MinD-Mag 147
Die Zeitschrift von Mensa in Deutschland (MinD), des deutschen Ablegers der weltweiten Hochbegabten-Organisation Mensa.
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REZENSION / AUSZUG<br />
heit befremdlich an, da ich noch nie zuvor<br />
so empfunden habe. Ich habe zwanzig Jahre<br />
in der Kreativindustrie gearbeitet, voller<br />
Überzeugung. Was mich immer begeistert<br />
hat, ist die Kernaufgabe eines Designers<br />
(und jedes anderen Kreativen): aus dem<br />
Nichts etwas Neues zu erschaffen. Eine anfassbare<br />
Vision von dem zu gestalten, was<br />
es in der Welt nicht gibt und was sich keiner<br />
vorzustellen vermag. Immer wieder auf<br />
einem weißen Blatt Papier neu und groß zu<br />
denken. Das Gefühl zu haben, etwas bewirken<br />
zu können.<br />
Ich habe an die Macht der Idee und an<br />
Veränderung geglaubt – das war es, was<br />
sich lohnte, voranzutreiben. Ich wollte die<br />
restriktiven Kräfte überwinden, die überall<br />
lauern – die Bedenkenträger, die Nörgler,<br />
Opportunisten, Politiker, Profilneurotiker;<br />
oder einfach nur diese merkwürdige,<br />
menschliche Eigenschaft, allem Neuen gegenüber<br />
wenig aufgeschlossen zu sein und<br />
denjenigen, die mit neuen Impulsen kommen,<br />
aus Prinzip Steine in den Weg zu legen.<br />
Ich habe an den Fortschritt geglaubt<br />
und die Geschwindigkeit geliebt – auch<br />
angesichts des zunehmenden Tempos der<br />
letzten Jahre dachte ich immer, die Dinge<br />
im Griff zu haben und kontrollieren zu können;<br />
wenn mehr Chaos auf mich einstürzte,<br />
kompensierte ich das einfach mit noch<br />
mehr Struktur, Organisation und Projektmanagement.<br />
Aber was für einen Menschen<br />
hat das aus mir gemacht, im Laufe<br />
der Zeit?<br />
Ich habe an das geglaubt, was wir taten,<br />
und infizierte auch andere ständig mit diesem<br />
unerschütterlichen Glauben. Das war<br />
der Grund, warum mein<br />
inneres Ich und mein geschäftliches<br />
Ich immer<br />
ein und dieselbe Person<br />
waren. Ich war zu einhundert<br />
Prozent überzeugt,<br />
dass es richtig war,<br />
was wir taten. Dass wir im Prinzip für eine<br />
„gute Sache“ arbeiteten.<br />
Als Führungskraft spornte ich meine Leute<br />
dazu an, sich durch nichts in der Welt<br />
vom „Machen“ abhalten zu lassen. Mit der<br />
Zeit entwickelte ich ein Gespür für das<br />
breite wie raffinierte Repertoire an salonfähigen<br />
Ausreden meiner Kollegen und<br />
Mitarbeiter, hinter dem sie sich versteckten:<br />
hinter ihrem Kalender („Wir haben<br />
noch keinen Termin gefunden, um das zu<br />
besprechen“), hinter den Strukturen („Ich<br />
warte noch auf Freigabe von xyz“), hinter<br />
ihrem Job Title („Das gehört nicht zu meinen<br />
Aufgaben“), hinter der Technologie<br />
(„Ich konnte xyz noch nicht machen, da<br />
ich die Software nicht habe“) oder hinter<br />
dem Team („Wir müssen erst xyz ins Boot<br />
holen“). Ich verfügte über einen eingebauten<br />
Detektor für diese diffusen Handlungshohlräume.<br />
Eines habe ich nie verstanden: Unzufriedenheit<br />
bei gleichzeitiger, chronischer Passivität.<br />
Selbst nichts machen, aber kritisieren,<br />
was andere tun. Stillstand, Komfortzone<br />
und Aufrechterhaltung der Struktur nur<br />
um der Struktur willen, das ging mir auf<br />
die Nerven.<br />
Bin ich nun so geworden, wie ich nie sein<br />
wollte? Habe ich mich auf eine innere Distanz<br />
zurückgezogen? Das, was ich tue, hat<br />
nichts mehr mit mir zu tun. Mein geschäftliches<br />
Ich hat sich von meinem inneren Ich<br />
entfernt.<br />
Auf einmal schrecke ich auf, weil mein<br />
Gegenüber mich in seiner Rage am Arm<br />
fasst und ungeduldig bedrängt: „Jetzt sag<br />
doch mal! Was meinst<br />
denn du dazu?!“ Und<br />
ohne nachzudenken, stehe<br />
ich auf, sage: „Genug<br />
jetzt. Ich kann’s nicht<br />
mehr hören.“, drehe<br />
mich um und gehe hinauf<br />
in mein Zimmer.<br />
28 | mind magazin <strong>147</strong>/april 2022