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MinD-Mag 147

Die Zeitschrift von Mensa in Deutschland (MinD), des deutschen Ablegers der weltweiten Hochbegabten-Organisation Mensa.

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REZENSION / AUSZUG<br />

Küchenparty zum Beispiel. Aber nicht im<br />

Meeting. Das Meeting, dessen eigentliche<br />

Aufgabe darin besteht, alle an einen Tisch<br />

zusammenzuholen, ist der Ort, wo man am<br />

wenigsten miteinander spricht. Trotz Deadlines,<br />

Produktlaunches und der Neuerfindung<br />

des Automobils. Einer fragt: „So why<br />

are we here?“ Ich blicke hinunter auf meine<br />

Hände. Ich weiß es nicht.<br />

Alles Fake<br />

Am Abend nach dem Meeting sitzen<br />

mein Kollege und ich im Restaurant unseres<br />

Business-Hotels, ein Pub, der auf den<br />

ersten Blick gemütlich aussieht: mit dicken,<br />

alten Holzdielen am Boden, blau gestrichener<br />

Holzvertäfelung und gemusterten<br />

Tapeten an den Wänden, einem Kamin<br />

in einer Ecke des Raums und einem Tresen<br />

mit goldenen Zapfhähnen. Vor uns steht<br />

ein Pint Bier. Trotz der Atmosphäre hört<br />

das unbehagliche Gefühl nicht auf. Woher<br />

kommt diese Ahnung, dass hier etwas<br />

nicht stimmt? Ich habe Mühe, mich auf das<br />

zu konzentrieren, was mein Kollege mir erzählt,<br />

höre nur mit halbem Ohr hin; er regt<br />

sich über das Projekt und die unmöglichen<br />

Timings auf.<br />

Ich starre nachdenklich in mein Glas und<br />

durch den Boden hindurch auf den Tisch.<br />

Auf einmal wird mir klar, was mich die ganze<br />

Zeit stört; warum mir das alles nicht echt<br />

vorkommt. Die Holzoberfläche ist gar nicht<br />

aus Holz. Sie ist mit einem Plastikfurnier<br />

beklebt, die Holzoptik nur aufgedruckt. Ich<br />

blicke mich im Raum um, und jetzt sehe<br />

ich, dass alles in diesem Raum nur Fake ist:<br />

Die dicken, alten Bohlen am Boden mit ihren<br />

geschwärzten Kanten sind gar nicht alt,<br />

sondern nur auf alt gemacht. Im Kamin in<br />

der Ecke des Raums glimmt bei näherer Betrachtung<br />

ein LED-Feuer.<br />

Das ganze Restaurant ist gar kein Pub,<br />

sondern nur die folkloristische Kulisse eines<br />

Pubs; wahrscheinlich gibt es Hunderte<br />

von identischen Systemgastro-Einrichtungen<br />

in identischen Business-Hotels in ganz<br />

Großbritannien. Ich blicke genervt an die<br />

Decke, während das Gerede meines Kollegen<br />

in eine Tirade über seine Rolle im Konzern<br />

abdriftet. Das kenne ich, er ist permanent<br />

unzufrieden.<br />

Ich kehre gedanklich zu dem Meeting<br />

zurück. Warum kommt es mir im Nachhinein<br />

so surreal vor? Warum erzeugt es ein<br />

solch tiefes Unwohlsein in meiner <strong>Mag</strong>engegend?<br />

Ist das nicht dasselbe untrügliche<br />

Gefühl wie das, das der Fake-Pub in mir<br />

hervorruft? Irgendetwas an diesem Meeting<br />

war ganz gewaltig nicht in Ordnung!<br />

Bin ich zur Beobachterin eines Schauspiels<br />

geworden, an dem ich früher „echt“ teilgenommen<br />

habe?<br />

Allmählich dämmert mir, dass ich mich<br />

schon seit einer ganzen Weile von den Geschehnissen<br />

vor meinen Augen, dieser hektischen<br />

Betriebsamkeit, den Meetings, täglichen<br />

Calls, Exceltabellen, unhaltbaren Timings<br />

und der niemals endenden Flut an<br />

hereinprasselnden E-Mails, irgendwie entfernt<br />

und innerlich abgelöst habe. Und<br />

während ich dem Mädchen hinter dem<br />

Tresen aus Fake-Holz dabei zuschaue, wie<br />

es ein neues Bier für uns zapft, realisiere<br />

ich, dass ich dem Treiben der geschäftlichen<br />

Welt schon seit einiger Zeit nur<br />

noch aus der Distanz zusehe: ein Bühnenstück<br />

mit dem Titel „Digitale Transformation“.<br />

Ich spiele meine Rolle, aber nur noch<br />

mit einstudierten Bewegungen, gelernten<br />

Stichworten – nur, um den Schein zu wahren.<br />

Ein LED-Feuer. Damit niemand etwas<br />

merkt.<br />

Mein Kollege redet immer noch hitzig<br />

auf mich ein und berichtet haarklein von<br />

irgendwelchen für ihn extrem frustrierenden<br />

Situationen. Ich frage mich, ob ich allein<br />

bin mit diesem Gefühl – immerhin liest<br />

man oft, dass sich in diesem Land vier von<br />

fünf Arbeitnehmern in der inneren Kündigung<br />

befinden. Aber dennoch fühlt sich<br />

für mich diese merkwürdige Distanziertmind<br />

magazin <strong>147</strong>/april 2022 | 27

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