31.03.2022 Aufrufe

Angelika Reiser-Fischer: Cantate domino (Leseprobe)

Eine Limonadenflasche, die sehr effektvoll während einer Audienz beim Bischof in der Tasche explodiert. Eine Bach-Arie aus dem Weihnachtsoratorium auf der Polizeistation. Ein besonderes Abschiedsritual im Hafen von Kloster, bei dem sogar völlig Unbeteiligten die Tränen kommen. Ein Kapitän, der des Nachts zum zweiten Mal beerdigt wird. Ein Cello, auf dem so heftig musiziert wird, dass es zu qualmen beginnt. Die Erinnerungen der Musici Jenenses an ihre Sommer auf der Insel Hiddensee sind ein unerschöpflicher Quell von Geschichten, heiteren, besonderen, auch traurigen. Aber immer gewähren sie einen Blick in die Zeitgeschichte und auf die besonderen Umstände, unter denen sich junge und alte, professionelle und Hobby-Musiker aus inzwischen ganz Deutschland seit fast 60 Jahren in der kleinen Inselkirche von Kloster treffen – allen Widrigkeiten zum Trotz –, um unter einem gemeinsamen Motto zu musizieren: Cantate domino – Singt dem Herrn.

Eine Limonadenflasche, die sehr effektvoll während einer Audienz beim Bischof in der Tasche explodiert. Eine Bach-Arie aus dem Weihnachtsoratorium auf der Polizeistation. Ein besonderes Abschiedsritual im Hafen von Kloster, bei dem sogar völlig Unbeteiligten die Tränen kommen. Ein Kapitän, der des Nachts zum zweiten Mal beerdigt wird. Ein Cello, auf dem so heftig musiziert wird, dass es zu qualmen beginnt.

Die Erinnerungen der Musici Jenenses an ihre Sommer auf der Insel Hiddensee sind ein unerschöpflicher Quell von Geschichten, heiteren, besonderen, auch traurigen. Aber immer gewähren sie einen Blick in die Zeitgeschichte und auf die besonderen Umstände, unter denen sich junge und alte, professionelle und Hobby-Musiker aus inzwischen ganz Deutschland seit fast 60 Jahren in der kleinen Inselkirche von Kloster treffen – allen Widrigkeiten zum Trotz –, um unter einem gemeinsamen Motto zu musizieren: Cantate domino – Singt dem Herrn.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

immer zu haben. Also sind wir mitgefahren, meine Antje und ich. Das war der<br />

Beginn, 1962.<br />

Einmalige Gelegenheit? Es sind daraus nunmehr fast 60 Jahre mit den Musici<br />

geworden!<br />

Wir spielten 1962 in der Inselkirche aus den Bach-Kantaten »Erschallet ihr Lieder«<br />

und »Gott der Herr ist Sonnʼ und Schild« sowie einige Instrumentalwerke.<br />

Wechselweise aßen wir im Heim und auf dem Klausner, weil im Heim die<br />

Töpfe nicht groß genug waren. Als Dankeschön musizierten wir dann oben am<br />

Leuchtturm für die Gäste, und für 1963 bekamen wir wieder eine Einladung,<br />

von Pfarrer Arnold. Für eine Woche. In beiden Jahren konzertierten wir auch<br />

noch in verschiedenen Orten an der Küste, so in Züssow, Barth, Stralsund…<br />

1963 waren wir dann schon mit einer Riesen-Besetzung auf der Insel Hiddensee.<br />

Die Unterbringung in der nassen Scheune war katastrophal und nicht zumutbar.<br />

Deshalb haben wir in den folgenden Jahren reduziert auf etwa 35 Aktive.<br />

Die konnten dann im Heim wohnen. Aber Kinder mitzunehmen war einfach<br />

undenkbar.<br />

1964 gab es ein Problem. Der damalige Leiter Siegfried Nordmann war verhindert.<br />

Ich wurde gefragt, ob ich einspringen würde. Ich sagte zu, war ja schon 10<br />

Jahre Kantor im zweiten Beruf. Und ich betrachtete dies bei den Musici nur als<br />

eine Überbrückung. Und auch daraus wurden: 50 Jahre.<br />

Überhaupt war 1964 ein aufregendes Jahr. Am 1. Juli hatte ich meine Arbeit bei<br />

der Bahn in Erfurt begonnen. Am 29. Juli kam unsere Tochter Barbara zur Welt,<br />

ich war noch bei Antje in der Klinik und bin am Tag darauf mit den Musici nach<br />

Hiddensee gefahren – zum ersten Mal als musikalischer Leiter. Ich war 25…<br />

Kurz zuvor, im Frühjahr 1964, hatte die 2. Bitterfelder Konferenz der SED stattgefunden,<br />

die den sogenannten »Bitterfelder Weg« beschloss. Damit sollte eine<br />

neue sozialistische Kulturpolitik eingeläutet werden. Die Künstler sollten sich<br />

der Arbeiterklasse zuwenden. Freie kulturelle Gruppen wie unsere auf der Insel<br />

Hiddensee sollte es künftig nicht mehr geben. Ensembles wie Mitglieder<br />

der Akademischen Orchestervereinigung und die Studentenkurrende sollten<br />

danach nicht mehr in kirchlichem Rahmen auftreten.<br />

Hans Lehmann, Eckhard Zinßer, Matthias Richter und ich überlegten, wie es<br />

weiter gehen könnte und wie die Sache zu retten sei. 1967 wandten wir uns<br />

schließlich an die Thüringer Landeskirche mit der Bitte, uns an ihr Kirchenchorwerk<br />

anzuschließen. Bischof Moritz Mitzenheim lud uns dafür zunächst<br />

nach Eisenach ein.<br />

Matthias Richter und ich nahmen den Termin wahr. Der Bischof zeigte uns zur<br />

Begrüßung die »Ahnengalerie« der Bischöfe, die im Haus auf dem Pflugensberg<br />

hing, und zeigte auch auf das Bild des Mühlhäuser Reformators Hieronymus<br />

Tilesius. Er fragte, ob wir den überhaupt kennen. Und ich sagte ohne Zögern:<br />

»Ja, das ist ein Vorfahre meiner Frau.« Er war erstaunt und der Bann gebrochen.<br />

Aber wir hatten viele Fragen zu beantworten: Was wir musizieren, wie viele<br />

Musiker Kirchenmitglieder sind, eine Liste wurde gewünscht… Später gab es<br />

14

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!