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MinD-Mag 147

Die Zeitschrift von Mensa in Deutschland (MinD), des deutschen Ablegers der weltweiten Hochbegabten-Organisation Mensa.

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REZENSION / AUSZUG<br />

LOST PURPOSE<br />

DIARY<br />

Ein Auszug aus „Wir Internetkinder“.<br />

Birmingham, 16. März 2017<br />

Ich sitze in einem Meeting. Es ist sehr<br />

eng: Zwanzig Leute oder mehr quetschen<br />

sich in dem fensterlosen Raum auf Bürostühlen<br />

um den Tisch herum, Engländer,<br />

Koreaner, Franzosen, Deutsche. Wir warten.<br />

Keiner spricht. Ein paar tippen auf ihren<br />

aufgeklappten Laptops oder scrollen<br />

durch ihre E-Mails auf dem Smartphone.<br />

Einer nippt an seinem Kaffee in einem türkisfarbenen<br />

Pappbecher. Ein Mann ist aus<br />

den USA zugeschaltet. Zumindest theoretisch,<br />

im Moment sehe ich auf dem Tisch<br />

nur eine schwarze Telefonspinne hocken,<br />

aus der kein Laut dringt. Der Grund, warum<br />

wir alle hier sind: Elf Produktlaunches<br />

in achtzehn Monaten. Insgeheim wissen<br />

wahrscheinlich alle, dass der Zeitplan nicht<br />

zu schaffen ist.<br />

Die Szene kommt mir surreal vor. Keiner<br />

schaut den anderen an, niemand spricht,<br />

nicht mal Smalltalk. Weil das Meeting noch<br />

nicht begonnen hat. „Das Meeting“ ist der<br />

Boss. Geht es nur mir so? Ich blicke mich<br />

um. Die Laptops der Koreanerinnen gegenüber<br />

sind mit bunten Manga-Stickern<br />

beklebt. Eine hat ein iPhone mit Mickey-<br />

Mouse-Ohren in der Hand, die mit Strasssteinchen<br />

besetzt sind. Ihre Fingernägel<br />

leuchten rot. Bei ihrer Nachbarin ist jeder<br />

Nagel anders lackiert. Einer hellrosa, der<br />

nächste mit einem Verlauf von rot nach<br />

fleischfarben, auf dem anderen Nagel ist<br />

ein winziges Tattoo aufgeklebt. Die Koreanerinnen<br />

tippen. Sie sprechen kein Wort.<br />

Dann stellt sich der Projektleiter vorne<br />

ins grelle Beamerlicht. Er klickt durch<br />

eine PowerPoint-Präsentation: die Vision<br />

für das neue, digitale Produkt. Es hat viele<br />

neue Features, Connectivity, Cloud-Services.<br />

Er sagt, es ginge um nicht weniger<br />

als die digitale Neuerfindung des Automobils.<br />

Danach fordert er alle auf, sich kurz<br />

der Reihe nach vorzustellen: Name, Funktion,<br />

Rolle. Ich kann mir einen Namen nie<br />

sofort merken. Ich muss ihn mindestens<br />

zweimal hören. Einige der Engländer haben<br />

wir schon eben nach unserer Ankunft<br />

getroffen, haben mit ihnen in der Firmenkantine<br />

zusammen gegessen, Curry in einer<br />

Pappbox. Ihre Namen kenne ich also:<br />

Christian, der dandyhafte Ire, Darren, Damien<br />

und Phil. Es war ganz nett mit ihnen,<br />

ich habe versucht, irgendwie zu connecten.<br />

Aber jetzt ist das alles wie weggeblasen.<br />

Die Stimme in der Telefonspinne, die<br />

dem Mann in Amerika gehört, präsentiert<br />

ein paar PowerPoint-Charts. Der Projektleiter<br />

fordert ihn auf, langsamer zu sprechen.<br />

Der Amerikaner sagt „alright“ und redet<br />

genauso weiter wie zuvor. Nach jedem<br />

Punkt auf der Agenda fragt der Projektleiter<br />

mit Blick in die Runde, ob noch jemand<br />

eine Frage hat. Keiner fragt. Auch ich nicht.<br />

Obwohl ich nichts verstehe.<br />

Ich fühle mich unbehaglich und rutsche<br />

auf meinem Stuhl herum. Auf einmal muss<br />

ich daran denken, was in anderen Lebensbereichen<br />

passiert, wenn zwanzig Leute in<br />

einem Raum zusammenkommen, auf einer<br />

26 | mind magazin <strong>147</strong>/april 2022

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