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Angelika Reiser-Fischer: Cantate domino (Leseprobe)

Eine Limonadenflasche, die sehr effektvoll während einer Audienz beim Bischof in der Tasche explodiert. Eine Bach-Arie aus dem Weihnachtsoratorium auf der Polizeistation. Ein besonderes Abschiedsritual im Hafen von Kloster, bei dem sogar völlig Unbeteiligten die Tränen kommen. Ein Kapitän, der des Nachts zum zweiten Mal beerdigt wird. Ein Cello, auf dem so heftig musiziert wird, dass es zu qualmen beginnt. Die Erinnerungen der Musici Jenenses an ihre Sommer auf der Insel Hiddensee sind ein unerschöpflicher Quell von Geschichten, heiteren, besonderen, auch traurigen. Aber immer gewähren sie einen Blick in die Zeitgeschichte und auf die besonderen Umstände, unter denen sich junge und alte, professionelle und Hobby-Musiker aus inzwischen ganz Deutschland seit fast 60 Jahren in der kleinen Inselkirche von Kloster treffen – allen Widrigkeiten zum Trotz –, um unter einem gemeinsamen Motto zu musizieren: Cantate domino – Singt dem Herrn.

Eine Limonadenflasche, die sehr effektvoll während einer Audienz beim Bischof in der Tasche explodiert. Eine Bach-Arie aus dem Weihnachtsoratorium auf der Polizeistation. Ein besonderes Abschiedsritual im Hafen von Kloster, bei dem sogar völlig Unbeteiligten die Tränen kommen. Ein Kapitän, der des Nachts zum zweiten Mal beerdigt wird. Ein Cello, auf dem so heftig musiziert wird, dass es zu qualmen beginnt.

Die Erinnerungen der Musici Jenenses an ihre Sommer auf der Insel Hiddensee sind ein unerschöpflicher Quell von Geschichten, heiteren, besonderen, auch traurigen. Aber immer gewähren sie einen Blick in die Zeitgeschichte und auf die besonderen Umstände, unter denen sich junge und alte, professionelle und Hobby-Musiker aus inzwischen ganz Deutschland seit fast 60 Jahren in der kleinen Inselkirche von Kloster treffen – allen Widrigkeiten zum Trotz –, um unter einem gemeinsamen Motto zu musizieren: Cantate domino – Singt dem Herrn.

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<strong>Angelika</strong> <strong>Reiser</strong>-<strong>Fischer</strong><br />

<strong>Cantate</strong><br />

<strong>domino</strong><br />

Die Musici Jenenses<br />

auf der Insel Hiddensee


Inhaltsverzeichnis<br />

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

Wie alles begann… . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />

Hermann Schmalfuß: »Mit Freude und Herz« . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

Adam Markowski: »Habt ihr nicht Lust?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />

Andrea Schmidt: »Angekommen – und angenommen« . . . . . . . . . . . . 18<br />

Andreas Korn: »Eine Balance herstellen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />

Andreas Linde: »Rückendeckung für den Alltag« . . . . . . . . . . . . . . . 23<br />

Angela König: »Was für ein Klang, welche Fülle« . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />

Dr. Angela von Arnim: »Ich habe hier etwas über die DDR gelernt« . . . . . 28<br />

<strong>Angelika</strong> Knoll: »Ohne Toleranz wird’s schwierig« . . . . . . . . . . . . . . 30<br />

Annegret Bormann: »Unausgeschlafen, aber glücklich«. . . . . . . . . . . .33<br />

Annemarie Birckner: »Wir wollen doch berühren« . . . . . . . . . . . . . . .36<br />

Annemarie Gäbler: »In der Musik einander begegnen« . . . . . . . . . . . . 38<br />

Antje Schmalfuß: »Auf Flügeln des Gesanges« . . . . . . . . . . . . . . . . .40<br />

Anton Haupt: »Großfamilie im Urlaub« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42<br />

Bärbel Richter: »Mein Bass gibt das Fundament« . . . . . . . . . . . . . . . 45<br />

Birgit Hofmann: »Anteil am Leben der Anderen« . . . . . . . . . . . . . . . 47<br />

Burkhard Weber: »Bach am Strand« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50<br />

Carolin Heil: »Wir waren trotzdem da« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52<br />

Prof. Christian Glück: »Bach bis in die Träume« . . . . . . . . . . . . . . . . 54<br />

Christina Böhm: »Jeder muss mithelfen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .56<br />

Christine Haupt: »Hilfe von allen Seiten«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .58<br />

Christine Modersohn: »Die Kinder gehören dazu« . . . . . . . . . . . . . . .61<br />

Clara Tief: »Schon immer eine von den Musici« . . . . . . . . . . . . . . . . 63<br />

Cornelia Gudden: »Großartig, in aller Bescheidenheit« . . . . . . . . . . . . 65<br />

Dietrich Modersohn: »Verankerung und Ermunterung«. . . . . . . . . . . .67<br />

Doris Linde: »Haben Sie im August Zeit?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />

Dr. Eckhard Birckner: »Ein Teil meines Lebens« . . . . . . . . . . . . . . . . 73<br />

Dr. Eckhard Zinßer: »Jetzt kommen unsere Enkel mit«. . . . . . . . . . . . .75<br />

Dr. Elisabeth von Thadden: »Die Resonanz aus Jena« . . . . . . . . . . . . . 78<br />

Enrico Kropf: »Was bist du bereit zu geben?«. . . . . . . . . . . . . . . . . .80<br />

Gábor Fenyö: »Wir waren wie Geschwister« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83<br />

Gabriele Näther: »Das Gefühl, aufgehoben zu sein« . . . . . . . . . . . . . .87<br />

Gabriele Roterberg-Becker: »Die Sehnsucht blieb« . . . . . . . . . . . . . . 89<br />

Gesine Domrös: »Erste Begegnung mit der Musik« . . . . . . . . . . . . . . 91<br />

7


Prof. Gunter Berger: »Der Klang von Hiddensee« . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />

Günter Matheisen: »Ein wirklich schlimmer Start« . . . . . . . . . . . . . .95<br />

Hans Lehmann: »Ich möchte, dass es fortbesteht« . . . . . . . . . . . . . . .97<br />

Hans-Peter Linde: »Eine Art Lebensschule« . . . . . . . . . . . . . . . . . 102<br />

Heinrich Haupt: »Nirgends so frei wie hier« . . . . . . . . . . . . . . . . . 105<br />

Helene und Eliese Martin: »Viel Lust auf Musik« . . . . . . . . . . . . . . 107<br />

Hildegard Niebuhr: »In Freude – und mit Freunden« . . . . . . . . . . . . 109<br />

Ilka Jaschinski: »Als wäre kein Jahr vergangen« . . . . . . . . . . . . . . . 111<br />

Iris Geißler: »Man lacht und weint gemeinsam« . . . . . . . . . . . . . . . 113<br />

Jan Hofmann: »Singen unter den Sternen«. . . . . . . . . . . . . . . . . . 115<br />

Prof. Jörg Brückner: »Auf Armlänge zum Publikum« . . . . . . . . . . . . 118<br />

Johannes Modersohn: »Mit Liebe zur Insel« . . . . . . . . . . . . . . . . . 120<br />

Juliane Tief: »Ein Moment des Trostes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122<br />

Jürgen Klemisch: »Beschützt von einem der Musici« . . . . . . . . . . . . 125<br />

Kai Roterberg: »Einfach Musik machen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127<br />

Karin Lucas: »Der ganze Ort ist dann Musik« . . . . . . . . . . . . . . . . 129<br />

Katharina Becke und Franziska Mattfeld:<br />

»Man braucht nur eine Insel…« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131<br />

Katharina und Reinhart Ginzel: »Es ging hoch her« . . . . . . . . . . . . . 134<br />

Konstanze Haupt: »Ich mag Anfänge« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137<br />

Lothar Sievers: »Er sang, wo immer er war« . . . . . . . . . . . . . . . . . 140<br />

Luca Simon Böhme: »Schade – nur einmal im Jahr« . . . . . . . . . . . . . 143<br />

Maren Böhme: »In der Ferne ein Stück Heimat«. . . . . . . . . . . . . . . 145<br />

Marlene und Friedemann Schmalfuß: »Sogar im Rollstuhl zum Strand« . . 147<br />

Mathias Böhme: »Sonst gäbe es meine Familie nicht«. . . . . . . . . . . . 150<br />

Matthias Richter: »Explosion in der Aktentasche« . . . . . . . . . . . . . . 152<br />

Meike und Stefan Schroedter: »Zu gehen und doch zu bleiben...« . . . . . 156<br />

Niels Harmsen: »Jeden Tag eine andere Story« . . . . . . . . . . . . . . . . 158<br />

Rainer Hrasky: »Der Anfang war ein Abenteuer«. . . . . . . . . . . . . . . 160<br />

Robert Henning (Bob): »Ich wollte das Richtige tun« . . . . . . . . . . . . 162<br />

Rotraud Krüger: »Die erste Bayerin bei den Musici«. . . . . . . . . . . . . 165<br />

Susann Martin: »Als Braut im Flieger über Hiddensee« . . . . . . . . . . . 168<br />

Susanne Haupt: »Einmal im Jahr ist viel zu wenig« . . . . . . . . . . . . . 171<br />

Susanne und Jörg Baudach: »Jetzt sind wir diejenigen« . . . . . . . . . . . 174<br />

Dr. Ulrich Biella: »In allen Konzerten dabei« . . . . . . . . . . . . . . . . . 177<br />

Ulrike Zinßer: »Ein Rezeptbuch für die Musici« . . . . . . . . . . . . . . . 179<br />

Uta Katharina Gau: »Ein Stück Familiengeschichte«. . . . . . . . . . . . . 182<br />

Ute Frester: »Im Hochland geübt« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185<br />

Wieland Lemke: »Ein Geben und Nehmen« . . . . . . . . . . . . . . . . . 188<br />

Wolfgang Axel Glück: »Ein Motto, das uns trägt« . . . . . . . . . . . . . 190<br />

Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193<br />

8


Vorwort<br />

Welche Kraft vermag es, alljährlich im Sommer über 70 Menschen aus Ost und<br />

West, Süd und Nord auf Reisen zu schicken, und zwar zu einem gemeinsamen<br />

Ziel: zur kleinen Kirche von Kloster auf der Insel Hiddensee?<br />

Welche Kraft vermag es, dass sich diese manchmal über 70 Musiker im Alter<br />

zwischen drei und über 80 Jahren dort einem gemeinsamen Ziel verschrieben<br />

haben: zu singen und zu spielen, zum Lobe Gottes und zur Freude der<br />

Hiddenseer und ihrer Gäste, in mehreren Konzerten?<br />

Welche Kraft hat es vermocht, dass diese fröhliche Gemeinschaft der Musici<br />

Jenenses zusammengehalten hat, über nunmehr sechs Jahrzehnte? Allen<br />

Widrigkeiten zum Trotz? Dass sie auch Zerreißproben bestand? Und dies in<br />

Zeiten, in denen die Musici die Insel nach den Konzerten manchmal wieder<br />

verließen, ohne zu wissen, ob ein Wiedersehen möglich sein würde.<br />

Sie gaben sich den Namen Musici Jenenses, denn ihre Wurzeln liegen im<br />

thüringischen Jena. Ihre Geschichte und ihre Geschichten sollen bewahrt bleiben.<br />

Zahlreiche Musici geben daher Auskunft – längst nicht alle, die hier einst<br />

mit musiziert haben. Einige sind nicht mehr am Leben oder können die Reise<br />

auf die kleine Insel nicht mehr bewältigen oder aber ihre Lebenswege nahmen<br />

andere Richtungen… Die vielen jedoch, die zu Worte kommen, sprechen über<br />

ihre Erlebnisse und Begegnungen und darüber, was sie ihnen bedeuten.<br />

Kamen in den Anfangsjahren ausschließlich junge Leute zu diesen sommerlichen<br />

Begegnungen und konnten Kinder schon wegen der beengten, primitiven,<br />

ja schwierigen Verhältnisse nicht mitgebracht werden, musizieren inzwischen<br />

in der kleinen Inselkirche vier Generationen miteinander. In Freude und<br />

Freundschaft und unter einem gemeinsamen Motto:<br />

<strong>Cantate</strong> <strong>domino</strong><br />

Singet dem Herrn<br />

<strong>Angelika</strong> <strong>Reiser</strong>-<strong>Fischer</strong><br />

9


Wie alles begann…<br />

Als wir vor fast 60 Jahren musikalisch aktiv – damals noch als junge Leute –<br />

erstmals mit der evangelischen Studentenkurrende Jena und der Akademischen<br />

Orchestervereinigung Jena nach Hiddensee reisten, konnte wohl keiner<br />

ahnen, dass sich daraus eine unverwechselbare Bindung an das kostbare Eiland<br />

entwickeln würde.<br />

Traumland für Naturfreunde, Künstler und Menschen, die sich vom hektischen<br />

Alltag für eine gewisse Zeit lösen möchten, um innere Ruhe zu finden,<br />

oder besser gesagt: um seelische und körperliche Kraft für die Zeit danach, also<br />

wieder daheim zu finden.<br />

Was einst mit jugendlichem Elan der Begeisterung im Zusammenwirken<br />

begann, entwickelte sich über all die Jahre zu überzeugenden Interpretationen<br />

bekannter Werke des musikalischen Erbes, aber auch der Gegenwart. Nicht nur<br />

das persönliche Erleben, sondern auch das immer perfektere Umsetzen der Partituren<br />

formte die eigenen Befindlichkeiten und übertrug sich auf die Konzertbesucher,<br />

sozusagen ein Identitätszeichen des Ensembles an dieser historisch geprägten<br />

Stätte. Das geht soweit, dass über die Jahre Inselurlauber ihre Termine danach<br />

richten, wann die Musici Jenenses auf der Insel weilen, und das quer durch alle<br />

Generationen. Man könnte hier manches musikalische Werk bis hin zu Uraufführungen<br />

nennen, doch das wären Details, die diesen Rahmen sprengen würden.<br />

Was sich aus dem einst musikalischen Amateurbereich heraus entwickelt<br />

hat, das ist heute ein wichtiges Beispiel, wie Chorgesang, vereint mit professionellem<br />

Orchesterklang und Solisten, für die Konzertbesuche in der Inselkirche<br />

zu einem unverwechselbaren Erlebnis werden kann. Hinzu kommt das<br />

Zusammenwirken quer durch alle Generationen, angefangen bei den Kindern.<br />

Dabei spielt für die Musici wie für die Inselgäste das einzigartige Naturerleben<br />

eine wichtige Rolle. Wenn man an die Künstler aller Genres denkt, für die seit<br />

Jahrzehnten die Insel mit ihren auf vielfältige Weise aktiven Einheimischen<br />

ein Sehnsuchtsort geworden ist, so wird auch das Wirken der Musici Jenenses<br />

davon geprägt, und dies in einer Art unverwechselbarer Gemeinschaft ihrer aus<br />

allen Teilen Deutschlands und darüber hinaus stammenden Mitglieder.<br />

Man kommt dabei ins Philosophieren und könnte mit Blick auf die Abendmusiken<br />

auch sagen: Hier erleben die Musizierenden und ihre Zuhörer über die<br />

Zeiten quasi ein Stück Theologie des Weges. Symbol dafür am Ende eines jeden<br />

Konzertes ist das gemeinsam mit den Konzertbesuchern gesungene Abendlied<br />

»Der Mond ist aufgegangen«, mit dem der von der Waterkant stammende Dichter<br />

Matthias Claudius 1779 Brücken zwischen Himmel und Erde zu bauen vermochte<br />

in der Einheit von Leben und Hoffnung und bis heute.<br />

Hans Lehmann<br />

11


Hermann Schmalfuß<br />

»Mit Freude und Herz«<br />

von Beruf: Dipl.-Ing für<br />

Eisenbahntechnik und<br />

Kantor<br />

Jahrgang: 1939<br />

stammt aus: Rodewisch/<br />

Vogtland, lebt in Bad Berka<br />

beruflich hauptsächlich<br />

tätig: als Projektleiter und<br />

Bauherrenverantwortlicher<br />

für Großprojekte der Deutschen<br />

Bahn<br />

kam nach Hiddensee: 1962<br />

bei den Musici aktiv als:<br />

1964 bis 2013 musikalischer<br />

Leiter der Musici<br />

Musik ist mein Leben. Und die Musici sind ein wichtiger Teil davon.<br />

Doch es gab in meiner Jugend noch eine zweite Leidenschaft: die Eisenbahntechnik.<br />

Ich hätte am liebsten nach der Schulzeit gleich Kirchenmusik studiert, leitete<br />

mit 15 schon meinen ersten Chor und saß an der Orgel. Durch einen Zufall – eigentlich<br />

durch ein Missverständnis – habe ich dann in Dresden Verkehrsmaschinentechnik<br />

an der Hochschule für Verkehrswesen studiert und bin bis heute begeisterter<br />

Eisenbahner. Nach der Wende habe ich im Regionalen Führungskreis<br />

der Deutschen Bahn den Anschluss Thüringens an das gesamtdeutsche Schienennetz<br />

mit verantwortet, so die Lückenschlüsse zum Westen sowie die Hochleistungsstrecke<br />

Nürnberg - Leipzig/ Halle. Da gäbe es viel zu erzählen…<br />

Die Kirchenmusik war trotzdem immer mein zweiter Beruf.<br />

Meine Liebe – die galt besonders der Musica sacra. Der Kirchenmusik.<br />

Mit Bach, Schütz, Händel, Buxtehude, Mozart und vielen anderen. All den herrlichen<br />

Chorälen, Motetten, Messen, Kantaten der alten Meister. Gern folgte ich<br />

schon Ende der 1950er Jahre einer Einladung nach Jena zur Studentenkurrende<br />

und zur Akademischen Orchestervereinigung.<br />

1961 musizierte ich mit ihnen zum Reformationsfest im Thüringer Wald. In<br />

Großbreitenbach, Herschdorf und Egelsdorf spielten wir Bachkantaten. Mit viel<br />

Elan und einem Handwagen haben wir damals die Pauken und den Kontrabass<br />

transportiert.<br />

Am Schluss unserer Tournee sagte Hans Lehmann: »Leute! Einmalige Gelegenheit!<br />

Wir könnten im Sommer vier Tage nach Hiddensee fahren und dort musizieren!«<br />

Ich dachte, man kommt ja sonst nicht groß raus. Und für Musik bin ich<br />

13


immer zu haben. Also sind wir mitgefahren, meine Antje und ich. Das war der<br />

Beginn, 1962.<br />

Einmalige Gelegenheit? Es sind daraus nunmehr fast 60 Jahre mit den Musici<br />

geworden!<br />

Wir spielten 1962 in der Inselkirche aus den Bach-Kantaten »Erschallet ihr Lieder«<br />

und »Gott der Herr ist Sonnʼ und Schild« sowie einige Instrumentalwerke.<br />

Wechselweise aßen wir im Heim und auf dem Klausner, weil im Heim die<br />

Töpfe nicht groß genug waren. Als Dankeschön musizierten wir dann oben am<br />

Leuchtturm für die Gäste, und für 1963 bekamen wir wieder eine Einladung,<br />

von Pfarrer Arnold. Für eine Woche. In beiden Jahren konzertierten wir auch<br />

noch in verschiedenen Orten an der Küste, so in Züssow, Barth, Stralsund…<br />

1963 waren wir dann schon mit einer Riesen-Besetzung auf der Insel Hiddensee.<br />

Die Unterbringung in der nassen Scheune war katastrophal und nicht zumutbar.<br />

Deshalb haben wir in den folgenden Jahren reduziert auf etwa 35 Aktive.<br />

Die konnten dann im Heim wohnen. Aber Kinder mitzunehmen war einfach<br />

undenkbar.<br />

1964 gab es ein Problem. Der damalige Leiter Siegfried Nordmann war verhindert.<br />

Ich wurde gefragt, ob ich einspringen würde. Ich sagte zu, war ja schon 10<br />

Jahre Kantor im zweiten Beruf. Und ich betrachtete dies bei den Musici nur als<br />

eine Überbrückung. Und auch daraus wurden: 50 Jahre.<br />

Überhaupt war 1964 ein aufregendes Jahr. Am 1. Juli hatte ich meine Arbeit bei<br />

der Bahn in Erfurt begonnen. Am 29. Juli kam unsere Tochter Barbara zur Welt,<br />

ich war noch bei Antje in der Klinik und bin am Tag darauf mit den Musici nach<br />

Hiddensee gefahren – zum ersten Mal als musikalischer Leiter. Ich war 25…<br />

Kurz zuvor, im Frühjahr 1964, hatte die 2. Bitterfelder Konferenz der SED stattgefunden,<br />

die den sogenannten »Bitterfelder Weg« beschloss. Damit sollte eine<br />

neue sozialistische Kulturpolitik eingeläutet werden. Die Künstler sollten sich<br />

der Arbeiterklasse zuwenden. Freie kulturelle Gruppen wie unsere auf der Insel<br />

Hiddensee sollte es künftig nicht mehr geben. Ensembles wie Mitglieder<br />

der Akademischen Orchestervereinigung und die Studentenkurrende sollten<br />

danach nicht mehr in kirchlichem Rahmen auftreten.<br />

Hans Lehmann, Eckhard Zinßer, Matthias Richter und ich überlegten, wie es<br />

weiter gehen könnte und wie die Sache zu retten sei. 1967 wandten wir uns<br />

schließlich an die Thüringer Landeskirche mit der Bitte, uns an ihr Kirchenchorwerk<br />

anzuschließen. Bischof Moritz Mitzenheim lud uns dafür zunächst<br />

nach Eisenach ein.<br />

Matthias Richter und ich nahmen den Termin wahr. Der Bischof zeigte uns zur<br />

Begrüßung die »Ahnengalerie« der Bischöfe, die im Haus auf dem Pflugensberg<br />

hing, und zeigte auch auf das Bild des Mühlhäuser Reformators Hieronymus<br />

Tilesius. Er fragte, ob wir den überhaupt kennen. Und ich sagte ohne Zögern:<br />

»Ja, das ist ein Vorfahre meiner Frau.« Er war erstaunt und der Bann gebrochen.<br />

Aber wir hatten viele Fragen zu beantworten: Was wir musizieren, wie viele<br />

Musiker Kirchenmitglieder sind, eine Liste wurde gewünscht… Später gab es<br />

14


dann noch einen Beschluss des Landeskirchenrates, und Ende 1967 kam dann<br />

die erlösende Nachricht: Es hat geklappt. Wir gehörten unter das Dach des Kirchenchorwerkes<br />

der Thüringer Landeskirche.<br />

Damit war auch der neue Name gesetzt: Musici Jenenses – sowie die Bedingungen<br />

unserer Partnerschaft. Dazu gehörte von Beginn an, dass wir die Noten kostenlos<br />

ausleihen dürfen und das Versprechen, dass wir uns gegenseitig keine<br />

Kosten verursachen.<br />

Das wurde schriftlich festgehalten und dürfte im Kirchenarchiv liegen. Wir<br />

selbst haben bewusst nichts dokumentiert. Aus Sicherheitsgründen. Damit keiner<br />

von uns über den Besitz solcher Unterlagen von den DDR-Behörden belangt<br />

werden konnte.<br />

Nach so vielen Jahren denke ich: Es war zwar damals ein schweres Fahrwasser,<br />

aber es hat sich gelohnt durchzuhalten. Damals dachten wir in jedem Jahr,<br />

wenn wir auf Hiddensee musizierten: Es könnte das letzte Mal gewesen sein.<br />

Dass beispielsweise auch die Beschaffung von Noten so unendlich schwierig<br />

war, das verblasst da fast. Die Sängerin Marianne <strong>Fischer</strong>-Kupfer hatte uns<br />

beispielsweise im Konzert in der Inselkirche gehört und wünschte sich von<br />

uns Mozarts Krönungsmesse. Mit Pauken, Trompeten und drei Posaunen. Das<br />

sprengte den Rahmen. Unseren personellen Rahmen – aber auch die kleine<br />

Inselkirche hätte das wohl kaum verkraftet. So suchte ich also für 1965 eine Alternative.<br />

Die D-Dur-Messe von Mozart schien uns geeignet. Aber uns fehlte die<br />

Partitur. Die gab es in der Neuausgabe noch nicht. Von der Bach-Gesellschaft in<br />

Leipzig erhielten wir aber den Tipp: Der Leipziger Komponist und Kirchenmusiker<br />

Prof. Georg Trexler besäße eine. Wir fragten an – und es kam bei uns auf<br />

der Insel eine Rolle an mit seinem Arbeitsexemplar für die Neuausgabe jener<br />

Mozart-Partitur! Und er schrieb, wie er sich freuen würde, wenn junge Leute<br />

diese Musik aufführten. Das hat mich sehr berührt und auch bestärkt.<br />

Ansonsten haben wir viele Noten von Hand geschrieben, ab den 1970er Jahren<br />

auch versucht, welche zu vervielfältigen – was in der DDR nicht ganz einfach<br />

war.<br />

1990 zur Wende sagten dann einige zu mir: »Na, das mit euren Musici hat sich<br />

wohl nun erledigt. Da kommt doch keiner mehr, oder?« Da konnte ich aber kontern.<br />

Fast alle hatten sich in jenem Jahr wieder angemeldet. Und die Idee der<br />

Musici ist ja auch immer noch sehr lebendig.<br />

Unsere Gemeinschaft aus nunmehr drei Generationen hat Seltenheitswert. Laien<br />

und Profis musizieren unter dem Dach der Kirche zum Lobe Gottes. Ohne<br />

Ansprüche zu erheben. Das ist für mich ohnehin der Sinn der Kirchenmusik:<br />

Gemeindemitglieder singen und spielen für die Gemeinde. Dafür stehe ich.<br />

Und so verkörpern die Musici Jenenses meine Überzeugung in der Musik:<br />

Soli Deo Gloria.<br />

15


Adam Markowski<br />

»Habt ihr nicht Lust?«<br />

von Beruf: Musiker/Violinist<br />

Jahrgang: 1983<br />

stammt aus: Dahlewitz bei<br />

Berlin, wohnt in Leipzig<br />

beruflich hauptsächlich tätig:<br />

als Violinist beim MDR-Sinfonieorchester<br />

in Leipzig<br />

kam nach Hiddensee: 2009<br />

bei den Musici aktiv als:<br />

Violinist und Konzertmeister<br />

Wie und durch wen bist du zu den Musici und auf die Insel gekommen?<br />

Durch Juliane Tief. Ich hatte in einem Ensemble für moderne Musik in einer<br />

Konzertreihe mitgespielt, und Juliane hatte mich dort gehört. Nach dem Konzert<br />

rief sie mich an, sie fragte, ob ich nicht Lust hätte, bei den Musici auf<br />

Hiddensee mitzuspielen. Musici? Ich hatte keine Ahnung, was das ist. Aber die<br />

Insel kannte ich aus meiner Kindheit und fand es schön, hier wieder sein zu<br />

können. Also sagte ich zu.<br />

Warum bist du den Musici über die Jahre treu geblieben?<br />

Als ich gehört habe, wie viele Menschen aus unterschiedlichen Generationen sich<br />

hier zum Musizieren versammeln, war ich – ehrlich gesagt – gespannt, welches<br />

perfekte Chaos ich wohl antreffen würde. Als ich dann herkam und sie erlebte,<br />

war ich erstaunt: Es funktioniert! Und das, obwohl sich die Musici nur einmal im<br />

Jahr treffen. Alle haben dasselbe Ziel: das Konzert. Da tritt man auch gern einen<br />

Schritt zurück, damit die Musik gelingt. Ein bisschen wie in einem Ameisenstaat –<br />

allerdings mit sehr großen und vergleichsweise wenigen Ameisen...<br />

Was bedeuten dir die Musici?<br />

Seit ich das erste Mal dabei war, habe ich in keinem Jahr gefehlt. Ich fand hier<br />

viele neue Freunde. Man ist raus aus dem Berufsalltag – auch wenn ich das<br />

16


ganze Jahr Musik mache. Hier können wir selbst bestimmen, was wir spielen.<br />

Und es ist, nebenbei bemerkt, auch ein ganz anderes Gefühl zu wissen, dass<br />

diejenigen, die neben oder hinter mir am Pult sitzen, eben einander Freunde<br />

sind – und nicht nur Kollegen. Im Orchester gibt es Hierarchien und Vorgesetzte.<br />

Aber hier kann jeder einfach sagen: »Habt ihr nicht Lust, wir könnten doch<br />

mal dies oder das spielen…« Man erschafft selbst etwas und kann es in Freiheit<br />

gestalten. – Und hüpft nach der Probe einfach ins Meer.<br />

Ich empfinde es eigentlich als vollkommen irrelevant, welches »objektive Niveau«<br />

wir am Ende bei unseren Auftritten erreichen. Das bedeutet, dass mein<br />

Erfolgserlebnis viel höher ist, wenn wir in diesem schönen Mix aus Profimusikern<br />

und Amateuren (gibt es dafür nicht passenderweise das Wort »Liebhaber«?)<br />

unser Bestes gegeben haben, als wenn ich mit dem absoluten Spitzenorchester<br />

die Qualität erreicht habe, die eh jeder erwartet.<br />

Ich bin oft stolz, was für wunderbare Abende wir da so hinkriegen.<br />

Dazu kommt die Verbindung zum Publikum. Da wir ganz nah bei den Konzertbesuchern<br />

sitzen, spüren wir unmittelbar, wie offen das Publikum ist und wie<br />

es auf jede Energie, die wir als Orchester oder Chor in die Musik pumpen, direkt<br />

emotional reagiert. Es entsteht so eine Art von gegenseitiger Dankbarkeit zwischen<br />

Akteuren und Publikum.<br />

Schön finde ich, dass man bei den Musici über die Generationen mit Menschen<br />

ins Gespräch kommt, mit denen sich sonst vielleicht gar keine Gespräche ergeben<br />

hätten. Ob beim Essen, in der Probe, am Strand, bei den Festen. Sonst im<br />

Alltag bleiben doch oft alle irgendwie unter sich: Kinder, Senioren, Erwachsene<br />

mittleren Alters, die Jugendlichen. Mich beeindrucken die vielen Persönlichkeiten<br />

der Musici, die das alles tragen und mitgegründet haben. Sie wissen, wie<br />

schön das hier ist – und ich weiß es inzwischen auch.<br />

Haben die Musici dein Leben jenseits der Insel beeinflusst?<br />

Wenn ja – in welcher Weise?<br />

Ich habe hier meine Freundin Pauline kennengelernt. Wir leben jetzt schon seit<br />

sieben Jahren zusammen. Damit gibt es für uns auf der Insel eine Menge Orte,<br />

die uns viel bedeuten.<br />

Gemerkt habe ich auch, dass ich mich bei den Musici gut musikalisch ausprobieren<br />

kann. Zum Beispiel, wie man beim Dirigenten musikalische Vorschläge<br />

anbringt und wie man auf positive Art Einfluss nehmen kann. So, dass alle am<br />

Ende idealerweise vielleicht noch mehr Freude an der Musik haben.<br />

Was kannst du über die Musici erzählen? Welche Erinnerungen bleiben?<br />

Da fällt mir zuerst dieser krasse Kloß ein, den ich beim Abschied im Hafen regelmäßig<br />

im Hals habe. Rational einfach nicht erklärbar, weil man ja eigentlich<br />

weiß, dass man schon bald an eben diesem Anleger wieder ankommen wird.<br />

Und ich komme bestimmt wieder!<br />

17


Andrea Schmidt<br />

»Angekommen – und angenommen«<br />

von Beruf: Geigerin und<br />

Geigenlehrerin<br />

Jahrgang: 1977<br />

stammt aus: Dresden,<br />

wohnt jetzt in Jena<br />

beruflich hauptsächlich<br />

tätig: als Lehrerin an der<br />

Musik- und Kunstschule<br />

Jena und freiberuflich als<br />

Geigerin in der Alten Musik<br />

kam nach Hiddensee: 2013<br />

bei den Musici aktiv als:<br />

Geigerin im Orchester und<br />

zeitweise als Chorsängerin<br />

im Alt<br />

Wie und durch wen bist du zu den Musici und auf die Insel gekommen?<br />

Ich hatte von den Musici Jenenses noch nie gehört, als mich vor ein paar Jahren<br />

Susanne Baudach ansprach. Im Orchester fehle im Sommer auf Hiddensee eine<br />

Geigerin. Ob ich nicht einspringen wolle? Ich war das erste Jahr alleinerziehend,<br />

meine Jungs waren zehn und fünf. Als ich ihnen gegenüber die Worte Ostsee<br />

und Ferien und Musici erwähnte, waren sie Feuer und Flamme. Ich sagte also<br />

zu. Als ich die Truppe auf der Insel zum ersten Mal traf, war ich platt: So viele<br />

bekannte Leute! Ich fühlte mich überhaupt nicht fremd, sondern war angekommen<br />

– und angenommen. Und meine Jungs waren sofort ein Teil der »Gang«.<br />

Warum bist du den Musici über die Jahre treu geblieben?<br />

Es ist eine perfekte Mischung aus Individualität und Gemeinschaft. Wir machen<br />

als Familie Urlaub, und doch kann jeder machen, was er möchte – mit denen,<br />

die er mag. Ich weiß noch, wie wir nach dem ersten Urlaub mit den Musici<br />

wieder zu Hause in Jena ankamen. Wir saßen in unserer Wohnung und fühlten<br />

uns regelrecht verloren.<br />

Meinen Mathias haben wir zum ersten Mal 2017 auf die Insel mitgebracht, und<br />

ich bin froh, dass er diese Zeit ebenso genießt wie wir alle. Die Musici und Hiddensee,<br />

das gehört zu unserem Leben.<br />

18


Was bedeuten dir die Musici?<br />

Sehr viel. In einem Jahr konnten wir mal nicht dabei sein. Wir waren daheim<br />

und dachten dauernd an die Musici und wie sehr sie uns fehlten, und ihre Konzerte,<br />

und die Leute, und das Zusammensein mit ihnen, und der Strand…<br />

Wichtig für mich in der Zeit als alleinerziehende Mutter war auch, dass ich hier<br />

mal richtige Erwachsenengespräche führen konnte. Ich fühlte mich aufgehoben.<br />

Jeder ist hier für den anderen da. Einmal stand einer meiner Jungs abends<br />

nach dem Schlafengehen oben an der Treppe im Heim und weinte. Er hatte wohl<br />

schlecht geträumt. Hier ruft dann aber niemand hektisch »Wo ist denn die Mutter?«.<br />

Sondern jeder, der gerade vorbei kommt, nimmt sich eines Kindes und<br />

seines Kummers an. Und ich glaube, er ließ sich damals auch sofort von jemandem,<br />

den er gar nicht so genau kannte, wieder ins Bett bringen. Dieses Sich-<br />

Für-Andere-Verantwortlich-Fühlen empfinde ich als kostbar, selten, ja einmalig.<br />

Und noch etwas ist mir wichtig. Ich komme aus der Kirchenmusik. Mein Großvater<br />

war Kantor, ich habe Kurrende gesungen. Im Alltag habe ich jedoch kaum<br />

Gelegenheit zu singen. Aber ich spüre, wie gern hier die Laien zusammenkommen,<br />

um zu musizieren, vor allem im Chor. Ich kenne den perfektionistischen<br />

Anspruch im Konzertalltag. Aber mit den musikalischen Laien steht hier die<br />

Freude im Vordergrund. Perfekt – das geht natürlich mit drei Tagen Probe<br />

nicht. Aber die Konzerte sind großartige gemeinschaftliche Erlebnisse.<br />

Bei uns musizieren ja inzwischen alle Familienmitglieder: Ich spiele Geige,<br />

mein Lebensgefährte Mathias Arnaud Fagott, mein großer Sohn David Trompete<br />

und Samuel singt im Chor. Hausmusik ist bei uns allerdings leider eher<br />

selten. Im Lockdown während der Corona-Pandemie haben wir aber jede Woche<br />

für die Jenaer im Viertel Balkonmusik gemacht. Das kam wunderbar an – so<br />

haben wir zugleich regelmäßig geübt und uns darauf vorbereitet, auf Hiddensee<br />

erstmals ein richtiges öffentliches, wenn auch kleines, Konzert als Familie zu<br />

geben. Dass dies geklappt hat, hat mich sehr glücklich gemacht.<br />

Haben die Musici dein Leben jenseits der Insel beeinflusst?<br />

Wenn ja – in welcher Weise?<br />

Man kennt über die Musici eine Menge Leute. Clemens kümmert sich beispielsweise<br />

daheim um mein Auto. Er sagt, was kaputt ist, was repariert werden muss<br />

und was Zeit hat. Und die in Jena wohnenden Musici gehören inzwischen zum<br />

Stammpublikum der Konzerte unseres Alte-Musik-Ensembles Capella Jenensis.<br />

Was kannst du über die Musici erzählen? Welche Erinnerungen bleiben?<br />

Unvergesslich ist mir, wie wir in einem Jahr mal die Bachkantate »Widerstehe<br />

doch der Sünde« im großen Konzert aufführten. Mein Sohn Samuel hörte es<br />

sich genau an. Und sehr sehr spät beim Zubettgehen fragte er mich plötzlich:<br />

»Mama, was ist eigentlich Sünde?« Diese Frage war mit so viel Ernsthaftigkeit<br />

gestellt, dass ich darauf sofort eingehen und sie mit ihm besprechen musste.<br />

Das heißt: Bei den Musici kann man auch ernsthafte Gespräche mit seinen Kindern<br />

führen.<br />

19


Andreas Korn<br />

»Eine Balance herstellen«<br />

von Beruf: Sänger, Chorleiter,<br />

Pianist, Kapellmeister<br />

Jahrgang: 1945<br />

stammt aus: in Beierfeld<br />

(Erzgebirge) aufgewachsen,<br />

wohnt in Leipzig<br />

beruflich hauptsächlich<br />

tätig: Theaterengagements<br />

in Meiningen, Weimar,<br />

Greiz, Chemnitz, Leipzig<br />

kam nach Hiddensee: 2001<br />

bei den Musici aktiv als:<br />

Sänger, Cembalist, Organist,<br />

Chorleiter, Dirigent<br />

Wie und durch wen bist du zu den Musici und auf die Insel gekommen?<br />

Es muss im Herbst im Jahr 2000 gewesen sein, als ich auf einer Demo in Weimar<br />

war – wahrscheinlich ging es um den Erhalt der Thüringer Theaterlandschaft.<br />

Da sprach mich meine Kollegin vom DNT Birgit Hofmann an, ob ich nicht mal<br />

zu den Musici nach Hiddensee mitfahren wolle. Dort brauche man jemanden,<br />

der sich um Chor, Solisten und deren Begleitung kümmert. Und meinen Sohn<br />

Alexander könne ich da auch ruhig mitbringen, meinte sie. Sie erzählte mir die<br />

Geschichte der Musici – und ich muss zugeben, dass es mich beeindruckt hat,<br />

wie es dieser festen Gemeinschaft gelungen ist, über so viele Jahre eine Tradition<br />

weiter zu führen.<br />

Außerdem – ich kannte die Singfahrten der Jugendkantoreien meiner erzgebirgischen<br />

Heimat und war ja auch von meinen Jahren im Dresdener Kreuzchor<br />

auf »Gemeinschaft« geprägt. Dazu ein lockerer Dienst und Musik. Die Kirchenmusik<br />

war in meinen Jahren an den Theatern etwas aus meinem Gesichtsfeld<br />

verschwunden. Das hat mich gelockt. Also bin ich gleich im Sommer darauf<br />

zum ersten Mal auf die Insel mitgefahren und wurde mit offenen Armen und<br />

Herzen empfangen. Dazu kam, dass ich etliche von den Musici schon von meiner<br />

Arbeit in Leipzig und Weimar kannte. Das hat mir sehr geholfen. Und ich<br />

war dann schließlich auch erstaunt, in welch kurzer Probenzeit doch ein passables<br />

Ergebnis erreicht wurde.<br />

Warum bist du den Musici über die Jahre treu geblieben?<br />

Nun, ich war seit 2001 nicht lückenlos dabei – musste aus persönlichen Gründen<br />

auch manchmal fehlen. Aber da waren die Begegnungen, die Schönheit der Insel…<br />

20


Das alles gilt bis heute. Für mich als einen der musikalischen Leiter gibt es<br />

auch noch andere Aspekte: Das gemeinsame Musizieren von inzwischen meist<br />

professionellen Instrumentalisten, Solisten und andererseits Laien-Sängern ist<br />

eine echte Herausforderung. Es erfordert, in den Proben bis hin zur Aufführung<br />

eine Balance herzustellen. Mit Geduld, Toleranz, Verständnis, gegenseitiger<br />

Rücksicht und Solidarität. Denn das gemeinsame Ziel einer öffentlichen Präsentation<br />

im Konzert verbindet alle Beteiligten. Das ist nicht einfach eine Belastung,<br />

sondern eine persönliche Bereicherung, die schließlich in den Auftritt<br />

vor einem wirklich dankbaren und treuen Publikum mündet. Glücklich macht<br />

mich, wenn ich dabei gegenseitiges Verständnis und Anerkennung für die Leistung<br />

des oder der anderen Musici erlebe.<br />

Was bedeuten dir die Musici?<br />

Also ich freue mich jedes Jahr, wenn ich wiederkommen kann. Schon um zu sehen:<br />

Es sind neue kleine Kinder da. Die schon da waren, sind größer geworden.<br />

Alle Altersstufen freuen sich auf Gespräche, gemeinsames Musizieren, Sonnenbäder…<br />

Mir selbst bedeuten die Gespräche viel. Über Musik, Gott und die Welt, oft auf<br />

religiöser Grundlage. Die Musici – das ist in meinen Augen ein Kosmos von<br />

Menschen, die zwar nicht alle gleich gesinnt, aber gleich gestimmt sind. Ich<br />

kenne auch keinen anderen Ort, an dem man sich so beim Arbeiten erholen<br />

kann, sich an der Musik in dieser Weise erbaut. Es findet ein gemeinsames<br />

inneres Wachstum, eine gemeinsame innere Freude statt.<br />

Was mir übrigens auch wichtig ist: für eine Zeit gemeinsam zu leben, die<br />

Zeitstruktur mit Andacht, Proben, gemeinsamen Mahlzeiten, Strand, Konzerten,<br />

Feiern und Sonnenuntergängen zu erleben. Das ist einfach schön.<br />

Haben die Musici dein Leben jenseits der Insel beeinflusst?<br />

Wenn ja – in welcher Weise?<br />

Wer einmal bei den Musici auf Hiddensee war, der nimmt die Insel mit aufs<br />

Festland. Man denkt oft noch lange über persönliche Begegnungen nach. Auch<br />

der Bekannten- und Freundeskreis erweitert sich über die zwei Wochen Hiddensee<br />

hinaus.<br />

Für mich selbst bedeutet es seit Jahren immer wieder, dass ich in den Monaten<br />

vor diesen Sommerwochen verschiedene Kompositionen erarbeite und mehrere<br />

Arrangements für die Musici schreibe. So habe ich bereits Stücke von Britten,<br />

Lewandowski, Beethoven, Reger, Schubert an die Möglichkeiten der Musici in<br />

der Inselkirche angepasst.<br />

Herrlich finde ich, in meiner Heimatstadt Leipzig Musici zu treffen, die dort das<br />

Musikleben bereichern oder Musik studieren. Die also ihren Weg genommen<br />

haben, von den Musici auf Hiddensee über die Musikschulen und Musiklehrer<br />

bis zum Hochschulstudium und in die Ensembles Deutschlands und auch darüber<br />

hinaus.<br />

21


Was kannst du über die Musici erzählen? Welche Erinnerungen bleiben?<br />

Gern denke ich an die Sommerwochen zurück, die ich mit meinem Sohn bei den<br />

Musici verlebt habe. Wie er mit anderen Kindern versucht hat, im Hafen auf<br />

einem Boot zu übernachten, und ich mich besorgt gefragt habe: Was passiert<br />

eigentlich, wenn es Sturm gibt??? Und wie wir Erwachsenen uns heimlich hingeschlichen<br />

haben um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist.<br />

Oder auch, dass Alexander und ich gemeinsam in der Inselkirche musiziert<br />

haben. Bach-Kantaten, Mozart-Messen. Na, und dann die fulminanten Sonnenuntergänge<br />

und die ständige Hoffnung auf Bernstein-Funde…<br />

22


Andreas Linde<br />

»Rückendeckung für den Alltag«<br />

von Beruf: Bürokaufmann<br />

Jahrgang: 1975<br />

stammt aus: Leipzig<br />

beruflich hauptsächlich<br />

tätig: als Bürokaufmann<br />

kam nach Hiddensee: 1986<br />

bei den Musici aktiv als:<br />

Chorsänger im Bass<br />

Wie und durch wen bist du zu den Musici und auf die Insel gekommen?<br />

Durch meine Eltern und ihre Freunde. Ich war elf, als ich das erste Mal mitgesungen<br />

habe, im Chor als Knabensopran. Das fand ich toll, so als Kind gemeinsam<br />

mit den Großen zu singen. Ich hatte noch keine musikalische Ausbildung<br />

und habe einfach versucht, mich den Erwachsenen musikalisch anzupassen.<br />

Wir sangen unter anderem eine Schubert-Messe und ich denke, ich konnte<br />

stimmlich ganz gut mithalten.<br />

Wir waren schon mehrere Kinder, die damals dabei sein durften. Alle schliefen<br />

im Pfarrhaus zusammen in einem Raum, und von den Erwachsenen musste<br />

immer einer auf uns aufpassen.<br />

Warum bist du den Musici über die Jahre treu geblieben?<br />

Einige Jahre war ich nicht dabei. Ich hatte Angst, dass ich den Pflichten im Heim<br />

und in der Gemeinschaft nicht genügen konnte, mit Küchendienst und anderen<br />

Aufgaben. 2008 war ich mit den Eltern zuerst im Urlaub in Osttirol und hatte<br />

danach den Sommer über frei. Nach dem Berg-Urlaub fuhren die beiden nach<br />

Hiddensee und ich war ziemlich traurig, so allein daheim in Leipzig. Denn ich<br />

23


wusste ja, wo sie da hinfuhren. Da kam ein Anruf, im Bass wäre ein Sänger<br />

ausgefallen. Ich war so froh, dass es noch geklappt hatte und ich teilnehmen<br />

durfte! Und bin sofort los, mit selbst-aufblasbarer Matratze, und habe im Eltern-<br />

Zimmer campiert.<br />

Was bedeuten dir die Musici?<br />

Ich bin vor allem wegen der Freunde dabei. Besonders mit Adam, aber auch mit<br />

vielen anderen verstehe ich mich gut. Inzwischen würde ich auch allein kommen,<br />

ohne die Eltern. Sogar den Küchendienst bekomme ich inzwischen hin. Es<br />

bedeutet mir sehr viel, dass ich bei den Musici dazu gehören darf. Denn hier<br />

fühle ich mich aufgehoben.<br />

Meine Gesundheit macht mir oft zu schaffen. Aber bei den Musici darf ich mich<br />

gesund fühlen. Hier kann ich gut üben, was mir im Alltag oft schwerfällt. Die<br />

Gruppe akzeptiert und respektiert mich, und deshalb gelingen mir hier Sachen,<br />

die ich mir sonst gar nicht erst zutrauen würde. Ich brauche da jemanden, der<br />

mich unterstützt. 2019 habe ich es so auch geschafft, in einem Film über die<br />

Musici mitzumachen, und beim Abschlussabend habe ich im Quartett Cello gespielt.<br />

Es ist so ein wohlwollender Umgang miteinander. Jeder versucht, diese Gemeinschaft<br />

zu erhalten und zu bereichern. Dazu diese Musik, verbunden mit dem<br />

Glauben. Manchmal gibt es auch schwierige Werke. Das kann herausfordernd<br />

sein. Aber ich bin auch da stolz, wenn ich ein Teil davon sein und mitwirken<br />

kann. Ich habe großen Respekt vor den künstlerischen Leitern und staune immer,<br />

welche passende Literatur sie finden, die in der knappen Probenzeit auch<br />

umgesetzt werden kann.<br />

Ja, und dann liebe ich auch diese Insel, nicht nur den schönen Strand mit tollen<br />

Sonnenuntergängen, sondern auch das Hochland und die Dünen-Heide.<br />

Haben die Musici dein Leben jenseits der Insel beeinflusst?<br />

Wenn ja – in welcher Weise?<br />

Die Freundschaften halten über die Inselzeit hinaus. Das war von Anfang an<br />

so, sogar als wir noch Kinder waren. Und die Rückendeckung, die ich von den<br />

Musici im Sommer bekomme, dieses Wohlwollen, das Füreinander wirken auch<br />

in meinen Alltag und geben mir dafür Sicherheit, so dass ich ihn immer ein<br />

bisschen besser hinkriege.<br />

In Leipzig gibt es ja viele Musici, und da sehe ich zu, dass ich dort bei den Treffen<br />

immer dabei sein kann. Die Erinnerungen an die Musici-Zeit im Sommer<br />

tragen mich das ganze Jahr, auch über schwere Momente hinweg, und wenn es<br />

mir mal nicht so gut geht.<br />

Was kannst du über die Musici erzählen? Welche Erinnerungen bleiben?<br />

Da ist vor allem die gemeinsame Zeit am Strand, die Feuerchen aus trockenen<br />

Ästen und Strandgut und das Baden an der Hucke. Dazu das Zusammensein in<br />

großer Gruppe auch mit den Kindern und Jugendlichen. Viele kenne ich noch<br />

24


aus DDR-Zeiten, aus unserer Kindheit. Das gemeinsame Baden in der Ostsee –<br />

mit Quallen auf dem Kopf – das war vielleicht verrückt! Das Tauchen im klaren<br />

Wasser. Manchmal entdeckte man in den 1980er Jahren eine dänische Tüte im<br />

Strandsand…<br />

Und dann unser Ausflug zur Fährinsel im Sommer 1986, wohin wir alle Mann<br />

durchs Wasser mit hochgekrempelten Hosenbeinen gewatet sind. Dort machten<br />

wir ein Picknick, mit Wassermelonen…<br />

Jetzt gibt es bei den Musici allmählich einen Generationswechsel. Mit neuen<br />

Ideen und Aktivitäten. Das kommt allen zugute. Die Alten – und auch meine Eltern<br />

– sind weiter dabei. Die Veränderung verläuft langsam. Und das ist gut so.<br />

25


Angela König<br />

»Was für ein Klang, welche Fülle«<br />

von Beruf: Krankenschwester<br />

Jahrgang: 1965<br />

stammt aus: Erfurt, wohnt<br />

jetzt in Eisenach<br />

beruflich hauptsächlich<br />

tätig: als Hausfrau und<br />

Mutter von fünf Kindern<br />

kam nach Hiddensee: 2018<br />

bei den Musici aktiv als:<br />

Chorsängerin im Sopran<br />

Wie und durch wen bist du zu den Musici und auf die Insel gekommen?<br />

Meine Freundin <strong>Angelika</strong>, die auch meine Chor-Kollegin in unserem Erfurter<br />

Frauenchor Mechoria ist, sagte schon jahrelang, die Musici Jenenses, das wäre<br />

das Richtige für mich. Ich wollte einerseits schon gern mitfahren nach Hiddensee,<br />

andererseits aber die Ferien nicht ohne meine Familie verbringen. Dann<br />

fehlten im Chor aber Sängerinnen im Sopran und Andreas Korn gab mir auch<br />

einen Schubs – so war ich 2018 das erste Mal dabei. Ab dem zweiten Sommer<br />

habe ich meine Familie mitgeschleppt. Denn das, was ich bei den Musici erlebt<br />

hatte, das wollte ich immer wieder haben.<br />

Warum bist du den Musici über die Jahre treu geblieben?<br />

Ich habe eigentlich oft Probleme, mich in großen Gruppen wohlzufühlen und da<br />

Anschluss zu finden. Aber von den Musici fühlte ich mich sofort aufgenommen.<br />

Ob am Strand, beim Bäcker oder auf der Straße, plötzlich kannten mich alle,<br />

sie sprachen mich an, alles völlig ungezwungen. Ich hörte immer wieder ein<br />

»Hallo« und »Schön, dass du da bist«. Dazu kommt, dass ich so ungeheuer gern<br />

Musik mache.<br />

26


Was bedeuten dir die Musici?<br />

Zuerst war ich sehr überrascht. Ich komme von der Kammermusik, vom Musizieren<br />

in kleinen Besetzungen. Früher waren mir große Besetzungen immer<br />

zu viel. Plötzlich – welch ein Klang, welche Fülle, diese schönen kraftvollen<br />

Männerstimmen. Das alles mit Orchester. Und ich selbst mitten darin. Dazu drei<br />

wunderbare Dirigenten, die in ihrem jeweils eigenen Stil kaum unterschiedlicher<br />

sein könnten. Das hat mir sehr gefallen.<br />

Dazu kommt: Auf Hiddensee ist nix los. Keine Bettenburgen, keine Events.<br />

Nichts von allem. Dafür Bessin, Dornbusch, Steilküste, der Strand. Das ist so<br />

schön! Hier kann man seinen Frieden haben.<br />

Haben die Musici dein Leben jenseits der Insel beeinflusst?<br />

Wenn ja – in welcher Weise?<br />

Na ja, ich habe hier ganz neue Erfahrungen in der Musik gemacht. Messen,<br />

Bach-Kantaten, die ich sonst nie gesungen hätte. Das macht total Spaß, und es<br />

gehört für mich genau nach Hiddensee.<br />

Was kannst du über die Musici erzählen? Welche Erinnerungen bleiben?<br />

Da ist bei mir noch nicht so viel zusammen gekommen. Aber ich denke noch oft<br />

daran, wie <strong>Angelika</strong> und ich zusammen in meinem ersten Hiddensee-Sommer<br />

in dieser kleinen Dachstube gewohnt haben. Und wie ich mich zuerst gegruselt<br />

habe, im offenen Meer zu schwimmen. Dabei ist das etwas so Wunderbares!<br />

27


Dr. Angela von Arnim<br />

»Ich habe hier etwas über die DDR gelernt«<br />

von Beruf: Ärztin für Innere<br />

und Psychosomatische<br />

Medizin und Körperpsychotherapie<br />

Jahrgang: 1953<br />

stammt aus: Bennigsen bei<br />

Hannover, wohnt jetzt in<br />

Berlin<br />

beruflich hauptsächlich<br />

tätig: in einer freien Praxis<br />

für Psychosomatik und<br />

Psychotherapie<br />

kam nach Hiddensee: 2011<br />

bei den Musici aktiv als:<br />

Chorsängerin im Sopran<br />

Wie und durch wen bist du zu den Musici und auf die Insel gekommen?<br />

Ich kannte Cornelia Gudden von den Musici, wir sind befreundete Kolleginnen<br />

im Bereich Körperpsychotherapie. Bei gemeinsamen Weiterbildungen erzählte<br />

sie immer wieder von etwas ganz Besonderem: einer Gruppe von Laien und<br />

Profis, die sich einmal im Jahr auf Hiddensee treffen und unter dem christlichen<br />

Motto »<strong>Cantate</strong> <strong>domino</strong>« musizieren. 2007 zog ich dann nach Berlin um und<br />

dachte: Hiddensee – ist doch gar nicht weit von hier. An einem Wochenende<br />

fuhr ich hin, um sie zu besuchen, und fragte dann einfach mal Dietrich, ob<br />

ich mitsingen dürfe. Meine Mutter war Kirchenmusikerin, und wir drei Kinder<br />

wurden da sehr früh an das Musizieren geistlicher Musik herangeführt. Also –<br />

ich durfte mitmachen. Und erlebte und erlebe hier immer wieder das Aufleben<br />

eines Kindheitsglücks.<br />

Warum bist du den Musici über die Jahre treu geblieben?<br />

Ich habe die Wochen mit den Musici sofort zu meinem alljährlichen Jahresurlaub<br />

erkoren, denn ich liebe diese Musik – Bach, auch Reger, Mozart, Mendelssohn…<br />

Allerdings war es oft gar nicht so leicht, ein Quartier zu finden.<br />

Und anfangs gab es mit einigen Mitgliedern der Musici auch Konflikte, so dass<br />

ich mich dann manchmal fragte: Gehöre ich dazu? Dieses Gefühl hat sich inzwischen<br />

gelegt, und ich fühle mich zugehörig. Was die Chorleitung mit den<br />

28


verschiedenen Dirigenten angeht, war ich es manchmal, die den Konflikt suchte,<br />

wenn mir die Strukturen unklar oder unproduktiv erschienen. Und ich bin<br />

erleichtert, dass das möglich war und der Führungsstil mir inzwischen weitaus<br />

kooperativer vorkommt, so dass jede/r ihre/seine Fähigkeiten und Besonderheiten<br />

ausleben kann.<br />

Was bedeuten dir die Musici?<br />

Ich erlebe hier ein Stück Zeitgeschichte. Ich bin ja im Westen Deutschlands<br />

sozialisiert. Bis ich zu den Musici kam, kannte ich quasi nur Wessis. Ich habe<br />

hier etwas über die konkreten Lebensverhältnisse in der DDR gelernt und wie<br />

das Gesellschaftliche und das Private ineinander fließen. Das war ganz wichtig<br />

für mich.<br />

Ich denke, dass ich bei den Musici erstmals sehr anschaulich begriffen habe,<br />

wie die Menschen in der DDR gelebt, was manche erlitten haben und wie sie in<br />

der Musik eine Kraftquelle fanden. Wie der Glaube viele von ihnen auch durch<br />

schwere Jahre getragen hat. Und welche Bedeutung die Musik für Menschen in<br />

schweren Momenten haben kann. Das und die Bedeutung der Gemeinschaft ist<br />

mir hier sehr klar geworden. Die Gemeinschaft hier empfinde ich besonders im<br />

Chor regelrecht körperlich. Man atmet beim Singen ja quasi gemeinsam, rückt<br />

dabei auch emotional zusammen. Über das Singen wird ein ganz anderer Ausdruck<br />

von Gefühlen möglich. Und die erleben wir gemeinsam.<br />

Haben die Musici dein Leben jenseits der Insel beeinflusst?<br />

Wenn ja – in welcher Weise?<br />

Ja, das haben sie. Gleich nachdem ich im ersten Sommer bei den Musici war,<br />

suchte ich mir in Berlin einen Chor mit einem ähnlichen Repertoire. Ich wollte<br />

nun auch das Jahr über wieder regelmäßig musizieren. Dort singe ich noch<br />

immer mit.<br />

Und noch etwas: Vor einigen Jahren besuchte mich hier während der Musici-<br />

Wochen ein Bekannter. Über ein Wochenende – das war der Plan. Er ist geblieben.<br />

Und inzwischen für mich auch nach Berlin umgezogen – damit wir nicht<br />

nur auf der Insel zusammen sein können. Ihn macht diese Musik übrigens auch<br />

sehr glücklich.<br />

Was kannst du über die Musici erzählen? Welche Erinnerungen bleiben?<br />

Ganz viele. Hier nur ein Beispiel: Adam hat mir mal eine Geigenstunde gegeben<br />

für ein Tangostück, das wir beim Abschlussfest (zusammen mit Juliane) spielen<br />

wollten. Und Anton hat mir dafür seine Geige geliehen. Das fand ich beides<br />

toll. Sechs Jahre lang hatte ich keine Geige mehr in der Hand gehabt, aber wir<br />

haben’s geschafft.<br />

Überhaupt, die Abschlussfeste. Mit Badehandtuch-Rap, Auftritten der Kleinsten,<br />

Männerchor und Farbfilm-Vergessen. Das ist jedes Mal ein Genuss. Und<br />

das bleibt.<br />

29


<strong>Angelika</strong> Knoll<br />

»Ohne Toleranz wird’s schwierig«<br />

von Beruf: Musikerin/<br />

Cellistin<br />

Jahrgang: 1948<br />

stammt aus: Altenburg,<br />

wohnt in Weimar<br />

beruflich hauptsächlich<br />

tätig: als Cellistin der Jenaer<br />

Philharmonie<br />

kam nach Hiddensee: 1971<br />

bei den Musici aktiv als:<br />

Cellistin im Orchester<br />

Wie und durch wen bist du zu den Musici und auf die Insel gekommen?<br />

Ich kannte Birgit Hofmann von unserer gemeinsamen Schulzeit an der Spezialschule<br />

für Musik in Weimar-Belvedere. Auch während unserer Studienzeit an<br />

der Musikhochschule in Weimar musizierten wir zusammen. Sie gehörte damals<br />

schon zu den Musici und erzählte von ihnen. Vom Schlafsaal in der Scheune,<br />

dem Küchendienst, dem Strandleben mit FKK und den lustigen Leuten dort.<br />

Es war ganz klar – das war ein Anfüttern. Und dann sagte sie, dass dort dringend<br />

noch ein Cello fürs Orchester gebraucht würde und guckte mich dabei an.<br />

Ich sagte zu – und so stand ich dann an einem Sommerabend in Weimar auf<br />

dem Bahnhof und fand da eine sehr muntere Truppe vor, die mit dem Nachtzug<br />

zur Ostsee fuhr. Dann ging‘s im Morgengrauen vom Stralsunder Bahnhof zu<br />

Fuß zum Hafen. Wir sahen den Sonnenaufgang, es roch nach Meer. Und dann<br />

die Überfahrt – alle waren total aufgeregt: Wer sieht zuerst den Leuchtturm von<br />

Hiddensee? Die Heiderose? Orte, die ich in den folgenden Jahren alle für mich<br />

entdeckt habe.<br />

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Warum bist du den Musici über die Jahre treu geblieben?<br />

Als ich das erste Mal mitfuhr, da bestanden die Musici ja schon zehn Jahre. Es<br />

war dort also schon nicht mehr ganz so wie am Anfang. Und heute ist es nicht<br />

mehr so wie in meinen ersten Jahren. Ich meine damit: Es ist doch faszinierend,<br />

wie sich diese Gruppe immer wieder erneuert, sich neu erfindet, sich immer<br />

wieder verjüngt und zu welcher Qualitätssteigerung sie sich aufgeschwungen<br />

hat. Ich bewundere das Engagement derer, die das alles über so lange Zeit zusammengehalten<br />

und ermöglicht haben. Und auch, wie alles gemeinschaftlich<br />

getragen wird: die Küchenarbeit, das Verwalten der Finanzen, die Notenbeschaffung,<br />

die Proben. Und das alles in größter Freundschaft und Fröhlichkeit.<br />

Es geht nicht darum, Ansprüche zu stellen, sondern zusammen zu sein.<br />

Was bedeuten dir die Musici?<br />

Ich würde es im Sommer nicht aushalten ohne sie. Als Cellistin habe ich prima<br />

Mitstreiter in Susanne und Eckhard, und wir teilen uns die solistischen Aufgaben.<br />

Das freut mich. Allerdings werde ich ja auch älter und weiß nicht, wie<br />

lange ich noch auf die Insel fahren kann. Einen radikalen Bruch, ein plötzliches<br />

Wegbleiben – das kann ich mir gar nicht vorstellen. Es ist mir weiter wichtig,<br />

dazu zu gehören, am Leben der anderen teilhaben zu dürfen.<br />

Was ich hier gelernt habe: Toleranz. Hier treffen so viele verschiedene Menschen<br />

aufeinander, dass es ohne dies einfach nicht geht. Alte und Junge und Kinder<br />

und die mittlere Generation und Laienmusiker und professionelle Musiker. Und<br />

alle sind Individualisten. Da bleiben Probleme nicht aus. Für 14 Tage ist man<br />

zusammengeschmiedet – strebt aber ein gemeinsames Ziel an: die Konzerte. Ich<br />

habe gelernt, dass ich Lösungen suchen muss statt mich zu ärgern, wenn mir<br />

was nicht passt. Dass ich Dinge gelassen nehmen kann und sich Konflikte lösen<br />

lassen. Das ist wie beim Musizieren. Man muss spüren, wann man dominieren<br />

kann und wann man sich zurücknehmen sollte.<br />

Es gab in einem Jahr mal drei Mädels, die konnten sich mit den Umständen auf<br />

Hiddensee nicht arrangieren. Sie reisten nach ein paar Tagen wieder ab. Schade.<br />

Aber ohne Toleranz wird’s bei den Musici schwierig.<br />

Haben die Musici dein Leben jenseits der Insel beeinflusst?<br />

Wenn ja – in welcher Weise?<br />

Das Musici-Gefühl hat in früheren Jahren noch weiter getragen, und es gab<br />

nach den Hiddensee-Tagen im Sommer oft noch ein Musici-Treffen im Herbst,<br />

bei dem wir noch ein bisschen weiter musiziert haben. Aber die Leichtigkeit,<br />

das Unbelastete des Sommers auf Hiddensee ist eben etwas Besonderes. Auch<br />

manche wichtige und langjährige persönliche Beziehung, die auf der Insel begonnen<br />

hat, habe ich mitgenommen in meinen Alltag.<br />

Was kannst du über die Musici erzählen? Welche Erinnerungen bleiben?<br />

Ich denke da an viele kleine Dinge: Wie die Hiddenseer Händler zu DDR-Zeiten<br />

aufstöhnten, wenn die Musici zum Einkaufen kamen. Bei damals 50 jungen<br />

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Leuten – da war doch gleich das halbe Regal leer. Vor allem, wenn’s bei Kaufmann<br />

Dittmann Rotwein gab. Oder diese Waschschüsseln, mit denen wir Morgentoilette<br />

machten: Wenn man dort das Wasser rein goss, dann tanzten sie hin<br />

und her, so verbeult waren die. Oder ich denke an unsere Köchin Diethild. Die<br />

hatte einmal an einem Nachmittag bereits das Mittagessen für den nächsten<br />

Tag vorbereitet und in die Speisekammer gestellt. Als sie am nächsten Morgen<br />

kam – ein Schrei. Die Musici hatten die Mahlzeit bereits weg-gekostet.<br />

Oder wie ich einmal direkt vom Dienst total gestresst losfuhr nach Hiddensee<br />

und dann als Letzte ankam. Die anderen empfingen mich mit dem Ausruf: »Wie<br />

siehst du denn aus? So blass!« – Aber das war nach drei Tagen erledigt.<br />

32


Annegret Bormann<br />

»Unausgeschlafen, aber glücklich«<br />

von Beruf: Krankenschwester<br />

Jahrgang: 1960<br />

stammt aus: Kitzscher bei<br />

Borna, lebt in Erfurt<br />

beruflich hauptsächlich<br />

tätig: als Krankenschwester<br />

in einem Erfurter Krankenhaus<br />

kam nach Hiddensee: 1998,<br />

seit 1999 bei den Musici<br />

dabei<br />

bei den Musici aktiv als:<br />

Küchenleiterin und Mitglied<br />

der Blechbläsergruppe<br />

(Tenorhorn)<br />

Wie und durch wen bist du zu den Musici und auf die Insel gekommen?<br />

Durch Clemens, meinen Mann. Damals, Ende der 1990er Jahre, wir waren verliebt,<br />

schwärmte er von den Musici und von Hiddensee. Aber vor der Wende,<br />

als DDR-Bürgerin, war die Insel für mich unerreichbar. Ich kannte sie nicht.<br />

1998 bin ich dann allein mit meinen drei Kindern als Tagesgast auf Hiddensee<br />

gewesen, denn ich wollte herausfinden: Was ist das dort, das die Menschen –<br />

und auch Clemens – so verzaubert? Drei Stunden sind wir damals mit dem<br />

Schiff von Zingst nach Hiddensee geschippert und am Strand rauf und runter<br />

gewandert. Mein Sohn Ludwig, der war damals 13, fand dabei einen winzigen<br />

Hühnergott im Sand, den trage ich bis heute an einer Kette am Hals. Aber – war<br />

das nicht ein gutes Zeichen?<br />

1999 durfte ich dann mit Clemens zu den Musici fahren und nahm meine Johanna<br />

mit, die war gerade 11. Allerdings – die Umstände waren ziemlich gewöhnungsbedürftig.<br />

Da war die Gemeinschaftsunterkunft. Wir hatten unsere<br />

Betten auf dem Spitzboden. Zu dritt campierten wir dort auf Isomatten. Dazu<br />

die Gemeinschaftsduschen, zum Klo musste man nachts durchs ganze Haus…<br />

Und ich fragte mich wirklich: Muss ich mir das als Mutter von drei Kindern<br />

antun? Auf dem Erdboden zu schlafen, zwischen mir völlig unbekannten Menschen?<br />

Kann ich mich hier überhaupt von meiner täglichen anstrengenden Arbeit<br />

als Krankenschwester erholen? In diesem Gewusel und Getümmel so vieler<br />

Menschen? Dazu die ungewohnten Lebensgewohnheiten der Künstler, die oft<br />

noch bis spät in die Nacht zusammensaßen. Ich hatte Zweifel, ob das das Richtige<br />

für mich ist. Aber wir waren dann doch jedes Jahr dabei – nur 2000 nicht,<br />

als unser Sohn Anton geboren wurde. Per Telefon haben Clemens und ich seine<br />

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Ankunft bei den Musici nach Hiddensee vermeldet – ich höre noch den damals<br />

so vielstimmigen Jubel im Telefonhörer.<br />

Warum bist du den Musici über die Jahre treu geblieben?<br />

Wenn man in diese Gemeinschaft hineinwächst, fühlt man sich bald wohl und<br />

begreift, was die Menschen hier zusammenhält. Sie kommen im Sommer von<br />

überallher auf die Insel, sie begegnen sich nur hier. Und sie tun etwas gemeinschaftlich:<br />

Sie musizieren. Für Nicht-Musiker ist es etwas Besonderes, hier an<br />

der Seite der Profis zum Lobe Gottes zu singen und zu spielen. Als Laie lernt<br />

man von ihnen, und das verleiht einem so großen Schwung, dass man vieles<br />

schafft, was man zuvor für undenkbar gehalten hat.<br />

Was bedeuten dir die Musici?<br />

Sie sind für mich eine zweite Heimat, eine zweite Familie. Und das an einem<br />

unglaublich schönen Ort. Dazu kommen diese anrührende kleine Kirche und<br />

diese seltenen und innigen Begegnungen unter uns Musici.<br />

Ich kann inzwischen sagen: Ich habe hier meinen Platz gefunden. Zuerst habe<br />

ich zusammen mit meiner Tochter im Chor mitgesungen. Die Kinder unterstützten<br />

damals den großen Chor, sobald sie es vermochten, denn dieser war zeitweise<br />

nicht so gut besetzt wie heute und benötigte jede Stimme. Meine Tochter<br />

hatte auch ihre Geige dabei und wurde sehr liebevoll und kreativ von Musikern<br />

der Musici angeleitet, in einem kindgerechten Streichquartett zu musizieren.<br />

Das hat ihr viel Freude gemacht. Und ich fand es auch sehr wichtig, dass sie als<br />

Kind mit ihrem Instrument akzeptiert wurde und dabei sein konnte und war<br />

dankbar, dass dies möglich war.<br />

Ich selbst bin später aus dem Chor ausgeschieden, weil mich das Singen stimmlich<br />

zu sehr angestrengt hat. Aber jeder hier muss eine Aufgabe für die Gemeinschaft<br />

erfüllen. Und so habe ich von Ulrike die Küche übernommen. Sogar ihr<br />

Musici-Rezeptbuch habe ich weitergeführt. Da steht inzwischen auch so was<br />

drin wie: »Nudeln müssen 11.30 Uhr kochen« – denn das Essen soll pünktlich<br />

12 Uhr fertig sein – oder »mehr Senfsoße als Kräutersoße kochen!«<br />

Dabei ist die Zahl der Essensportionen Jahr für Jahr gestiegen. 75 Mittags-Portionen<br />

– das ist die absolute Obergrenze, diktiert von der Größe der Töpfe und<br />

der Anzahl der Teller. Mehr geht nicht. Deshalb haben wir auch beschlossen,<br />

ein festes Küchenteam zu bilden. So können die Musiker, die gerade Tischdienst<br />

haben, vormittags an den Proben teilnehmen. Früher gehörte das Kochen auch<br />

zu den Aufgaben des Tischdienstes und nicht jede Mittagsmahlzeit fiel zur Zufriedenheit<br />

aus. Wer kocht schon zu Hause für eine so große Meute?<br />

Wir sind vier bis sechs Leute in der Küche und leisten damit unseren Beitrag –<br />

und das wird auch allgemein sehr anerkannt. Schön finde ich die Dankbarkeit<br />

der Tischgäste. So ist es ein Geben und Nehmen: Wir bereiten ein schmackhaftes<br />

Essen zu und bekommen dafür die schöne Musik, denn bei den Konzerten<br />

sitzen wir oben neben der Orgel und hören zu.<br />

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Haben die Musici dein Leben jenseits der Insel beeinflusst?<br />

Wenn ja – in welcher Weise?<br />

Ich habe eine Inselsehnsucht, die hat einen Selbstlauf. Ich zähle die Monate,<br />

bis ich wieder auf Hiddensee, bei den Musici, sein kann. Ab Januar muss ich<br />

jedes Jahr auch schon an die Vorbereitungen für das nächste »<strong>Cantate</strong> <strong>domino</strong>«<br />

im Sommer denken – bis hin zur rechtzeitigen Planung der Vorräte. Nur mal<br />

ein Beispiel: Sechs große Brote reichen bei den Musici gerade mal einen Tag.<br />

Die Ostseeluft macht Hunger. Schon ein paar Wochen vorher muss ich deshalb<br />

Nudeln, Fleisch, Butter, Wurst im Inselmarkt bestellen.<br />

Voller Ehrfurcht ziehe ich aber den Hut vor denen, die die Musici Jenenses aufgebaut<br />

haben und staune, dass es überhaupt möglich war. Dabei sehe ich auch,<br />

wie sich der Charakter der Musici wandelt, denn jede neue Generation bringt<br />

einen eigenen Geist und neue Ideen mit. Und doch bleibt das bestehen, was sie<br />

alle eint: Die große Liebe zur Musik.<br />

Was kannst du über die Musici erzählen? Welche Erinnerungen bleiben?<br />

Je öfter ich hier bin, desto höher wird der Berg an Erinnerungen. Ich denke zum<br />

Beispiel daran, wie wir vor Jahren mehrfach das Spinett aus Bad Berka auf die<br />

Insel mitnahmen. In Kloster gab es kein entsprechendes Instrument. Erst seit<br />

2015 haben wir eine elektronische Alternative. Gut verschnürt mit Riemen,<br />

wurde es von Familie Schmalfuß erst sogar mit der Bahn transportiert, auch mit<br />

Umsteigen. Später im Pkw. Dieser war damit eigentlich schon voll.<br />

Eine nächste Herausforderung stellte die Verladung auf das Schiff dar, zusätzlich<br />

zu den vielen Taschen und Koffern, Noten, weiteren Instrumenten und<br />

Fahrrädern. Es fühlte sich an wie ein kleiner Umzug. Einmal hieß es dann, wir<br />

brauchten für das Spinett einen Frachtbrief. Den hatten wir natürlich nicht.<br />

Beinahe wären wir mit dem Schiff nicht mitgenommen worden.<br />

Als Mutter und inzwischen Großmutter sehe ich voll Freude, wie die Kinder hier in<br />

die Gemeinschaft und ins Musizieren hineinwachsen. Zum Beispiel konnte sich unser<br />

Sohn Anton von Anfang an mit seiner Posaune in die Bläsergruppe einbringen<br />

und auch Erfahrungen sammeln als Chorsänger. Zuerst im Kinderchor, später im<br />

gemischten Musici-Chor. So werden die Kinder gefördert und anerkannt.<br />

Und schön sind auch die Erinnerungen an Lothar. Er hat die Musici stark mit<br />

geprägt. Dabei war er trotz aller Fröhlichkeit ein sehr gläubiger Mensch, der<br />

seinen Glauben mit seinem Gesang innig ausdrücken konnte. Wir erinnern uns<br />

alle gern an ihn.<br />

Lothar hat jedes Jahr zur Abschiedsfeier eine Kantate dargeboten, die mit Spannung<br />

erwartet wurde. Er verarbeitete im Bachschen Stil die aktuellen Ereignisse<br />

der Saison und begleitete seinen Gesang selbst am Klavier. Uns kamen vor<br />

Lachen die Tränen.<br />

Also, ich kann mir einen Sommer ohne Musici, ohne Hiddensee nicht mehr<br />

vorstellen. Das Gewusel und Gewimmel im Heim ist geblieben. Ich habe mich<br />

dran gewöhnt. Wenn ich nach Hause komme, ist jedes Jahr mein Fazit: Ich bin<br />

unausgeschlafen. Aber so glücklich!<br />

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Annemarie Birckner<br />

»Wir wollen doch berühren«<br />

von Beruf: Bratschistin<br />

Jahrgang: 1991<br />

stammt aus: Jena<br />

beruflich hauptsächlich<br />

tätig: derzeit als Bratschistin<br />

im Philharmonischen<br />

Orchester Coburg<br />

kam nach Hiddensee: 1993<br />

bei den Musici aktiv als:<br />

erst als Sängerin im Chor,<br />

dann als Geigerin, jetzt als<br />

Bratschistin im Orchester<br />

Wie und durch wen bist du zu den Musici und auf die Insel gekommen?<br />

Meine Eltern nahmen mich mit, als ich zwei Jahre war. Meine ersten verschwommenen<br />

Erinnerungen an die Musici sind die an Proben und an Konzerte,<br />

bei denen ich im Kinderchor stand. Das waren zugleich auch meine ersten<br />

musikalischen Erfahrungen.<br />

Mit sechs bekam ich dann die Geige und mit 14 durfte ich das erste Mal im<br />

Orchester bei den Musici mitspielen. Das war für mich ein großer Schritt, und<br />

ich war sehr aufgeregt. Habe zu den Großen hochgeguckt und wollte alles recht<br />

gut machen und das anwenden, was ich gelernt hatte.<br />

Warum bist du den Musici über die Jahre treu geblieben?<br />

Ich bin nur in einem einzigen Jahr mal nicht dabei gewesen. Die Insel und die<br />

Musici, das ist für mich eine zweite Heimat. Ich liebe die Insel, die Art des Miteinanders<br />

in unserer Gemeinschaft.<br />

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Ja sicher, das Musizieren bin ich gewohnt. Auf Leistung hin zu spielen, möglichst<br />

perfekt zu sein. Ich denke aber, da geht vielleicht etwas verloren, nämlich,<br />

dass wir doch eigentlich Musik machen wollen, um zu berühren. Hier erinnert<br />

man sich wieder, und es kommt unglaublich viel zurück. Man spürt, wie man<br />

die Menschen im Publikum erreicht, wie sie ergriffen sind. Wie der Geist der<br />

Musici die Besucher erreicht. Wenn am Schluss alle zusammen singen »Der<br />

Mond ist aufgegangen« – das ist ein unbeschreiblicher Moment. Eben berührend.<br />

Was bedeuten dir die Musici?<br />

Ich sehe hier jedes Jahr meine Freunde wieder, mit denen ich auch aufgewachsen<br />

bin. Obwohl wir viele verschiedene Wege im Leben gegangen sind, verbindet<br />

uns dieser Geist der Musici. Und wenn man übers Jahr mal den einen oder<br />

anderen trifft – nur hier sind wir als Gemeinschaft zusammen.<br />

Und noch etwas ist mir wichtig: Damals, als ich vier war, das weiß ich noch genau,<br />

da nahm mich vor dem Konzert Ulrike an die Hand und ging mit mir rauf<br />

zur Orgelempore. Von dort sah ich hinunter auf das Orchester, den Chor und<br />

die vielen Besucher. Heute sitze ich dort unten selbst und musiziere. Neben mir<br />

sitzt mein Vater am Cello und vor mir steht mein kleiner Bruder im Kinderchor.<br />

Ein unglaublich schönes Erlebnis, das ich nur hier haben kann.<br />

Haben die Musici dein Leben jenseits der Insel beeinflusst?<br />

Wenn ja – in welcher Weise?<br />

Zur Musik bin ich über mein Elternhaus gekommen. Aber die Musici haben<br />

sicher ihren Teil beigetragen, um zu spüren, was Musik bewirken kann. Sie<br />

haben mir auch die Chance geboten, zwei Solokonzerte zu spielen, 2010 von<br />

Henri Casadesus und 2015 von Carl Stamitz. Das ist hier ein Rahmen, in dem<br />

man frei spielen kann, ganz ohne Zwänge, wo die Freude im Vordergrund steht.<br />

Das hat mir sehr geholfen.<br />

Was kannst du über die Musici erzählen? Welche Erinnerungen bleiben?<br />

Ich war früher ein sehr schüchternes Mädchen und hielt mich zuerst immerfort<br />

nur an meine Mama. Und dann kam dieser lustige und laut dröhnende Lothar<br />

»Annemarie, willst du mit mir ums Karree gehen?« Da habe ich mich versteckt.<br />

Gott, war mir das peinlich!<br />

Diese Musici-Wochen sind für mich eine Sammlung von schönen Erlebnissen,<br />

die ich mit in das kommende Jahr nehme, und ich freue mich immer wieder daran,<br />

ganz so wie andere eben ein Schmuckstück oder eine Klamotte als Souvenir<br />

mitzunehmen.<br />

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Annemarie Gäbler<br />

»In der Musik einander begegnen«<br />

von Beruf: Musikerin/<br />

Geigerin<br />

Jahrgang: 1990<br />

stammt aus: Halle, wohnt<br />

jetzt in Leipzig<br />

beruflich hauptsächlich<br />

tätig: als Geigerin im MDR-<br />

Sinfonieorchester<br />

kam nach Hiddensee: 2014<br />

bei den Musici aktiv als:<br />

Geigerin im Orchester<br />

Wie und durch wen bist du zu den Musici und auf die Insel gekommen?<br />

Im Studium lernte ich Adam Markowski und Annemarie Birckner kennen, die<br />

ja schon viele Jahre bei den Musici dabei sind. Sie erzählten immer wieder, wie<br />

toll es sei und wie gut mir die Musici gefallen würden. Ja, und dann fehlte da<br />

eines Tages eine Geige auf Hiddensee und ich durfte mit.<br />

Warum bist du den Musici über die Jahre treu geblieben?<br />

Ich habe mich bei den Musici sofort wohl gefühlt. Ich war schon bei einigen<br />

Musikfreizeiten, aber nirgends war ich gleich so angekommen. Es ist wie ein<br />

zweites Zuhause. Die Mischung aus Urlaub und Probenarbeit, aus Jung und Alt,<br />

aus Musik-Liebhabern bis hin zum Hochschulprofessor machen die Musici zu<br />

etwas ganz Besonderem.<br />

Mir gefällt, dass man hier locker zusammen musiziert. In unserem Musiker-<br />

Alltag dreht sich vieles darum, dass die Musik perfekt werden muss. Gut soll es<br />

hier natürlich auch werden. Aber es gibt keinen Druck von außen.<br />

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Was bedeuten dir die Musici?<br />

Für mich stehen die Menschen hier im Vordergrund. Ich finde unglaublich<br />

schön, dass sie so füreinander da sind – und das nicht nur zwei Wochen im Jahr<br />

auf der Insel. Es ist eine großartige Gemeinschaft.<br />

Selbst wenn wir in diesem Jahr der Corona-Pandemie 2020 gar nicht im Konzert<br />

hätten spielen können, wäre ich zwar traurig gewesen, aber trotzdem gekommen.<br />

Die Musik ist für mich das I-Tüpfelchen. Dass man sich hier auch in der<br />

Musik begegnen kann, das finde ich sehr schön. Und ich hätte es sicher sehr<br />

vermisst, in diesem Jahr nicht bei den Musici gewesen zu sein.<br />

Haben die Musici dein Leben jenseits der Insel beeinflusst?<br />

Wenn ja – in welcher Weise?<br />

In meinem ersten Musici-Jahr 2014 habe ich hier Niels kennen gelernt, und<br />

wir sind seitdem zusammen. Über Niels hinaus gibt es viele Musici, mit denen<br />

wir auch in Leipzig in Kontakt sind. Jörg Baudach ist mein Kollege im MDR-<br />

Orchester. Als wir uns am Anfang meiner Arbeit dort immer so herzlich begrüßt<br />

haben, führte das sogar schon zu Missverständnissen.<br />

Was kannst du über die Musici erzählen? Welche Erinnerungen bleiben?<br />

Das Schöne ist ja, dass jede Generation ihre Geschichten wieder mit der nächsten<br />

teilt und so noch lange Zeit die eine oder andere Begebenheit erzählt wird.<br />

Ich finde es herrlich, wenn zum Beispiel Gitti und Jan von früher erzählen. Da<br />

denke ich manchmal: Mann, sind wir brav! Wobei der Jan auch ein phantasievoller<br />

Geschichtenerzähler ist…<br />

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<strong>Angelika</strong> <strong>Reiser</strong>-<strong>Fischer</strong>, Diplomjournalistin, Jahrgang<br />

1954, Journalistikstudium an der Universität Leipzig<br />

von 1974 bis 1978, Tätigkeit als Reporterin und Redakteurin<br />

bei der Thüringer Allgemeine in Erfurt bis<br />

2019 mit Schwerpunkt Thüringen, Landespolitik, Bildung,<br />

Wissenschaft, Kirchen sowie im Lokaljournalismus.<br />

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.<br />

© 2021 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig<br />

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Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne<br />

Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für<br />

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung<br />

und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Gesamtgestaltung: Zacharias Bähring, Leipzig<br />

Coverbild: Heiner Schwanz<br />

Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen<br />

ISBN 978-3-374-06872-2<br />

www.eva-leipzig.de

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