grenzt ihn<br />

von dem literarischen Gattungsbegriff „Evangelium“ ab, mit<br />

dem die ersten vier Bücher des Neuen Testaments qualifiziert<br />

werden. Daraus ergeben sich zwei praktische Konsequenzen<br />

für das evangelische Urteil über und den evangelischen Umgang<br />

mit dem Neuen Testament. Erstens ist gegenüber der<br />

im Mittelalter vorherrschenden einseitigen Hochschätzung<br />

der vier Evangelienbücher festzuhalten, dass die Briefe des<br />

Paulus und Petrus und die Apostelgeschichte im theologischen<br />

Sinne ebenso sehr „Evangelium“ sind wie jene, insofern<br />

auch sie von Christus lehren (9, 7<strong>–</strong>9). Eine Geringschätzung<br />

der Paulus- und Petrusbriefe wäre daher ein schwerer Fehler.<br />

Tatsächlich enthält etwa das Präskript des Römerbriefs das<br />

gesamte Evangelium in nuce. In unserem Zusammenhang<br />

von besonderem Interesse ist die Tatsache, dass Luther das<br />

Evangelium als Christusbotschaft ausdrücklich nicht auf<br />

das Neue Testament beschränkt wissen will: auch die Lehre<br />

der Propheten, die das Kommen Christi im Voraus verkün-<br />

55


Wolf-Friedrich Schäufele<br />

digt haben <strong>–</strong> als Beispiel nennt Luther das Gottesknechtslied<br />

Jes 53 <strong>–</strong>, ist „nichts anders denn das ware lautter recht Euangelium“<br />

(9, 11<strong>–</strong>17; Zitat: 14 f.). Tatsächlich dient das Neue<br />

Testament gerade auch dem Zweck, uns das Alte Testament<br />

zu erschließen, dass wir in ihm Christus gleichsam in den<br />

Windeln und in der Krippe sehen (15, 1<strong>–</strong>5). So ist letztlich die<br />

Erlösung durch Christus das eine einheitliche Thema der<br />

Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments.<br />

<strong>Die</strong> zweite Konsequenz aus dem neuen, theologischen<br />

Verständnis des Evangeliums ist die Absage an eine an den<br />

Jesus-Erzählungen der Evangelienbücher orientierte gesetzliche<br />

Imitatio-Frömmigkeit, wie sie die religiöse Praxis des<br />

Spätmittelalters bestimmt hatte. Luther wendet hier seine<br />

theologische Fundamentalunterscheidung von Gesetz und<br />

Evangelium auf die geschichtliche Jesusüberlieferung des<br />

Neuen Testaments an und bringt sie in der berühmt gewordenen<br />

Unterscheidung von „Christus als Exempel“ und<br />

„Christus als Gabe“ auf den Begriff. Zwar ist es richtig, dass<br />

uns in den Evangelien Christus als Vorbild zur Nachahmung<br />

vor Augen gestellt wird, damit wir im Leiden, Beten, Fasten<br />

und in tätiger Nächstenliebe seinem Beispiel folgen. Doch<br />

diese imitatio Christi erschöpft sich in bloßen äußerlichen<br />

Werken, sie macht uns nicht zu Christen und verhilft uns<br />

nicht zur Seligkeit. „Christus als Exempel“ ist uns insofern<br />

nicht mehr nütze als andere Heilige auch (10, 20<strong>–</strong>11, 12). Das<br />

Eigentliche, worum es in den Evangelien im literarischen<br />

Sinn wie im Evangelium im theologischen Sinn geht, ist<br />

„Christus als Gabe und Geschenk“ Gottes an uns <strong>–</strong> „alßo das,<br />

wenn du yhm tzusihest odder hörist, das er ettwas thutt<br />

odder leydet, das du nit tzweyffelst, er selb Christus mit solchem<br />

thun und leyden sey deyn, darauff du dich nit weniger<br />

mügist vorlassen, dan alß hettistu es than, ia alß werist du der<br />

56


Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium<br />

selbige Christus“ (11, 15<strong>–</strong>18). Es ist der persönlich angeeignete<br />

Christus pro me, der mich allererst zum Christen macht und<br />

Grund meiner Seligkeit ist. Dann und erst dann, wenn ich<br />

Christus so als Gabe im Glauben empfangen habe, kann ich<br />

ihn auch fruchtbar zum Exempel nehmen und nach seinem<br />

Vorbild leben (12, 12<strong>–</strong>17). Im Licht der späteren Entwicklung<br />

von Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium erscheint<br />

bemerkenswert, dass „Christus als Exempel“ nur auf<br />

die Lebensführung des Gerechtfertigten bezogen wird. Eine<br />

elenchtische Funktion zur Überführung des Sünders wird<br />

ihm hier nicht beigemessen.<br />

Im Blick auf unsere Fragestellung von Bedeutung ist nun<br />

die Tatsache, dass Luther ein gesetzliches Verständnis der Jesusüberlieferung<br />

der Evangelien mit dem suggestiven Imperativ<br />

abweist, man solle aus Christus keinen Mose machen<br />

(10, 20). Vor allem aber lässt er den theologischen und den literarischen<br />

Evangeliumsbegriff praktisch doch wieder ineinanderfließen,<br />

wenn er feststellt: „Euangelium ist eygentlich<br />

nit eyn buch der gesetz und gepott, das von uns foddere unßer<br />

thun, ßondern eyn buch der gotlichen verheyssungen …“<br />

(13, 3<strong>–</strong>5). Mit beidem zusammen insinuiert Luther, dass im<br />

Unterschied zum Neuen Testament „Mose“, ja das Alte Testament<br />

als Ganzes, als ein solches Gesetzbuch anzusehen<br />

seien. Damit bewegt er sich noch ganz auf der Linie der Freiheitsschrift<br />

von 1520, wo er von den „Geboten oder Gesetzen<br />

Gottes“, die er dort ausschließlich auf ihre elenchtische, in die<br />

Verzweiflung führende Funktion festlegte, behauptet hatte:<br />

„darumb heyssen sie auch das alte testament, vnd gehoren<br />

alle ynß alte testament“ 14 .<br />

14 WA 7, 23, 35 f.<br />

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