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Hinz&Kunzt 349 Maerz 2022

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Das Hamburger<br />

Straßenmagazin<br />

Seit 1993<br />

N O <strong>349</strong><br />

März.22<br />

2,20 Euro<br />

Davon 1,10 Euro für<br />

unsere Verkäufer:innen<br />

Die<br />

Geld-<br />

verbesserer


Editorial<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />

Auf den Spuren<br />

des Lithiums:<br />

Fotograf Mauricio<br />

Bustamante (links)<br />

und sein Lichtassistent<br />

Paco<br />

Tripodi sind für<br />

die Repor tage<br />

über das Metall<br />

3500 Kilometer<br />

mit dem Auto<br />

durch Argenti nien<br />

gefahren.<br />

Jode Dach,<br />

als gebürtiger Rheinländer begrüße ich Sie dieses Mal im besten Düsseldorfer<br />

Platt. Dat liejt an dem Enterjuh mit dä Norma von dä Ensel<br />

Föhr. Den Text finden Sie in dieser Ausgabe und er hat bei mir gleich<br />

die Lust auf Mundart geweckt.<br />

Sind Sie eher der planende Typ oder stolpern Sie durchs Leben?<br />

Egal zu welchem Lager Sie sich zählen: Irgendwann kommt der Tag,<br />

an dem man sich Gedanken über das liebe Geld machen muss.<br />

Sparbuch? Bausparvertrag? Ihnen ist schon klar, dass man keine Zinsen<br />

mehr bekommt? In unserem Schwerpunkt haben wir uns daher nach<br />

Alternativen umgesehen, die zudem fair sind. Und wir beschäftigen uns<br />

mit Menschen, die in Geldnot geraten sind, und anderen, die so reich<br />

sind, dass sie bereit wären, höhere Steuern zu zahlen.<br />

Darüber hinaus stellen wir Ihnen einen ungewöhnlichen Ex tremsport<br />

vor: Every-Single-Street. Läufer wie Michael Mankus und<br />

Karsten Schuldt haben es sich zum Ziel gesetzt, einmal durch jede<br />

Hamburger Straße zu joggen. Spitzenreiter Schuldt hat tatsächlich<br />

schon 87 von 104 Stadtteilen komplett abgelaufen, wie er meinem<br />

Kollegen Jochen Harberg erzählt hat.<br />

Ich wiederum habe den neuen Bezirksamtsleiter in Mitte<br />

kennen gelernt: Ralf Neubauer. Er ist kein Mann der großen Worte,<br />

sondern einer, der erst mal zuhört. Das hat mir gefallen, wie Sie meinem<br />

Artikel entnehmen können. Wir werden dem Neuen trotzdem genau<br />

auf die Finger schauen, ob er sich auch für Obdachlose engagiert.<br />

Ich wünsche Ihnen einen schönen März, weniger Coronasorgen und<br />

einen echten Frühling.<br />

<br />

Viel Spaß beim Lesen!<br />

Ihr Jonas Füllner<br />

Schreiben Sie uns an: briefe@hinzundkunzt.de<br />

FOTOS SEITE 2: MIGUEL FERRAZ (UNTEN), MAURICIO BUSTAMANTE (OBEN)<br />

TITELIDEE UND ILLUSTRATION: GRAFIKDEERNS.DE<br />

2


Inhalt März <strong>2022</strong><br />

06<br />

Ralf Neubauer<br />

ist der neue<br />

Chef in Mitte.<br />

14<br />

Lithiumabbau<br />

in Argentinien<br />

Stadtgespräch<br />

06 „Zäune lösen keine Probleme“<br />

Unterwegs mit dem neuen Chef des Bezirksamts Mitte<br />

12 Arme sterben öfter an Corona<br />

Interview: Philipp Dickel ist Arzt an der Poliklinik<br />

auf der Veddel.<br />

Auslandsreportage<br />

14 Heimat des Lithiums<br />

In Argentinien werden die Folgen des E-Auto-Booms sichtbar.<br />

44<br />

Straße für<br />

Straße durch<br />

Hamburg<br />

Faire Finanzen<br />

24 „Die Zeit ist überreif!“<br />

Millionär Peter Reese über die Initiative „taxmenow“<br />

28 Geld ist nicht alles<br />

Ein Blick in die Portemonnaies von Hinz&Künztler:innen<br />

30 „Man sollte unbedingt über Geld sprechen“<br />

Hilfreiche Tipps einer Schuldnerberaterin<br />

32 Von Zeitmillionären, Bankkarten und Flugreisen<br />

Geld teilen im Finanzkollektiv – kann das gut gehen?<br />

36 Wohin mit dem lieben Geld?<br />

Vier Vorschläge für eine sinnvolle Geldanlage<br />

Freunde<br />

38 Ein Praktikum im Pop-up-Store<br />

Bei Ladage & Oelke verkaufen<br />

Hinz&Künztler:innen Luxusmode.<br />

40 Richtig gemütlich<br />

Arno Schmidt spendet Bettwäsche für die Hinz&<strong>Kunzt</strong>-WGs.<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

44 Hamburg, wir laufen dich!<br />

Zwei Jogger wollen jede Hamburger Straße ablaufen.<br />

48 Norma macht Popmusik auf Platt<br />

50 Tipps für den März<br />

54 Kolumne: Auf ein Getränk mit Simone Buchholz<br />

56 Momentaufnahme: Ugis und Edgars<br />

Rubriken<br />

04 Gut&Schön<br />

10 Zahlen des Monats<br />

13, 22 Meldungen<br />

42 Buh&Beifall<br />

55 Rätsel, Impressum<br />

36<br />

Vorschläge<br />

für sinnvolle<br />

Geldanlagen<br />

Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk


Stars von der Straße<br />

Kunstprojekt mit sozialer<br />

Ambition: Für ihre Bachelorarbeit<br />

wählten die Berlinerin<br />

Ira Dorsch und ihr Team<br />

Obdachlose (hier: Erwin), um<br />

sie als Hochglanz-Cover im<br />

Stil großer Modemagazine in<br />

prominentes Licht zu setzen.<br />

Ziel von „Home.Less.Fashion“:<br />

Hingucker schaffen, wo viel<br />

zu viele weggucken! Endnote<br />

für Dorsch: 1,0! JOC<br />

•<br />

www.luraart.de/home-less-fashion


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Gut&Schön<br />

Partnerprojekt „Nachtbus“<br />

Russisches Jubiläum<br />

Mit einer Video-Grußbotschaft<br />

feierte das<br />

Team des Hamburger<br />

Sozialprojekts „Mitternachtsbus“<br />

seine<br />

Kolleg:innen in der<br />

Partnerstadt St. Petersburg.<br />

Dort kümmert<br />

sich seit genau 20 Jahren<br />

der „Nachtbus“ um<br />

obdachlose Menschen<br />

(siehe Foto). Immer<br />

wochentags von 19 bis<br />

23 Uhr werden warme<br />

Mahlzeiten und Kleidung<br />

gratis verteilt. JOC<br />

•<br />

Infos: www.huklink.de/<br />

nachtbus-st-petersburg<br />

FOTOS: LUIS LIMBERG & IRA DORSCH (S. 4), ALEXEY GOYAN (OBEN),<br />

PICTURE ALLIANCE/NEWSCOM/JOE ROBBINS (UNTEN LINKS), AMNESTY INTERNATIONAL<br />

Vom Auto-Schläfer zum Sport-Millionär<br />

Aus der Obdachlosigkeit in die NFL-Playoffs <strong>2022</strong>: Football-Runningback<br />

Joshua Jacobs von den Las Vegas Raiders hat eine märchenhafte Karriere hingelegt.<br />

Und das, obwohl er in einfachsten Verhältnissen aufgewachsen ist und als<br />

Achtjähriger sogar zwei<br />

Wochen im Auto auf der<br />

Straße übernachten<br />

musste – weil sein Vater,<br />

der ihn dabei mit der<br />

Pistole bewachte, keine<br />

bezahlbare Wohnung<br />

gefunden hatte. Später,<br />

als Student in Alabama,<br />

schlief Jacobs zunächst<br />

auf dem Fußboden – ein<br />

eigenes Bett war er nicht<br />

gewohnt. Nach seiner<br />

dritten Profisaison ist der<br />

23-Jährige bereits mehrfacher<br />

Millionär, hat seinem<br />

Vater ein Haus gekauft<br />

und weiß dennoch,<br />

was wahrer Luxus ist:<br />

„Immer wenn ich in ein<br />

Bett gehe, denke ich mir:<br />

Wow, wie surreal, du hast<br />

es weit gebracht!“ JOC<br />

•<br />

Kinder, Menschen, Rechte<br />

Interesse wecken, Wissen schaffen,<br />

Bewusstsein bilden: Mit dem neuen<br />

Buch „Die Allgemeine Erklärung<br />

der Menschenrechte für junge<br />

Menschen“ will die Organisation<br />

Amnesty International Kindern in<br />

verständlicher Sprache ihre Rechte<br />

nahebringen. Dass das nötig ist,<br />

zeigt eine repräsentative Umfrage<br />

mit über 1000 deutschen 9- bis<br />

14-Jäh rigen: Fast 40 Prozent von<br />

ihnen denken nicht, dass sie die gleichen<br />

Rechte haben wie Erwachsene.<br />

Das Buch kostet 12 Euro, ein Teil<br />

des Erlöses kommt dem Schutz der<br />

Menschenrechte zugute. JOC<br />

•<br />

5


Ralf Neubauer war<br />

zum„Antrittsbesuch“<br />

bei Hinz&<strong>Kunzt</strong>.


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

„Zäune lösen keine<br />

Probleme“<br />

Ralf Neubauer ist seit anderthalb Monaten neuer Leiter des<br />

Bezirksamts Mitte. Redakteur Jonas Füllner hat mit dem SPD-Mann<br />

eine Runde durch St. Georg und zum Hauptbahnhof gedreht.<br />

TEXT: JONAS FÜLLNER<br />

FOTOS: MIGUEL FERRAZ<br />

V<br />

on so einem Arbeitsweg<br />

können andere nur träumen:<br />

Unterwegs bester<br />

Blick auf Hafen und Hamburger<br />

Skyline. Nie im Stau, sondern<br />

schnell am Ziel. „Nur beim Hafengeburtstag<br />

steckte ich mal fest“, sagt Ralf<br />

Laut Neubauer<br />

steht einer<br />

Tagesöffnung der<br />

Notunterkünfte<br />

nichts entgegen.<br />

Neubauer und schmunzelt. Der 40-Jährige<br />

lebt in Finkenwerder und entert<br />

täglich die Hafenfähre 62, um zur<br />

Arbeit zu fahren. Denn Mitte Januar<br />

hat der Rechtsanwalt im Bezirksamt<br />

Mitte in der Caffamacherreihe die<br />

Nachfolge von Bezirksamtsleiter Falko<br />

Droßmann (SPD) angetreten.<br />

Neubauer ist in diesen Tagen<br />

auf Entdeckungstour. Heute: Thema<br />

Obdachlosigkeit. Startpunkt: das<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Haus. Neubauer zeigt<br />

sich begeistert vom neuen Arbeits- und<br />

Wohngebäude. Am Ausgang nicken<br />

ihm Verkäufer:innen freundlich zu. Der<br />

Bezirkschef grüßt höflich, dass ihn niemand<br />

erkennt, stört ihn scheinbar nicht.<br />

Wie sollte es auch anders sein? Selbst<br />

Expert:innen der Hamburger Lokalpolitik<br />

war der Sozialdemokrat bis vor<br />

Kurzem kein Begriff. Die „Mopo“ bezeichnete<br />

ihn gar als „Polit-Nobody“.<br />

Dabei engagiert sich der Familienvater<br />

bereits sein halbes Leben für die SPD,<br />

zuletzt als Abgeordneter in der Bürgerschaft.<br />

Im Jurastudium lernte Neubauer<br />

den heutigen Innensenator Andy Grote<br />

(SPD) kennen und zog in dessen Wohngemeinschaft<br />

auf St. Pauli. Später<br />

verschlug es ihn auf<br />

die andere Elb seite.<br />

„Ich komme vom<br />

Land. In Finkenwerder<br />

fühle ich mich mit<br />

meiner Familie wohl“,<br />

sagt Neubauer. Seine<br />

Projekte dort: eine bessere<br />

ÖPNV-Anbindung<br />

für die Rüschhalbinsel<br />

und der<br />

Umbau der ehemaligen<br />

Hafenbahntrasse<br />

zum Radweg.<br />

Dafür wird ihm<br />

künftig wohl die Zeit<br />

fehlen. „Ich bin jetzt<br />

immer weniger Herr<br />

über meine eigenen Termine“, sagt Neubauer,<br />

den für gewöhnlich der bezirkliche<br />

Fahrdienst von Termin zu Termin<br />

kutschiert. An diesem grauen Februarmorgen<br />

geht es aber zu Fuß durch den<br />

Bezirk: eine Runde mit Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

durch St. Georg und vorbei am Hauptbahnhof<br />

– dort, wo Armut und Obdachlosigkeit<br />

Tag und Nacht sichtbar sind.<br />

Am Hansaplatz treibt der Wind<br />

eine leere Bierflasche über den Boden.<br />

Sie bleibt an einem der Poller hängen,<br />

die vor einem Jahr für Empörung sorgten.<br />

Weil Trinker:innen sie als Sitzgelegenheit<br />

nutzen, setzte der Bezirk runde<br />

Kugeln auf die Pfosten. „Menschen-<br />

Ralf Neubauer im Gespräch mit Redakteur Jonas Füllner<br />

7


Was tun gegen die<br />

Verelendung auf Hamburgs<br />

Straßen? Ralf Neubauer will<br />

auf „Housing First“ setzen.<br />

verachtend“ nannte der Einwohnerverein<br />

St. Georg diese Art der Vertreibung.<br />

Dass sich hier einer der Brennpunkte<br />

des Bezirks befinden soll, lässt sich heute<br />

jedoch nicht erkennen. Es ist kalt und<br />

nass, der Platz wie leergefegt.<br />

Konflikte rund um den Hansaplatz<br />

gebe es ja schon lange, sagt Neubauer.<br />

Statt eine fertige Antwort zu präsentieren,<br />

zeigt er auf die Nordseite des Platzes.<br />

„Wenn wir schon mal hier sind.<br />

Dort drüben soll ein Leerstand sein.“<br />

Der Platz ist schnell überquert, das<br />

leere Geschäft entdeckt. Neubauer holt<br />

sein Smartphone raus und fotografiert.<br />

Dabei erläutert er, dass der Vermieter<br />

bislang nicht überzeugt werden konnte,<br />

die Fläche für eine soziale Beratungsstelle<br />

an die Stadt zu vermieten. „Alle<br />

reden immer davon, dass man etwas<br />

tun muss, und dann bekommt man<br />

nicht einmal die Räumlichkeiten<br />

dafür“, sagt Neubauer kopfschüttelnd.<br />

Sein Vorgänger Droßmann hätte<br />

jetzt vielleicht mit verschränkten Armen<br />

und ernstem Blick für die Kamera<br />

vor dem Laden posiert<br />

und markige Worte in<br />

Richtung der Vermieter:innen<br />

formuliert.<br />

Leerstands-Spekulant:in<br />

nen auf dem Kiez<br />

drohte er einst großspurig<br />

mit Zwangsenteignung.<br />

Ankündigungen,<br />

denen allerdings<br />

keine Taten folgten.<br />

Sein Nachfolger<br />

geht Konflikte anders<br />

an. Mit dem Eigentümer<br />

führe man Gespräche,<br />

sagt Neubauer.<br />

Es sei nun einmal<br />

nicht leicht, Flächen<br />

8<br />

im Stadtzentrum zu finden. Nicht nur<br />

in diesem Fall, allgemein habe er nur<br />

„eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten“.<br />

Schließlich sei der finanzielle<br />

Rahmen durch den Senat klar gesetzt.<br />

Im Unterschied zu Berlin hätte seine<br />

Verwaltung eben keine Hoheit über ein<br />

eigenes Budget. Spielraum gebe es aber,<br />

wenn es ums Wohnen geht. Unter anderem<br />

bei der Vergabe von Baugenehmigungen<br />

und bei Umbauten. „Aber<br />

als Bezirksamtsleiter ist man an Recht<br />

und Gesetz gebunden, auch wenn einem<br />

das in manchen Einzelfällen nicht immer<br />

gefällt“, stellt Neubauer klar.<br />

So hätten gerade einige von Verdrängung<br />

bedrohte Mieter:innen in<br />

Hamm von ihm erwartet, dass er eine<br />

Genehmigung zur Zweckentfremdung<br />

nicht erteile. Begründung: Der Hauseigentümer<br />

habe ihnen bei dem anstehenden<br />

Abriss zu teure Ersatzwohnungen<br />

angeboten.<br />

„Die Entscheidung wurde hoch und<br />

runter geprüft, ich habe es mir auch<br />

selbst noch einmal angeguckt“, sagt<br />

Neubauer. Aus rein politischen Gründen<br />

eine Genehmigung zu verweigern, sei<br />

nicht seine Art: „Unsere Entscheidungen<br />

müssen am Ende vor dem Verwaltungsgericht<br />

Bestand haben.“


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Aber wenn die Verdrängung von<br />

Mieter:innen so schwer zu stoppen ist<br />

und es nicht einmal gelingt, einen Beratungsraum<br />

für zwei Sozialarbeiter:innen<br />

am Hansaplatz anzumieten, sind dann<br />

nicht hehre Ziele wie die Abschaffung<br />

der Obdachlosigkeit bis 2030 völlig unrealistisch?<br />

Darauf hatten sich die<br />

Sozialminister:innen aller Bundesländer<br />

im vergangenen Jahr verständigt.<br />

„Ich finde das durchaus ehrgeizig“, sagt<br />

Neubauer. „In Hamburg haben sich die<br />

Obdachlosenzahlen in den vergangenen<br />

zehn Jahren verdoppelt.“<br />

Der Neue in Mitte setzt auf „Housing<br />

First“. Dieser vor allem in Finnland verbreitete<br />

Ansatz verfolgt diese Strategie:<br />

Erst die Wohnung, dann Stabilität im<br />

Leben. In Hamburg gelten eher die<br />

Grünen als die SPD-geführte Sozialbehörde<br />

als Befürworter:innen dieses<br />

Konzepts. „Ich habe bezüglich Housing<br />

First eine gewisse Zurückhaltung wahrgenommen“,<br />

bestätigt Neubauer und<br />

„Ich weiß nicht,<br />

ob unsere<br />

Hilfesysteme<br />

niedrigschwellig<br />

genug sind.“<br />

RALF NEUBAUER<br />

9<br />

lässt leise Kritik durchklingen. So verweise<br />

die Sozialbehörde auf das bestehende<br />

Hilfesystem, das gut aufgestellt<br />

sei. „Das fand ich eine interessante Antwort“,<br />

sagt Neubauer. „Ich hingegen<br />

weiß nicht, ob unsere Hilfesysteme<br />

niedrigschwellig genug sind.“<br />

Es wäre nicht das erste Mal, dass<br />

Neubauer auf Distanz zu Parteichefin<br />

und Sozialsenatorin Melanie Leonhard<br />

geht. Bereits im Streit zwischen der Behörde<br />

und Hinz&<strong>Kunzt</strong> um eine Tagesöffnung<br />

des Winternotprogramms erläuterte<br />

er der Senatorin seine Sicht der<br />

Dinge: Hinz&<strong>Kunzt</strong> hatte bei der Anwaltskanzlei<br />

Neubauers ein Gut achten<br />

beauftragt. Das Ergebnis war eindeutig:<br />

Einer Öffnung der Unterkünfte am<br />

Tage stehe nichts entgegen. „Dazu<br />

stehe ich weiterhin“, sagt der Bezirksamtschef.<br />

Aber: Die Entscheidung obliege<br />

der Sozialbehörde.<br />

Zwei von drei Unterkünften des<br />

Winternotprogramms liegen inzwischen<br />

nicht mehr im Stadtkern. Die<br />

meisten Obdachlosen, die auf der Straße<br />

schlafen, sieht man aber im Zentrum<br />

– und somit im Bezirk Mitte. Das führt<br />

nicht selten zu Konflikten. Zum Beispiel<br />

ließ ein Gymnasium in der Wohlwillstraße<br />

auf St. Pauli kürzlich einen<br />

überdachten Vorplatz einzäunen. Um<br />

Obdachlose zu vertreiben, die offen<br />

Drogen konsumierten und gewalttätig<br />

waren, wie der Schulleiter gegenüber<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> ausführte. Öffentlich forderte<br />

er Hilfe vom Bezirk ein. Derartige<br />

Politikschelte sei ihm zu billig, entgegnet<br />

Neubauer. Die Schule habe sich nicht<br />

an den Bezirk gewandt. Und dass man<br />

am Ende auf keine andere Idee kam,<br />

als einen Zaun aufzustellen, habe ihn<br />

gewundert. „Ich glaube, Zäune lösen<br />

keine Probleme“, sagt Neubauer.<br />

Deshalb versuche der Bezirk nun,<br />

Unterstützung für die Obdachlosen<br />

bereitzustellen. Man habe bereits Gespräche<br />

mit einem Träger, der vor Ort<br />

vermitteln kann und gute Kontakte zu<br />

Trägern der Wohnungslosenhilfe hat,<br />

aufgenommen. „Für diese Arbeit möchten<br />

wir auch die erforderlichen Mittel<br />

zur Verfügung stellen“, sagt Neubauer.<br />

Es wäre aber wohl eher eine Ausnahme.<br />

Grundsätzlich seien die Ressourcen im<br />

Bezirk begrenzt, stellt Neubauer klar.<br />

„Es ist wie mit einer zu kurzen Bettdecke.<br />

Egal, in welche Richtung man<br />

zieht, ein Bein liegt immer frei.“ •<br />

Jonas Füllner radelte im<br />

Herbst entlang der Hafenbahn<br />

in Finkenwerder und<br />

war begeistert von dem<br />

Projekt von Ralf Neubauer.<br />

Jetzt hofft er, dass sich der Neue in Mitte<br />

ebenso erfolgreich für Obdachlose einsetzt.<br />

jonas.fuellner@hinzundkunzt.de<br />

Die<br />

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Zahlen des Monats<br />

EU-Zuwanderung<br />

Erfolgsgeschichte<br />

statt Problem<br />

5000<br />

Ärzt:innen aus Rumänien arbeiten in Deutschland – mehr als aus jedem anderen Land<br />

der Europäischen Union. Als die EU 2014 die Grenzen für Arbeitskräfte aus Rumänien<br />

und Bulgarien vollständig öffnete, warnten manche vor „Armutszuwanderung“ und<br />

„Hartz-IV-Betrug“. Heute zeigen die Statistiken: Die Menschen kommen vor allem,<br />

um hier Geld zu verdienen. Dabei arbeiten Zugewanderte aus den beiden südosteuropäischen<br />

Staaten häufig in Hotels und Gaststätten, in der Landwirtschaft oder auf<br />

dem Bau – und erledigen dort Jobs, die Einheimische gerne meiden.<br />

Insgesamt gehen 700.000 Menschen aus Rumänien und Bulgarien einer sozialversicherungspflichtigen<br />

Arbeit in Deutschland nach, nur 67.000 sind arbeitslos. Damit ist die<br />

Arbeitslosenquote bei Zugewanderten aus diesen beiden EU-Staaten bei 9,0 Prozent –<br />

und liegt damit über der Quote bei der Gesamtbevölkerung (5,9 Prozent), jedoch unter<br />

der bei allen Menschen ohne deutschen Pass (12,4 Prozent). Das zeigen Daten des Instituts<br />

für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Bemerkenswert auch: Seit Einführung<br />

der Freizügigkeit hat sich die Beschäftigungsquote bei Menschen aus Rumänien und<br />

Bulgarien fast verdoppelt. „Das ist ohne Zweifel ein großer Erfolg“, sagt der Arbeitsmarktforscher<br />

Herbert Brücker vom IAB.<br />

Die Entwicklung dürfte künftig noch an Fahrt gewinnen: Allein in der Pflege fehlen<br />

bereits heute 35.000 Fachkräfte, Hochrechnungen zufolge steigt der Bedarf infolge des<br />

demografischen Wandels bis 2030 auf 180.000. Der Deutsche Städtetag spricht sogar von<br />

300.000 Pflegekräften sowie 230.000 Erzieher:innen in Kindertagesstätten, die in den<br />

kommenden Jahren benötigt würden. Auch im Handwerk und in den MINT-Branchen<br />

(Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) mangelt es an Fachleuten.<br />

Laut einer Hochrechnung des IAB braucht Deutschland 400.000 Zuwanderer:innen pro<br />

Jahr, um den wachsenden Mangel an Expert:innen auf längere Sicht auszugleichen.<br />

Dafür sorgen soll das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das seit März 2020 gilt. Doch<br />

kommen weiterhin weniger Menschen nach Deutschland als nötig. Aus Sicht von Arbeitsmarktforscher<br />

Brücker sollte das Gesetz deshalb dringend nachgebessert werden: „Die<br />

Anerkennung der beruflichen Ausbildung muss vereinfacht werden“, sagt der<br />

IAB-Experte. „Sonst gehen qualifizierte Menschen in andere Länder als Deutschland.“ •<br />

TEXT: ULRICH JONAS<br />

ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />

Mehr Infos unter www.mediendienst-integration.de und www.iab.de<br />

11


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />

Philipp Dickel<br />

warnt vor<br />

den sozialen<br />

und gesundheit<br />

lichen<br />

Langzeitfolgen<br />

von<br />

Covid auf<br />

der Veddel.<br />

Arme sterben öfter an Corona<br />

Corona betrifft Arme stärker als Reiche. Das zeigen erneut<br />

aktuelle Zahlen aus dem Robert Koch-Institut.<br />

Der Arzt Philipp Dickel von der Poliklinik Veddel spricht über<br />

die Pandemie auf der Elbinsel und die Lehren daraus.<br />

INTERVIEW: BENJAMIN LAUFER<br />

FOTO: PRIVAT<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Das Robert Koch-Institut<br />

spricht etwas sperrig von „sozioökonomisch<br />

benachteiligten Bevölkerungsgruppen“,<br />

die ein hohes Risiko hätten,<br />

besonders oft an Corona zu erkranken.<br />

Wer sind die Menschen, die mit Covid in<br />

die Poliklinik kommen?<br />

Philipp Dickel: Hier auf der Veddel leben<br />

viele Leute mit geringem Einkommen,<br />

wenig Wohnfläche und teilweise<br />

geringer Bildung, die obendrein starker<br />

Luftverschmutzung ausgesetzt sind.<br />

Viele Patient:innen arbeiten im Kupferwerk<br />

Aurubis, in Lagerhallen oder in<br />

der Pflege.<br />

Die sozialen Unterschiede machen<br />

sich vor allem bei der Zahl schwerer<br />

und tödlicher Krankheitsverläufe<br />

bemerkbar. Man geht davon aus, dass<br />

arme Menschen mehr Vorerkrankungen<br />

und einen schlechteren Zugang zum<br />

Gesundheitssystem haben.<br />

Die Krankheitslast für chronische Krankheiten<br />

wie Diabetes oder die Lungenkrankheit<br />

COPD ist auf der Veddel<br />

wesentlich höher als in reicheren Vierteln,<br />

gerade bei jüngeren Menschen.<br />

Man kann sich hier nicht so gutes Essen<br />

leisten, hat vielleicht nicht so viel Zeit für<br />

Sport oder arbeitet unter Bedingungen,<br />

12<br />

die krank machen. Wir haben durchgehend<br />

mit Corona zu tun, haben einige<br />

schwere Verläufe gesehen, und Post-<br />

Covid ist ein Thema. Viele Menschen<br />

hier waren bereits zweimal infiziert.<br />

An Corona gestorben sind auf der<br />

Veddel im Gegensatz zum Bundestrend<br />

nur wenige Menschen, hat eine Anfrage<br />

der Linksfraktion ergeben: Seit 2021<br />

waren es laut Senat „weniger als vier“ …<br />

Die Veddel ist ein sehr junger Stadtteil,<br />

es gibt hier keine Altersheime und<br />

kaum barrierefreie Wohnungen. Das<br />

muss man bei der Bewertung dieser


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Zahlen beachten. Aber aus unserer<br />

Sicht ist nicht die hohe Sterblichkeit das<br />

Problem, sondern es sind die sozialen<br />

und gesundheitlichen Langzeitfolgen:<br />

Post-Covid, Kurzarbeit, psychologische<br />

Probleme. Die Inzidenzen auf der Veddel<br />

waren mit die höchsten in Hamburg,<br />

und ich hatte nicht das Gefühl,<br />

dass die Stadt darauf reagiert hätte.<br />

Da kam nicht viel.<br />

Im April 2021 hatten Sie angesichts der<br />

hohen Infektionszahlen auf der Veddel<br />

erfolglos eine „Impfstoffoffensive“ für<br />

den Stadtteil gefordert. Inzwischen gibt<br />

es ja mehr Impfstoff als Impfwillige,<br />

und laut Robert Koch-Institut lassen<br />

sich weniger gebildete Menschen unter<br />

60 seltener impfen. Mussten Sie viel<br />

Überzeugungs arbeit leisten?<br />

Wir haben schnell ein Impfzentrum aufgebaut.<br />

Und für die Aufklärung haben<br />

wir uns viel Zeit genommen und Schlüsselpersonen<br />

aus den Communities eingebunden.<br />

Das war sehr erfolgreich, Probleme<br />

mit Impfskeptiker:innen gab es<br />

kaum. Ich hatte den Eindruck, dass die<br />

Leute sich sehr früh impfen ließen, weil<br />

sie so gebeutelt von der Pandemie<br />

waren.<br />

Zum Abschluss ein Blick in die Zukunft:<br />

Das Robert Koch-Institut wünscht<br />

sich „politikbereichsübergreifende<br />

Anstrengungen“, um gesundheitliche<br />

Ungleichheiten zu beseitigen. Haben<br />

Sie Vorschläge?<br />

Die Veddel ist das beste Beispiel: Es gibt<br />

hier ein multiprofessionelles Gesundheitszentrum,<br />

dem die Leute vertrauen.<br />

Da arbeiten nicht nur Ärztinnen und<br />

Ärzte, sondern auch Pflegekräfte und<br />

Sozialarbeiter:innen, die nicht so hochgestochen<br />

reden. Wenn es solche Zentren<br />

flächendeckend gäbe, wäre man<br />

für kommende Pandemien besser aufgestellt.<br />

Das löst aber nicht das Problem,<br />

dass ärmere Menschen öfter krank<br />

werden und früher sterben: Da geht es<br />

um Verteilungsfragen. •<br />

benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />

Infos: www.poliklinik1.org<br />

Armutspolitik<br />

Meldungen (1)<br />

Politik & Soziales<br />

Breites Bündnis fordert mehr Hilfen<br />

Ein Bündnis von Sozialverbänden und Jugendorganisationen hat die<br />

Bundesregierung zum Handeln gegen Armut aufgefordert. „Angesichts<br />

dauerhafter Preissteigerungsraten und pandemiebedingter Mehrausgaben<br />

appellieren wir dringend an Sie, zügig gezielte und substanzielle Hilfen<br />

für die Ärmsten in unserer Gesellschaft zu beschließen“, heißt es in einem<br />

offenen Brief an Kanzler Olaf Scholz (SPD) und zuständige Minister:innen.<br />

Zwar habe die Regierung einen Heizkostenzuschuss für Wohngeldbeziehende<br />

beschlossen. Doch ließen weitere Maßnahmen auf sich warten,<br />

etwa der im Koalitionsvertrag angekündigte Sofortzuschlag für von Ar mut<br />

betroffene Kinder. Die Ampelparteien diskutierten zuletzt eine Höhe von<br />

25 Euro pro Monat. Dazu Maria Loheide, Vorständin Sozialpolitik der<br />

Diakonie: „Kinder in der Grundsicherung erhalten monatlich rund<br />

78 Euro zu wenig. Der Betrag wäre ein Tropfen auf den heißen Stein.“ UJO<br />

•<br />

Strompreisexplosion<br />

Rot-Grün in Hamburg fühlt sich nicht zuständig<br />

Die Regierungsfraktionen von SPD und Grünen haben die Forderung<br />

zurückgewiesen, Hamburg müsse angesichts der massiv steigenden Strompreise<br />

tätig werden. Die Initiative „Hamburg traut sich was“ fordert von<br />

der Stadt eine Soforthilfe von 50 Euro monatlich für Geringverdienende.<br />

„Für jede Kommune eine Sonderregelung zu machen ist nicht sinnvoll“,<br />

erklärte dazu die SPD. Wie ihr Regierungspartner verwiesen auch die<br />

Grünen auf die Bundespolitik: „Was wir benötigen, ist das Bürgergeld<br />

und inflationssichere, armutsfeste, also höhere Regelsätze.“ UJO<br />

•<br />

Petition<br />

Schüler:innen fordern mehr Essensgeld vom Senat<br />

Statt bisher 3,50 Euro kostet das Mittagessen in Hamburgs Schulen<br />

künftig bis zu 4 Euro. „Diese und zukünftige Preiserhöhungen werden viele<br />

Hamburger Familien nicht mehr finanzieren können“, kritisiert Charlotte<br />

Schmiedel, Landesvorsitzende der Schüler:innenkammer. Ihre Organi sation<br />

hat eine Petition gestartet – und fordert einen Essenszuschuss für Familien<br />

mit geringen Einkommen. Derzeit dürfen nur Kinder aus Hartz-IV-Haushalten<br />

kostenlos in der Schule essen. Einen Zuschuss für Kinder von<br />

Geringverdienenden gibt es lediglich in Grundschulen. Für weiterführende<br />

Schulen sei dies nicht zu bezahlen, so die Schulbehörde: „Wer das fordert,<br />

soll bitte auch einen Vorschlag machen, wie das finanziert werden soll.“<br />

Caterer und Schulbehörde hatten sich 2020 auf eine stufenweise<br />

Erhöhung der Essenspreise geeinigt. Als Unterstützung in der Coronakrise<br />

sei diese zunächst durch<br />

einen Zuschuss ab ge federt<br />

worden, erklärte die Behörde.<br />

Dieser sei nun eingestellt<br />

worden. LG<br />

•<br />

Mehr Infos und Nachrichten unter:<br />

www.hinzundkunzt.de<br />

13


Heimat<br />

des Lithiums<br />

Seit Elektroautos boomen, ist das Leichtmetall begehrter denn je.<br />

Längst haben sich Konzerne Abbaurechte gesichert.<br />

Was bedeutet das für die Einheimischen? Fotograf<br />

Mauricio Bustamante hat in Argentinien nachgeforscht.<br />

PROTOKOLL: ULRICH JONAS<br />

MITARBEIT: CEDRIC HORBACH


Blick auf einen Salzsee im<br />

Norden Argentiniens. Dessen<br />

Salz wird für die chemische<br />

Industrie aufbereitet.


Alberto Soriano vor den Ruinen der Häuser, in denen<br />

sein Vater und andere Minenarbeiter einst gelebt haben.<br />

Damals wurde hier Borax gewonnen, das beispielsweise<br />

für die Herstellung von Kosmetika wichtig ist.<br />

Fotograf Mauricio Bustamante<br />

bei der Arbeit, hier bei den<br />

Salinas Grandes, einem<br />

Salzsee mit einer Größe von<br />

212 Quadratkilometern.<br />

FOTO: PACO TRIPODI


Ich habe schon viele Gegenden<br />

Argentiniens fotografiert. Doch<br />

solche Landschaften hatte ich nie<br />

zuvor gesehen: riesige Salzseen<br />

und viel Stein, fast nur weiße Flächen<br />

und Himmel, auf 3000 Meter Höhe.<br />

Kein Baum, kein Strauch weit und<br />

breit. Wie eine Mondlandschaft.<br />

Eine kurze Nachricht hatte mich<br />

auf die Idee zu dieser Recherche gebracht:<br />

Der Autobauer BMW, so hieß<br />

es vergangenes Jahr, hat einen Liefervertrag<br />

über Lithium für 285 Millionen<br />

Euro abgeschlossen. Das Leichtmetall,<br />

das von einem US-amerikanischen Unternehmen<br />

gefördert wird, stammt aus<br />

dem Nordwesten meiner Heimat: dem<br />

sogenannten Lithium-Dreieck.<br />

Seitdem Elektroautos boomen, ist<br />

Lithium begehrter denn je. Ich will mir<br />

aus der Nähe ansehen, wie es gewonnen<br />

wird. Doch anders als in Bolivien,<br />

wo der Staat Bodenschätze abbaut, hat<br />

Argentinien viele seiner Salzseen Unternehmen<br />

überlassen, die die Abbaurechte<br />

gekauft haben. Und die geben<br />

mir nicht die Erlaubnis, auf ihrem<br />

Gelände zu fotografieren. Begründung:<br />

Bis zu 70 Prozent der globalen<br />

Vorkommen in Salzseen befinden sich<br />

im sogenannten Lithium-Dreieck.<br />

Lithium-Dreieck<br />

Chile<br />

Bolivien<br />

Argentinien<br />

17


18<br />

„So wie die Energiewende<br />

im globalen Norden grün<br />

sein kann, so fair ist sie<br />

auf lokaler Ebene nicht“,<br />

sagt die Ethnologin Melisa<br />

Escosteguy.


Das Wasser in den Salzseen<br />

stammt aus den Tiefen des<br />

Bodens. Regen fällt im Norden<br />

Argentiniens nur selten.<br />

die Coronapandemie. So reise ich<br />

durch die Provinzen und führe viele<br />

Gespräche.<br />

Alberto Soriano hat als Kind seinen<br />

Vater in die Bergbauminen begleitet.<br />

Später hat er sieben Jahre lang die<br />

Anden durchstreift und für ein kanadisches<br />

Unternehmen nach Bodenschätzen<br />

gesucht. Der 46-Jährige ist in<br />

einfachsten Verhältnissen aufgewachsen,<br />

in Susques, einem 1800-Seelen-<br />

Dorf. „Ich wusste lange nicht, was<br />

eine Toilette ist. Ich wusste nicht, was<br />

Asphalt ist“, erzählt er mir.<br />

Erst als Elfjähriger lernt er die<br />

nächstgelegene Stadt kennen und<br />

Jagd nach dem „weißen Gold“<br />

Lithium spielt in Batterien etwa von Elektroautos eine Schlüsselrolle. Grund dafür ist<br />

seine hohe Energie- und Leistungsdichte. Jenseits Südamerikas, etwa in Australien,<br />

wird das Leichtmetall aus Gestein gewonnen. Kritiker:innen warnen vor Umweltverschmutzung<br />

und Wassermangel, Autohersteller versprechen „nachhaltigen Abbau“ und<br />

Begleitforschung. Auch hierzulande soll bald Lithium gefördert werden: Im Oberrheintal<br />

wurden die angeblich größten Vorkommen Europas entdeckt, auch im Erzgebirge will ein<br />

Unternehmen das Leichtmetall abbauen. Um Berge alter Autobatterien zu vermeiden,<br />

will die Ampel-Regierung „ein Anreizsystem etablieren, um gefährliche Lithium-Ionen-<br />

Batterien umweltgerecht zu entsorgen und der Kreislaufwirtschaft zuzuführen“. UJO<br />

darf im Haus einer Großfamilie übernachten:<br />

das Geschenk eines Patenonkels<br />

zur Firmung. Die Gastfreundschaft<br />

und das gemeinsame Essen mit vielen<br />

anderen begeistern ihn. Seit diesem Tag<br />

hat er davon geträumt, Hotelier zu wer­<br />

19


Im Salzsee Olaroz-Ca chari<br />

will das Unternehmen „Lithium<br />

Americas“ bald 40.000 Tonnen<br />

Lithiumcarbonat pro Jahr<br />

gewinnen. Deshalb wird die<br />

Fabrik derzeit vergrößert.<br />

„In Argentinien wurde viel Geld<br />

investiert, um die Lithium-<br />

Vorkommen zu erkunden“, sagt<br />

Ignacio Cellorio, Geschäftsführer<br />

Lateinamerika des kanadischen<br />

Unternehmens Lithium Americas.<br />

20<br />

den. Heute gehört ihm die Pension „el<br />

cactus“ – und viele der Menschen, die<br />

dort übernachten, haben etwas mit dem<br />

Lithium zu tun, das 30 Kilometer entfernt<br />

von Albertos Dorf gewonnen wird.<br />

Prognosen zufolge wird sich die Nachfrage<br />

nach Lithium bis 2030 verzehnfachen.<br />

In Südamerika wird das Alkalimetall<br />

aus der Sole riesiger Salzseen<br />

gewonnen – was vergleichsweise einfach<br />

ist und damit kostengünstiger als<br />

die Lithiumgewinnung aus Gestein. Bis<br />

zu 70 Prozent der globalen Vorkommen<br />

in Salzseen, so Schätzungen, befinden<br />

sich in den Salinas Argentiniens, Chiles<br />

und Boliviens – eine Region von rund<br />

25.000 Quadratkilometer Größe, die<br />

der Fläche von 3,5 Millionen Fußballfeldern<br />

entspricht. Hier leben vor allem<br />

indigene Gemeinschaften.<br />

Melisa Escosteguy will herausfinden,<br />

wie der Lithiumabbau das Leben<br />

der Menschen und die Umwelt verändert.<br />

Die 27-jährige Ethnologin sagt<br />

mir: „Es gibt Menschen, die die Erwartung<br />

haben, dass Lithium Arbeitsplätze<br />

in der Region schaffen kann. Und es


Auslandsreportage<br />

gibt Menschen, die große Angst davor haben, was<br />

mit der Umwelt passieren könnte.“ Dazu muss man<br />

wissen: Um das Lithium zu gewinnen, braucht es<br />

enorme Mengen Wasser. Weil dafür auch unterirdische<br />

Süßwasserreservoire angezapft werden,<br />

droht Wassermangel.<br />

Für die Forscherin gibt es keinen Zweifel daran,<br />

dass wir im reichen Norden mitdenken müssen, welche<br />

Folgen unsere vermeintlich grüne Energiewende<br />

anderswo hat. „Wenn man ein Elektroauto kauft,<br />

das für euch sehr nützlich sein kann, erzeugt das<br />

anderswo eine ziemlich starke Umweltbelastung.“<br />

Und noch etwas treibt sie um: die ungleiche<br />

Verteilung der Macht. In Argentinien bestimmen vor<br />

allem die Regierungen der Provinzen darüber, ob<br />

und wie viel Lithium abgebaut wird. Interessierte<br />

Unternehmen müssen nur ein Gutachten vorlegen,<br />

dass ihr Projekt die Umwelt nicht gefährdet, und sich<br />

dann mit den betroffenen Gemeinden einigen.<br />

Doch wie sollen die die großzügigen Angebote der<br />

Unternehmen ablehnen können, wenn es bei ihnen<br />

mit unter nicht einmal Strom gibt?<br />

Alberto Soriano ist Chef seiner Dorfgemeinschaft<br />

gewesen und weiß, wie die Dinge laufen.<br />

Jede Gemeinde habe für sich mit den Bergbauunternehmen<br />

verhandelt, erzählt er mir. Manche hätten<br />

Geld für den Bau einer neuen Schule bekommen<br />

und den Firmen dafür die Genehmigung erteilt,<br />

die Natur auszubeuten. Anderen seien Jobs im<br />

Umfeld der Lithiumfabrik angeboten worden, etwa<br />

im Transport oder beim Catering. Und einige<br />

hätten auch ein Auto mit Vierradantrieb geschenkt<br />

bekommen – bei den Straßenverhältnissen in dieser<br />

Region ist das Gold wert.<br />

Albertos größte Sorge jedoch ist der Wassermangel.<br />

Wasser war in dieser Gegend immer knapp.<br />

Doch seit vier Jahren wird es stetig schlimmer, sagt<br />

er. Ob das eine Folge des Lithiumabbaus ist oder<br />

ein Ergebnis des Klimawandels, ist unklar: eindeutige,<br />

unabhängige Studien fehlen. Alberto Soriano blickt<br />

so oder so mit Sorgen in eine Zukunft, wenn<br />

die Unternehmen längst weitergezogen sind: „In<br />

20 Jahren werden wir mit nichts bleiben. Und es gibt<br />

niemanden, der uns verteidigt.“ •<br />

Mauricio Bustamante staunte, was es<br />

bedeutet, in 3000 Metern Höhe zu leben:<br />

„Der Himmel ist gestochen scharf.<br />

Das Licht blendet. Und das Atmen fällt<br />

unheimlich schwer.“<br />

redaktion@hinzundkunzt.de<br />

21<br />

© Julia Krojer<br />

ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />

Jetzt<br />

beteiligen:<br />

GUTESGELD.DE<br />

Wie klingt<br />

Hamburg?<br />

Schüler:innenwettbewerb von<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> und AUDIYOU<br />

Wie klingt für euch Hamburg?<br />

Welche Menschen und Orte gehören dazu?<br />

Wir sind gespannt darauf, was für Persönlichkeiten,<br />

Geschichten oder auch Klänge ihr findet.<br />

Macht unsere Stadt hörbar!<br />

Gestaltet aus den Ideen einen Hörbeitrag, egal<br />

in welcher Form. Das kann eine kleine Geschichte,<br />

eine Reportage, ein Hörspiel, ein Song, ein Interview<br />

oder etwas anderes sein. Hauptsache, es ist hörbar<br />

und nicht länger als vier Minuten.<br />

Wir sind gespannt darauf! Aus allen Einsendungen<br />

wählt eine Expert:innen-Jury ihre Favoriten und<br />

stellt diese bei einer großen Abschlussveranstaltung<br />

für alle Teilnehmer:innen im Juni <strong>2022</strong> vor.<br />

Dabei gibt es viele Preise zu gewinnen.<br />

Einsendeschluss:<br />

2. Juni <strong>2022</strong><br />

Mehr Informationen, Teilnahmebedingungen<br />

und das Anmeldeformular gibt es<br />

unter hinzundkunzt@audiyou.de oder<br />

bei Stephanie Landa, Tel. 040 – 46 07 15 38.<br />

EINER VON 59.000,<br />

FÜR DIE RENDITE<br />

NICHT ALLES IST.<br />

INFORMATIONEN UNTER 040-94 36 28 00<br />

NORDDEUTSCHLAND.OIKOCREDIT.DE<br />

NACHHALTIGE GELDANLAGE SEIT 1975.


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />

Meldungen (2)<br />

Politik & Soziales<br />

Hartz IV<br />

Stadt erhöht Mietobergrenzen<br />

Als Reaktion auf den neuen Mietenspiegel<br />

übernimmt die Stadt Hamburg<br />

ab sofort höhere Mieten von<br />

Grundsicherungs- und Hartz-IV-<br />

Empfänger:innen sowie Asylsuchenden.<br />

Eine Einzelperson kann nun<br />

bis zu 543 Euro monatlich vom Amt<br />

bekommen (bisher: 501,50 Euro).<br />

Für einen dreiköpfigen Haushalt<br />

steigt die sogenannte Angemessenheitsgrenze<br />

von bislang 755,25 Euro<br />

auf 780 Euro. In bestimmten Stadtteilen<br />

gibt es darüber hinaus Zuschläge<br />

für die besondere Wohn lage. Zum<br />

Jahreswechsel hatten zahlreiche Vermie<br />

ter:innen in Hamburg die Miete<br />

erhöht. Nach Behörden angaben<br />

übernimmt die Stadt derzeit für rund<br />

152.000 Haushalte die Miet- und<br />

Heizungskosten – 2021 in Höhe von<br />

insgesamt 911 Millionen Euro. BELA<br />

•<br />

Gewalt<br />

Obdachlose bedroht<br />

Mit einem Messer und einem Ziegelstein<br />

sollen vier Jugendliche Anfang<br />

Februar mehrere Obdachlose in einem<br />

Hinterhof in Harvestehude bedroht<br />

haben. Anwohner:innen hatten die<br />

Attacke beobachtet und die Polizei<br />

alarmiert. Die stellte kurz darauf drei<br />

16-Jährige und einen 17-Jährigen,<br />

der als Intensivtäter bekannt sein soll.<br />

Bei einem der 16-Jährigen wurde<br />

ein verbotenes Messer gefunden.<br />

Bei Redaktionsschluss Mitte Februar<br />

dauerten die Ermittlungen nach<br />

Angaben der Polizei an. BELA<br />

•<br />

Sozialbehörde<br />

Hilfen für junge Obdachlose verspätet<br />

Hamburgs Modellprojekt für junge Obdachlose lässt auf sich warten: Frühestens<br />

ab Oktober wird die Stadt 20 Notschlafplätze für 18- bis 27-Jährige anbieten,<br />

erklärte der Arbeitskreis Wohnraum für junge Menschen – zehn Monate später<br />

als geplant. Das habe die Sozial behörde mitgeteilt. Das Projekt soll Betroffene<br />

„voraussetzungslos“ von der Straße holen und sie innerhalb von sechs bis acht<br />

Wochen in weitergehende Hilfen vermitteln. So könnte sich eine Lücke schließen:<br />

Klassische Angebote der Wohnungslosenhilfe sind für Jung erwachsene „kaum<br />

nutzbar“, so der Arbeitskreis, ein Bündnis aus Sozialarbei ter:in nen. Durch die<br />

Coronapandemie habe sich der Bedarf nach einem niedrig schwel ligen Notübernachtungsangebot<br />

für junge Obdachlose noch erhöht. Ursprünglich sollte das<br />

Projekt, auf das sich SPD und Grüne verständigt hatten, im Januar starten. Der<br />

späte Beginn hängt offenbar mit Verzögerungen beim Neubau der Notunterkunft<br />

Pik As zusammen. In dem soll es ab 2024 auch bis zu 72 Übernachtungsplätze für<br />

Jung erwachsene geben – mit eigenem Eingang. Sozial arbeiter:in nen wünschen<br />

sich allerdings andere Standorte: Viele junge Obdachlose würden die Begegnung<br />

mit Menschen mit langen Straßenkarrieren fürchten. Die Sozialbehörde äußerte<br />

sich bis Redaktionsschluss auf Nachfrage nicht. JOF/UJO<br />

•<br />

Wohnungsbau<br />

Hamburg baut weniger Sozialwohnungen als geplant<br />

Der rot-grüne Senat hat sein selbst gestecktes Ziel beim Neubau von Sozialwohnungen<br />

deutlich verfehlt: Statt eines knappen Drittels wurde vergangenes Jahr<br />

nur ein knappes Fünftel der neuen Wohnungen mit Mietpreisbindung errichtet.<br />

Laut der Hamburgischen Investitions- und Förderbank wurden 2021 knapp<br />

1900 Sozialwohnungen fertiggestellt. 2020 waren es knapp 3500 gewesen, im<br />

Jahr 2019 sogar 3700. Die Stadtentwicklungsbehörde erklärte den Rückgang<br />

damit, dass vergangenes Jahr weniger große Projekte fertig geworden seien.<br />

Zudem seien die Bauvorhaben komplexer geworden. Dazu kämen die „sprunghaften<br />

Preissteigerungen“ für Baumaterial. Die Linksfraktion beklagte, die Zahl<br />

der Sozialwohnungen stagniere bei 77.700 – obwohl mittlerweile fast 340.000<br />

Haushalte in Hamburg Anspruch auf eine Sozialwohnung hätten. UJO<br />

•<br />

Vorkaufsrecht<br />

Mietervereine legen Modell für Neuregelung vor<br />

Die Mietervereine aus Hamburg, Berlin und München haben die Bundesregierung<br />

aufgefordert, das Vorkaufsrecht von Kommunen in Milieuschutzgebieten<br />

zügig neu zu regeln. „Da ist zu wenig Dampf dahinter“, sagte Rolf Bosse, Geschäftsführer<br />

des Mietervereins zu Hamburg. Mit einem Eckpunktepapier wollen<br />

die Mieterschützer:innen den Druck auf die Regierung erhöhen. „Das ist kein<br />

Hexenwerk. Das Gesetz könnte bereits im Mai in Kraft treten“, so Bosse. Die<br />

Reform ist nötig, weil ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts die Kommunen<br />

derzeit hindert, ihr Vorkaufsrecht auszuüben.<br />

Das Instrument soll Spekulation<br />

und die Verdrängung einkommensschwacher<br />

Haushalte verhindern. UJO<br />

•<br />

Mehr Infos und Nachrichten unter:<br />

www.hinzundkunzt.de<br />

FOTO: GETTY IMAGES/ISTOCKPHOTO/CARLOS GAWRONSKI<br />

22


Faire<br />

Finanzen<br />

Interview: Peter Reese ist Millionär<br />

und will höhere Steuern zahlen (S. 24).<br />

Schuldnerberatung: Catrin Sternberg<br />

hilft von Armut betroffenen Menschen<br />

(S. 30). Finanz kooperative: Hier unterstützt<br />

man sich gegenseitig und teilt<br />

sich ein Konto – trotz unterschied licher<br />

Einkommen (S. 32). Außerdem:<br />

Hinz&Künztler:innen öffnen ihre<br />

Portemonnaies (S. 28). Und: Vorschläge<br />

zur sinnvollen Geldanlage (S. 36).


Faire Finanzen<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />

„Die Reichen und<br />

Superreichen verabschieden<br />

sich zunehmend aus der Steuerlast<br />

und der Verantwortung für das<br />

Gemeinwesen“, kritisiert Peter Reese.<br />

Er selbst ist Millionär.<br />

24


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Faire Finanzen<br />

„Die Zeit ist<br />

überreif!“<br />

Steuern rauf für Reiche: Im Verein taxmenow haben sich<br />

Vermögende zusammengeschlossen, die genau das fordern.<br />

Ein Gespräch mit dem Vorstand Peter Reese über Motive,<br />

Ziele und das Hamburger Desinteresse …<br />

TEXT: JOCHEN HARBERG<br />

FOTO: MAKS RICHTER FOTOGRAFIE<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Herr Reese, können<br />

wir davon ausgehen, dass Sie bei<br />

der jüngsten Bundestagswahl nicht<br />

die FDP gewählt haben – die Steuererhöhungen<br />

ja von vornherein<br />

kategorisch ausgeschlossen hat?<br />

Peter Reese: Ja. Ich würde mich als sozialliberal<br />

bezeichnen – aber eine Partei,<br />

die für Freiheit ohne Verantwortung<br />

steht und der es nur um Besitzstandswahrung<br />

der ohnedies Privilegierten<br />

geht, ist nicht meine.<br />

Sie sind als Gründungsmitarbeiter<br />

durch den Verkauf des bekannten<br />

Vergleichsportals „Verivox“ im Jahr<br />

2015 selbst Millionär geworden. Wann<br />

und wie wurden Sie auf „taxmenow“<br />

aufmerksam?<br />

Durch ein Interview der erst 29-jährigen<br />

BASF-Erbin Marlene Engelhorn<br />

im Mai letzten Jahres, die sich schon<br />

„Starke<br />

Schultern sollen<br />

und müssen<br />

mehr tragen.“<br />

damals bei taxmenow engagiert hat<br />

und ebenfalls eine höhere Besteuerung<br />

großer Vermögen fordert. Viele ihrer<br />

Gedanken zum Thema soziale Ungerechtigkeit<br />

rund um großen Reichtum<br />

haben schon länger in mir gegärt. Sie<br />

sind auch bei uns in der Familie oft<br />

Gesprächsthema.<br />

Was sind die Kernforderungen<br />

von taxmenow?<br />

Vor allem mehr Steuergerechtigkeit. In<br />

unserem Land ist es so, dass gerade die<br />

25<br />

Reichen und Superreichen sich zunehmend<br />

aus der Steuerlast und der Verantwortung<br />

für das Gemeinwesen verabschieden.<br />

Aber starke Schultern<br />

sollen und müssen mehr tragen.<br />

Was genau kritisieren Sie?<br />

In der progressiven Einkommenssteuer<br />

gibt es für 99 Prozent aller Menschen eine<br />

zunehmende Steuerlast bei steigendem<br />

Einkommen. Aber ausgerechnet<br />

bei dem obersten einen Prozent fällt die<br />

Steuerlast dann plötzlich rapide nach<br />

unten ab. Und beim obersten Promille<br />

wie etwa den US-Tech-Milliardären<br />

landet sie, wenn man deren Verdienst<br />

durch steigende Aktienkurse und Sachwerte<br />

berücksichtigt, fast bei null. Diese<br />

Leute haben fast kein Einkommen aus<br />

Arbeit; und Vermögenszuwächse sowie<br />

Kapitalerträge werden nicht bzw. nur<br />

sehr gering besteuert. Wahnsinn!


Faire Finanzen<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />

In Deutschland besitzt aber genau<br />

dieses reichste eine Prozent laut<br />

Untersuchungen rund 35 Prozent des<br />

gesamten Vermögens …<br />

… während die Hälfte aller Deutschen<br />

zusammen gerade mal auf 3,4 Prozent<br />

Vermögen kommt. Von den angehäuften<br />

privaten Schulden mal gar nicht zu<br />

reden. Für viele Menschen ist es ja quasi<br />

schon eine Existenzfrage, wenn mal<br />

die Waschmaschine kaputtgeht. Und<br />

die Schulfreizeit für die Kinder zum finanziellen<br />

Offenbarungseid werden<br />

kann.<br />

Was wollen Sie erreichen?<br />

Mein Anliegen wäre, mit Mehreinnahmen<br />

von ganz oben die Mehrwertsteuer<br />

wieder zu senken, die die Ärmeren<br />

im Lande besonders hart trifft. Und<br />

auch den Eingangssteuersatz sollte<br />

man massiv verschieben – von den derzeit<br />

knapp 10.000 Euro Steuerfreibetrag<br />

gerne in Richtung 20.000 oder<br />

sogar 30.000 Euro. In den letzten<br />

20 Jahren hat Deutschland eine starke<br />

Umverteilung von unten nach oben<br />

gesehen – das müssen wir dringend<br />

korrigieren.<br />

taxmenow & Peter Reese:<br />

Die Initiative für mehr Steuergerechtigkeit<br />

von sehr vermögenden Menschen im<br />

deutschsprachigen Raum nahm Anfang<br />

2021 ihre Arbeit auf. Im Juni wandte sie<br />

sich mit einem öffentlichen Appell an<br />

die Politik. Bislang 53 Millionär:innen<br />

unterstützen den Appell, 24 von ihnen<br />

sind öffentlich bekannt. Im Vorstand des<br />

gerade neu gegründeten Vereins sitzt<br />

neben BASF-Millionenerbin Marlene<br />

Engelhorn auch der Heidelberger Digital-<br />

Unternehmer Peter Reese, 51. Reese ist<br />

verheiratet und hat zwei Kinder. JOC<br />

Mehr Infos: www.taxmenow.eu<br />

Woher rührt diese Umverteilung?<br />

Sie ist das Erbe der neoliberalen Finanzpolitik,<br />

die in den 1980er-Jahren<br />

von Ronald Reagan in den USA und<br />

Margaret Thatcher in England mit harter<br />

Hand etabliert worden ist. Diese<br />

Welle ist dann mit Verspätung nach<br />

Deutschland geschwappt und wurde<br />

unter der rot-grünen Regierung ab<br />

Ende der 1990er-Jahre sowie unter der<br />

folgenden ersten GroKo ab 2005 auch<br />

hier salonfähig. Fast niemand erinnert<br />

sich heute mehr daran, dass wir zu Zeiten<br />

von Helmut Kohl mal einen Spitzensteuersatz<br />

von 53 Prozent hatten.<br />

Wenn man das heute fordert, gibt es<br />

einen Aufstand.<br />

„Wir werden zu<br />

einem Volk von<br />

neo liberalen<br />

Egoisten erzogen.“<br />

Ihre Mitstreiterin Marlene Engelhorn<br />

hat neulich in einem Interview gesagt:<br />

„Es gibt Menschen, die mit unglaublichen<br />

Vermögen auch unglaubliche<br />

Lebenschancen und Macht vererbt<br />

bekommen haben und dafür, wie ich,<br />

überhaupt nichts geleistet haben.<br />

Das ist nicht gerecht.“<br />

Ist es natürlich auch nicht. Aber leider<br />

muss man feststellen, dass in unserem<br />

Land für das oberste Prozent generell<br />

andere gesellschaftliche Spielregeln gelten.<br />

Diese Eliten haben einen privilegierten<br />

Zugang zur Macht, bestimmen<br />

unsere Politik mit und über die ebenfalls<br />

schwerreichen privaten Medienbesitzer<br />

auch teilweise den Diskurs. Mir<br />

steht dabei etwa die „Bild“-Zeitung<br />

vor Augen und ihre tägliche Gehirnwäsche<br />

– sodass deren Leser:innen oft<br />

denken und wählen, als wären sie selbst<br />

26<br />

Millionäre. Ich nehme es jedenfalls so<br />

wahr, dass im Mainstream der öffentlichen<br />

Diskussion oft nur auf Besitzstandswahrung<br />

gesetzt wird, ohne die<br />

gesellschaftliche Verantwortung von<br />

Eigentum ins Verhältnis zu setzen. So<br />

werden wir zu einem Volk von neoliberalen<br />

Egoisten erzogen.<br />

Engelhorn hat auch gesagt, dass sie<br />

sich perspektivisch von 90 Prozent ihres<br />

Vermögens trennen und umverteilen<br />

will, zugunsten der Allgemeinheit ...<br />

Es wächst jetzt eine junge Erbengeneration<br />

heran, die sehr smart ist, sehr<br />

moralisch und mit klarem Schulterblick<br />

für ihre eigenen Privilegien. Die erlebt<br />

in ihrem persönlichen Umfeld Freunde,<br />

die sich während des Studiums keine<br />

Tasse Kaffee extra leisten können. Diese<br />

neuen, hellen Köpfe machen mir<br />

Hoffnung auf wirkliche Veränderung.<br />

Warum spenden Sie nicht einfach,<br />

so wie das viele Vermögende tun?<br />

Viele der bei taxmenow engagierten<br />

Menschen machen das eh, auch ich.<br />

Aber Philanthropie löst ja nicht das<br />

Problem der Finanzierung des Gemeinwohls.<br />

Wir brauchen demokratische<br />

Zuweisung von Ressourcen und nicht<br />

eine, die nur nach Lust und Laune einiger<br />

weniger Milliardäre stattfindet.<br />

Alle, auch und gerade Reiche, profitieren<br />

von einem funktionierenden<br />

Gemeinwesen und gut ausgebildeten<br />

Arbeitskräften. Da kann man sich nicht<br />

heraus reden mit dummen Floskeln wie<br />

„unfähiger Staat“ oder Ähnlichem.<br />

Es gibt auch internationale<br />

Bestrebungen in Ihre Richtung …<br />

Ja, die Vernetzung mit Gruppen wie<br />

„Millionaires for Humanity“ oder<br />

„Patriotic Millionaires“ nimmt langsam<br />

Fahrt auf. Ähnliche Bewegungen gibt es<br />

heute in immer mehr Ländern.


Faire Finanzen<br />

ANKER<br />

DES<br />

LEBENS<br />

Erst im Januar hat eine länderübergreifende<br />

Gruppe von mehr als<br />

100 Millionär:innen anlässlich des<br />

Welt wirtschaftsforums in Davos einen<br />

Appell veröffentlicht: zwei Prozent<br />

mehr Steuern für Vermögen von mehr<br />

als 5 Millionen Dollar, drei Prozent für<br />

mehr als 50 Millionen, fünf Prozent<br />

für Milliardär:innen.<br />

Den Brief haben auch viele von uns<br />

unterschrieben. Die großen Milliardäre<br />

der Welt zahlen, selbst wenn man es<br />

großzügig rechnet, gerade noch acht<br />

Prozent Steuern auf ihr Einkommen.<br />

Moderate Steuererhöhungen machen<br />

in diesen Kreisen niemanden ärmer –<br />

da sind ja allein die jährlichen Kursgewinne<br />

und ausgeschütteten Dividenden<br />

an der Börse höher.<br />

Man könne, heißt es in dem Appell,<br />

mit dem so eingenommenen Geld von<br />

2,5 Billionen Dollar jährlich weltweit<br />

ca. 2,3 Milliarden Menschen aus Armut<br />

und Hunger holen und die gesamte<br />

Weltbevölkerung ohne Extrakosten<br />

gegen Corona impfen …<br />

Viele reiche Menschen erkennen inzwischen,<br />

dass es so wie bisher nicht weitergehen<br />

kann. Die Zeit ist überreif für<br />

Veränderung. Man muss sich zudem<br />

klarmachen, dass wir auf Deutschland<br />

bezogen von gerade einmal ungefähr<br />

100.000 betroffenen reichen Menschen<br />

sprechen. In Umfragen sprechen sich<br />

ja auch immer Minimum 70 Prozent<br />

und mehr für solche oder ähnliche<br />

Besteuerungen von Spitzenver diener:in<br />

nen aus. Worauf also wartet die<br />

Politik da noch?<br />

Was würde Ihnen persönlich fehlen,<br />

wenn eine solche Steuer erhoben<br />

würde?<br />

Nichts. Absolut gar nichts. Im Gegenteil,<br />

mein Wohlbefinden würde sich erhöhen,<br />

weil ich zurzeit sehe, dass sehr viele<br />

Menschen in meinem Freundeskreis<br />

übel ins Trudeln gekommen sind. Und<br />

man kann ohnedies durch keine Stadt<br />

laufen, ohne die neue Obdachlosigkeit<br />

wahr zunehmen. Die ich persönlich für<br />

eine große Schande für uns alle halte.<br />

Ernten Sie in Ihren „Kreisen“ denn gar<br />

keine Kritik nach dem Motto: „Sag’ mal,<br />

bist du verrückt geworden?“<br />

Also das Kritischste, was ich gehört<br />

habe, war der augenzwinkernde Satz:<br />

„Du willst wohl dein gesamtes Vermögen<br />

loswerden?“ Viele wissen sehr<br />

genau, wenn man sie mit den Steuerfakten<br />

konfrontiert, dass das so alles<br />

nicht okay ist. Selbst Menschen, die ich<br />

als „Steuerflüchtlinge“ titulieren würde,<br />

haben mir in vertraulichen Gesprächen<br />

schon zugestimmt.<br />

Ist bei taxmenow auch jemand aus<br />

Hamburg dabei?<br />

Nein, bisher noch nicht.<br />

Das erstaunt uns aber – schließlich<br />

ist Hamburg laut Erhebungen die<br />

Stadt „mit der größten Reichen-Dichte<br />

Deutschlands“ und je nach Zählung mit<br />

zwischen 900 bis 1200 Einkommensmillionär:innen<br />

…<br />

Mein Vater kommt ja aus Hamburg,<br />

und als halber Hanseat nutze ich<br />

jetzt hier diese wunderbare Gelegenheit<br />

und sage: Liebe Hamburger:innen, wo<br />

bleibt eure viel beschworene hanseatische<br />

Kaufmannsehre? Vom Geldsäckescheffeln<br />

steht in der Bibel nix! •<br />

Jochen Harberg ist bei<br />

einer Feststellung Reeses<br />

erschrocken: dass schon<br />

ein Drittel aller Deutschen<br />

gegen den gesellschaftlichen<br />

Abstieg kämpfen müsse …<br />

redaktion@hinzundkunzt.de<br />

27<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> bietet obdachlosen<br />

Menschen Halt. Eine Art<br />

Anker für diejenigen, deren<br />

Leben aus dem Ruder<br />

gelaufen ist. Möchten Sie<br />

uns dabei unterstützen und<br />

gleichzeitig den Menschen,<br />

die bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> Heimat und<br />

Arbeit gefunden haben, helfen?<br />

Dann hinterlassen Sie etwas<br />

Bleibendes – berücksichtigen<br />

Sie uns in Ihrem Testament!<br />

Als Testamentsspender:in<br />

wird Ihr Name auf Wunsch<br />

auf unseren Gedenk-Anker<br />

in der Hafencity graviert.<br />

Ein maritimes Symbol für<br />

den Halt, den Sie den sozial<br />

Benachteiligten mit Ihrer<br />

Spende geben.<br />

Wünschen Sie ein<br />

persönliches Gespräch?<br />

Kontaktieren Sie unseren<br />

Geschäfts führer Jörn Sturm.<br />

Tel.: 040/32 10 84 03 oder<br />

E-Mail: joern.sturm@hinzundkunzt.de


Faire Finanzen<br />

Gabriela (51), Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Bewerberin:<br />

„Zwei Fotos habe ich im Portemonnaie: meinen Mann und meine<br />

Mutter. Sie ist Ende Dezember gestorben, hier in Hamburg<br />

im Krankenhaus. Mein Mann ist 2006 in Spanien bei einem<br />

Autounfall ums Leben gekommen. Wir waren 23 Jahre verheiratet<br />

und haben vier Kinder und vier Enkelkinder. In unserer<br />

Heimatstadt Bac u in Rumänien hat meine Familie nichts<br />

mehr. Ich habe 15 Jahre lang als Reinigungskraft in Spanien<br />

gearbeitet. Nach dem Tod<br />

meines Mannes bin ich mit<br />

meinen Söhnen nach Düsseldorf<br />

zu meiner Tochter<br />

gezogen und habe das<br />

Straßenmagazin fiftyfifty<br />

verkauft. Jetzt möchte<br />

ich bei Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

anfangen.“<br />

Geld ist nicht alles<br />

Was Menschen im Portemonnaie haben, ist nicht nur eine Frage von Reichtum oder<br />

Armut. Jede Geldbörse ist einzigartig, oft birgt sie Andenken, Artefakte des<br />

Alltags, Hilfsmittel zum Durchhalten. Vier Hinz&Künztler:innen gewähren Einblick.<br />

TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Dieter (71), verkauft vor<br />

Rewe im Center in Geesthacht:<br />

„Mein Personalausweis ist das Wichtigste in meinem<br />

Portemonnaie. Da staunen viele, dass ich darauf<br />

mit dunkler Sonnenbrille abgebildet bin. Haben die<br />

beim Amt auch zuerst gesagt: ‚Das geht nicht.‘<br />

Aber das war ne Spezialbrille, an den Seiten zu.<br />

Die brauchte ich als Schutz. Ich bin fast blind.<br />

Die Frau auf dem Amt hat dann telefoniert<br />

und ihr Chef hat gesagt: ‚Der Mann kriegt<br />

den Ausweis mit Brille.‘ Eigentlich<br />

bräuchte ich die auch immer noch,<br />

aber die Gläser müssen erneuert<br />

werden. Die Kasse zahlt nur<br />

einen Teil, ich müsste mehr<br />

als 1000 Euro dazuzahlen.<br />

Wo soll ich das hernehmen?“


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Faire Finanzen<br />

Hristo (61), verkauft Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

im EKZ Barmbek vor Aldi:<br />

„Die Ikone in meinem Portemonnaie zeigt die Heiligen<br />

Konstantin und Elena. Ich bin orthodox, an Weihnachten<br />

gehe ich auch in die bulgarische Kirche. In Bulgarien kennt<br />

jeder Konstantin und Elena, ihre Namenstage sind Feiertage.<br />

Ich wünschte, die Heiligen würden mir helfen, Geld zu<br />

verdienen. Aber wie man in meinem Portemonnaie sieht:<br />

kein Geld. Ansonsten habe ich noch meinen Führerschein<br />

bei mir. Den habe ich seit 1987.“<br />

Detlef (62), verkauft Hinz&<strong>Kunzt</strong> in Eimsbüttel<br />

bei Aldi und Karstadt in der Osterstraße:<br />

„In meinem Portemonnaie ist nur, was ich brauche: Personalausweis,<br />

Versichertenkarte, HVV-Ticket, Bankkarte. Und so’n kleener Zettel,<br />

da ist meine Handynummer drauf. Die muss ich immer dabeihaben,<br />

wenn ich zum Arzt muss, muss ich die ja angeben. Was soll ich mit<br />

anderen Sachen? Für Fotos oder Andenken hab ich ne Aktentasche,<br />

da kommt das alles rin und bleibt da drinne. Kassenzettel und so was<br />

schmeiß ich sofort weg. Ab und zu hab ich Scheine im Portemonnaie.<br />

Beim Verkaufen kommen immer mal wieder Leute:<br />

,Kannste mal wechseln?‘ ,Komm her‘, sag ich<br />

dann. Kleingeld hab ich ja.“


Faire Finanzen<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />

INTERVIEW: SIMONE DECKNER<br />

FOTO: ANDREAS HORNOFF<br />

Catrin Sternberg<br />

weiß: Wer zu ihr<br />

kommt, hat oft eine<br />

lange Leidenszeit<br />

hinter sich.<br />

„Man sollte unbedingt<br />

über Geld sprechen“<br />

Catrin Sternberg leitet die Schuldnerberatung des Diakonischen Werks Hamburg.<br />

Sie wünscht sich mehr Offenheit, wenn es ums Geld geht – grundsätzlich.<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Wie schwer fällt Menschen der Gang<br />

zur Schuldner beratung?<br />

Catrin Sternberg: Das Thema ist schambehaftet. Wer hier anruft,<br />

ist zunächst zurückhaltend. Wir sagen dann: „Es ist gut,<br />

dass Sie sich melden!“ Nach den ersten Gesprächen legt sich<br />

die Scham zumeist und weicht einer großen Erleichterung.<br />

Vorausgegangen ist ja oftmals eine lange Leidensgeschichte.<br />

Wer kommt zu Ihnen?<br />

Viele unserer Klient:innen sind armutsbetroffen. Seit<br />

der Pandemie haben wir aber auch verstärkt Anfragen von<br />

Menschen, die in Kurzarbeit oder selbstständig sind.<br />

Was sind die Hauptgründe für Schulden?<br />

Arbeitslosigkeit, Krankheit und Trennung.<br />

Früher hat Peter Zwegat im TV „Raus aus den Schulden“<br />

geholfen. Der Eindruck: Viele können nicht mit Geld umgehen!<br />

Es gibt Menschen, die über ihre Verhältnisse leben, aber das<br />

sind circa 8 Prozent. Laut einer neuen Studie ist bei 45 Prozent<br />

der Grund für die Überschuldung ein unvorhergesehenes<br />

Ereignis wie eine Erkrankung oder der Jobverlust.<br />

Was sind die ersten Schritte bei der Beratung?<br />

Wir gucken uns an: Wie hoch sind die Schulden genau? Alle<br />

Unterlagen kommen auf den Tisch. Dann prüfen wir<br />

gemeinsam, welche Perspektiven es gibt – ganz individuell.<br />

Es gibt nicht die eine Lösung für alle.<br />

Früher gab es das Haushaltsbuch, heute kann man mit<br />

Apps seine Ausgaben tracken – sinnvoll?<br />

30


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Faire Finanzen<br />

Beides ist schon sehr aufwendig.<br />

Aber es gibt oft Aha-Erlebnisse,<br />

wenn man sieht: Ich habe am Monatsende<br />

kaum noch Spielraum. Oft<br />

treffen Menschen Ratenvereinbarungen,<br />

die gar nicht zu leisten sind.<br />

Nach dem Motto: Es wird schon<br />

irgendwie gehen. Wichtig ist immer,<br />

Miete, Strom und Wasser zu zahlen.<br />

Wird das Girokonto gepfändet, sollte<br />

es in ein Pfändungsschutzkonto umgewandelt<br />

werden, so ist ein Freibetrag<br />

von 1260 Euro vor der Pfändung<br />

gesichert.<br />

Wie kann ich Schulden vermeiden?<br />

Es heißt ja immer „Über Geld<br />

spricht man nicht“. Ich finde, man<br />

sollte unbedingt über Geld sprechen.<br />

Damit man weiß, wie hoch<br />

Einkünfte und Ausgaben sind. Lehrbuchhaft<br />

wird geraten, drei Netto-<br />

Monatsgehälter als Rücklage zu<br />

haben. Meine Klient:innen sagen<br />

aber oft: „Ich weiß ab Mitte des Monats<br />

schon nicht, wie ich klarkommen<br />

soll!“ Das ist also eher ein Ideal.<br />

Wer zahlungsunfähig ist,<br />

kann Privat insolvenz anmelden.<br />

Das machen in Hamburg immer<br />

mehr Menschen. Ist das gut<br />

oder schlecht?<br />

Die Privat- oder Verbraucher insolvenz<br />

ist das letzte, aber auch ein<br />

gutes Mittel. Seit der Reform des<br />

Insolvenzrechts 2020 dauert das<br />

Verfahren nur noch drei statt sechs<br />

Jahre. Die Klient:innen haben nach<br />

erfolgreichem Abschluss den Rücken<br />

frei. •<br />

redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Offene Telefonsprechstunde:<br />

Schuldnerberatung Altona,<br />

Di, 10–12 Uhr und Do, 10–12 Uhr,<br />

Telefon: 040/30 62 03 85,<br />

E-Mail: schuldnerberatung@<br />

diakonie-hamburg.de<br />

Mehr Infos unter<br />

www.huklink.de/schulden<br />

Mein Leben<br />

mit den Schulden<br />

Wie fühlt es sich an, eine<br />

Schuldenlast stemmen zu müssen?<br />

Zwei Betroffene erzählen.<br />

PROTOKOLLE: SIMONE DECKNER<br />

Marco (45), Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Vertriebsmitarbeiter<br />

Ich hatte eigentlich schon immer Geldprobleme, habe ständig über meine<br />

Verhältnisse gelebt. Als Lager- und Produktionshelfer habe ich zwar<br />

verdient, aber es war mir nie genug. Ich habe Sachen bestellt und eine Zeit<br />

lang auch Drogen genommen, was ja sehr teuer ist. Dass ich Schulden<br />

hatte, habe ich immer verdrängt. In die Briefe mit den Mahnungen habe ich<br />

gar nicht mehr reingeguckt, die sind direkt in der Schublade gelandet,<br />

der Klassiker! Die meisten Schulden hatte ich bei der Unterhalts- und<br />

Krankenkasse – ein ganzer Batzen, etwa 30.000 Euro.<br />

Mit meinem Schuldnerberater, der mir vom Arbeitsamt vermittelt wurde,<br />

schauen wir jetzt, wie ich das abbauen kann. Erst mal haben wir alles<br />

sortiert. Dadurch, dass ich auch obdachlos war, hatte ich kaum noch<br />

Unterlagen. Mein Berater hat viele Behörden angeschrieben und Kopien<br />

wieder beschafft. Es war ein gutes Gefühl, mit jemandem über die<br />

Schulden zu reden, wir waren auch gleich per Du. Mir ist da eine große Last<br />

genommen worden. Jetzt muss ich das Geld nach und nach abstottern.<br />

Mein Tipp, damit man erst gar keine Schulden macht: haushalten!<br />

Das klingt so einfach, ist aber das Schwerste überhaupt. Eigentlich<br />

lerne ich das erst, seitdem ich hier im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Haus wohne.<br />

•<br />

Clara (35), Gesundheits- und Krankenpflegerin<br />

Mein Expartner ist arbeitslos geworden. Das Geld für unsere Familie<br />

mit drei Kindern wurde knapp. Er hat dann einen Tipp bekommen: Mit<br />

einem Taxi in Angola, unserer Heimat, könnten wir gutes Geld verdienen:<br />

zusätzlich 500 Euro in der Woche. Weil mein Partner schon negative<br />

Schufa-Einträge hatte, habe ich den Kredit für das Taxi aufgenommen.<br />

Ich hatte große Bedenken, aber der Tipp schien sicher zu sein. Der Kredit<br />

lief über 30.000 Euro, aber mit allen Gebühren und Zinsen waren es am<br />

Ende fast 40.000. Ich habe angefangen, den Kredit abzubezahlen, als sich<br />

herausstellte, dass wir mit dem Taxi betrogen wurden. Wir haben viel Geld<br />

für ein schrottreifes Auto ausgegeben. Ich habe viel geweint, bin darüber<br />

krank geworden. Ich hatte noch nie Schulden! Die Bank hat nur kurz die<br />

Raten gestundet, dann hieß es, es geht alles an ein Inkasso-Unternehmen.<br />

Zum Glück hat mir meine Chefin die Telefonnummer von der Schuldnerberatung<br />

rausgesucht. Da habe ich alles erzählt. Es war mir so peinlich!<br />

Aber nach den ersten Terminen ging es mir schon viel besser. Von Anfang<br />

an wurde gesagt: „Das wird schon!“ Ich sollte erst mal zahlen, was wichtig<br />

ist: Miete, Heizung, Strom und Wasser. Wir haben einen Antrag auf Privatinsolvenz<br />

gestellt, und das Verfahren ist mittlerweile eröffnet. Ich bin so<br />

erleichtert darüber!<br />

•<br />

31


Alle entscheiden<br />

gemeinsam: Die Illustration<br />

ziert den Titel des<br />

Buches „Finanzcoop oder<br />

Revolution in Zeit lupe“<br />

(siehe Infokasten S. 35).


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Faire Finanzen<br />

Von Zeitmillionären,<br />

Bankkarten<br />

und Flugreisen<br />

Zwei Finanzkollektive teilen ihr Geld – eines tut das seit mehr<br />

als 20 Jahren, das andere hat sich nach zehn Jahren aufgelöst.<br />

TEXT: ANKE SCHWARZER<br />

ILLUSTRATIONEN: NINO BULLING (S.32),<br />

GRAFIKDEERNS.DE<br />

D<br />

ie Kinder wollen ein Eis.<br />

Beim Finanzcoop-Treffen<br />

fragen sie nach Geld und<br />

laufen zur Eisdiele. „Bei<br />

uns ist es praktisch“, erzählt eines der<br />

Kinder. Während ihre Freundin nur ihre<br />

Eltern anbetteln könne, habe sie viel<br />

mehr Menschen als nur ihre Mama, die<br />

sie ansprechen kann. Wenn sie etwas<br />

„Wichtig ist,<br />

ein ähnliches<br />

Konsumniveau<br />

zu haben.“ DIRK<br />

Teureres wolle, zum Beispiel eine supertolle<br />

Bettwäsche, dann werde das aber<br />

zunächst besprochen. „Und dann<br />

nimmt meine Mama das Geld, das allen<br />

in der Finanzcoop gehört.“ Ihre Mama<br />

heißt Branka*, arbeitet als Ärztin und<br />

betreibt mit sechs Erwachsenen und<br />

vier Kindern eine Solidargemeinschaft,<br />

die quer zu Familie und Staat liegt.<br />

Lange bevor die Share-Economy<br />

durch Airbnb, Carsharing und E-Roller-<br />

Verleihe zum Geschäftsmodell wurde,<br />

haben die Mitglieder ihrer Finanzcoop<br />

ausprobiert, wie es ist, ein Auto oder<br />

eine Wohnung zu teilen. Mittlerweile<br />

planen sie gar ein kollektives Rentenmodell.<br />

Nach mehr als 20 gemeinsamen<br />

Jahren ist das Geldteilen für sie<br />

zum Alltag geworden.<br />

Heute sind die Kollektivist:innen<br />

zwischen 45 und 53 Jahre alt. Sie haben<br />

fast alle studiert, wohnen in Berlin,<br />

Bremen, Hamburg und Göttingen, arbeiten<br />

im Krankenhaus, im Bioladen,<br />

bei einer Zeitung oder lehren an der<br />

Universität. Wie eine warme Jacke –<br />

eine Selbsthilfegruppe im Kapitalismus<br />

– ein Netzwerk in allen Lebenslagen –<br />

eine Wahlfamilie – der größte Kompensator<br />

misslicher sozialer Herkunft: So<br />

beschreiben sie ihre Fi nanz kooperative.<br />

Alle sechs Wochen kommen die<br />

Mitglieder zusammen. Sie leben nicht<br />

in einem Haushalt, nicht einmal in<br />

der gleichen Stadt und haben untereinander<br />

keine Liebesbeziehung.<br />

Ihre Themen: Was passiert im<br />

Leben, wie geht es im Job? Stehen<br />

größere Ausgaben an? Über Geld<br />

zu sprechen, ist in fast allen gesellschaftlichen<br />

Bereichen ein Tabu.<br />

Hier wird es mit Absicht gebrochen.<br />

Allerdings dauere die reine „Kohlerunde“<br />

meist nicht sehr lange.<br />

Es gehe viel stärker darum, über<br />

Bedürfnisse zu sprechen, erzählt<br />

Kerstin*, die in Berlin als Redakteurin<br />

arbeitet.<br />

33<br />

Löhne, Geldgeschenke, Honorare,<br />

Kindergeld – alles fließt auf ein gemeinsames<br />

Konto. Die Beträge, die<br />

die einzelnen Mitglieder pro Monat<br />

einbringen, sind unterschiedlich und<br />

liegen zwischen 700 und 3700 Euro.<br />

Alle zahlen das ein, was sie in ihren<br />

unterschied lichen Berufen verdienen.<br />

Außen vor bleiben Ersparnisse aus den<br />

Zeiten davor. Auch die Erbschaften<br />

einzelner Mitglieder stehen nicht frei<br />

zur Ver fügung, werden aber von allen


Faire Finanzen<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />

gemeinsam verwaltet. Die<br />

Finanzcoop verteilt diese<br />

in di viduellen und nichtkollektivierten<br />

Gelder als<br />

Darlehen auf viele kleine<br />

Projekte, alternative Wohnprojekte<br />

etwa, die sie dadurch<br />

unterstützen.<br />

Damit eine Finanzcoop<br />

überhaupt funktioniere, sei es wichtig,<br />

ein ähnliches Konsumniveau zu haben<br />

– neben der Tatsache, dass man<br />

sich mag und überhaupt Geld zur Verfügung<br />

hat. „Wenn ich ein Parfüm-<br />

Freak bin und dafür sehr viel Geld ausgeben<br />

möchte, sollte ich mich vielleicht<br />

auch eher mit Parfüm-Freaks zusammentun,<br />

ähnlich wie es auch bei einer<br />

WG wichtig ist, einen ähnlichen Ordnungslevel<br />

zu haben“, sagt Dirk*. Niemand<br />

habe eine Kreuzfahrt für 10.000<br />

Euro machen wollen, man habe sich<br />

aber zusammen ein hochwertiges Zelt<br />

gekauft und einen Gebrauchtwagen geteilt.<br />

„Die Finanzcoop ist keine Alternative<br />

zum Kapitalismus, sondern ein<br />

„Es funktioniert<br />

durch Learning<br />

by Doing!“<br />

KERSTIN<br />

Umgang darin, eine Überlebenstechnik“,<br />

sagt Dirk rückblickend.<br />

Für ihn ist das Modell vom geteilten<br />

Geld Vergangenheit. Er lebt in<br />

Hamburg und hat sein Einkommen<br />

lange mit sieben weiteren Mitgliedern<br />

in einen Topf geworfen. Nach zehn<br />

Jahren war Schluss. Ein Scheitern an<br />

Geldfragen sei es aber nicht gewesen,<br />

sagt Dirk. „Mein Fazit ist, dass wir viel<br />

gelernt haben und mich die Zeit sehr<br />

positiv geprägt hat“, pflichtet ihm<br />

Nina* bei. Aber die „Wahlverwandtschaft“<br />

habe sich einfach wieder auseinandergelebt,<br />

gibt Dirk als Grund für die<br />

Auflösung an.<br />

„Geld ist eine machtvolle Sache, es<br />

ist auch emotional sehr wirkmächtig, es<br />

geht um Neid, Stolz, Gerechtigkeit,<br />

Angst und Selbstwert“, sagt Tina*, die<br />

die inzwischen aufgelöste Coop mitgegründet<br />

hat und es wichtig findet, eigene<br />

Bedürfnisse rund um Geld, Arbeit<br />

und Rente sichtbar zu machen. „Manchen<br />

in der Coop bereitete das überzogene<br />

Gemeinschaftskonto Albträume,<br />

andere wiederum wollten trotzdem<br />

nicht auf das monatliche Abzwacken<br />

von 150 Euro für gemeinsame Rücklagen<br />

und Urlaube verzichten“, erinnert<br />

sich die Hamburgerin. Nina wiederum<br />

sagt, dass sie weniger als andere<br />

in ihrem Alter konsumiere. Sie habe<br />

kein Auto und lebe in einer WG. „Ich<br />

sehe das aber nicht als Einschränkung.<br />

Ich möchte lieber Zeitmillionärin als<br />

Geldmillionärin sein.“ Gegenüber den<br />

Eltern, Ämtern oder auch nur der Bank<br />

sei es nicht immer möglich gewesen,<br />

das System Finanzcoop offenzulegen.<br />

Vor allem bei der Bank schlug es<br />

Wellen. Acht Bevollmächtigte mit jeweils<br />

eigener Bankkarte, das sah erst<br />

mal kein Formular vor, so Tina.<br />

Wenn es ums Geld geht, endet die<br />

Freundschaft im Kollektiv nicht – doch<br />

Konflikte kommen vor. Berggorillas in<br />

Ruanda anschauen oder mit dem Zug<br />

nach Frankreich? Wer fliegt wie oft und<br />

wie weit? Warum du immer wieder,<br />

während ich es mir nicht erlaube?<br />

Das Thema Flugreisen war laut Kerstin<br />

über mehrere Jahre ein großer Konfliktpunkt<br />

in der Finanzcoop, bei dem<br />

es um Kosten und Klima ging. „Da<br />

* Die Namen sind der Redaktion<br />

bekannt, aber im Text verändert.<br />

34


Faire Finanzen<br />

Leichte Sprache:<br />

Es gibt den Text auch in Leichter<br />

Sprache. Scannen Sie den<br />

QR-Code mit dem Handy.<br />

Dann klicken Sie auf den Link.<br />

Der Text in Leichter Sprache öffnet<br />

sich. Oder Sie gehen auf unsere<br />

Webseite www.hinzundkunzt.de und suchen dort<br />

nach „Leichte Sprache“.<br />

www.huklink.de/<strong>349</strong>-leichte-sprache<br />

haben wir uns Hilfe geholt und eine Moderation angefragt“,<br />

sagt Kerstin. Am Ende fanden sie zumindest<br />

eine pragmatische Lösung: ein Flugpunktemodell.<br />

„Das klingt erst einmal technisch, funktioniert aber<br />

seit acht Jahren“, so Kerstin. Jede:r kann entscheiden,<br />

„Ich möchte<br />

lieber Zeit- als Geldmillio<br />

närin sein.“<br />

NINA<br />

ob oder wie viel von den Punkten man selbst für einen<br />

bestimmten Zeitraum einsetzt. Es hat sich nicht ergeben,<br />

dass jemand das völlig ausreizt und auch nicht,<br />

dass andere, die vorher nicht geflogen sind, plötzlich<br />

auch ein Flugticket kaufen, sagt Kerstin. Für manche,<br />

die sich Sorgen um das Monatsende machen, mag das<br />

sicher ein Luxusproblem sein. Sie hingegen sehe in<br />

dieser kleinen, aber gemeinschaftlichen Lösung eine<br />

„Revolution in Zeitlupe“. So lautet der Titel des<br />

Buchs, das einige von ihnen über die vielen Facetten<br />

des Geldteilens geschrieben haben. Manchen, die<br />

lange gesagt haben, das könnten sie nicht, habe es<br />

Anstoß gegeben, eine Coop in Betracht zu ziehen, sagt<br />

Kerstin. Die 45-Jährige ermutigt zu diesem Schritt,<br />

der gar nicht so schwierig sei: „Es funktioniert ganz<br />

einfach durch Learning by Doing!“ •<br />

Trauern<br />

ist<br />

heilsam.<br />

Unser Rat<br />

zählt.<br />

879 79-0<br />

Beim Strohhause 20<br />

trostwerk.de<br />

andere bestattungen<br />

040 43 27 44 11<br />

Mieterverein zu Hamburg<br />

im Deutschen Mieterbund<br />

20097 Hamburg<br />

Fan werden<br />

mieterverein-hamburg.de<br />

BARES IS NIX RARES<br />

(CASH – UND EWIG RAUSCHEN DIE GELDER)<br />

KOMÖDIE VON MICHAEL COONEY // 27.2. – 23.4.<strong>2022</strong><br />

redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Buchtipp:<br />

„Finanzcoop oder Revolution in Zeitlupe. Von Menschen,<br />

die ihr Geld miteinander teilen“, FC-Kollektiv,<br />

Paula Bulling, Bini Adamczak, Büchner Verlag 2019,<br />

18 Euro (Print), 14 Euro (ePDF).<br />

35<br />

Foto: Sinje Hasheider


Faire Finanzen<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />

Wohin mit<br />

dem lieben Geld?<br />

Auf dem Sparbuch gibt es fürs Geld keine Zinsen, unter dem<br />

Kopfkissen liegt es aber auch nicht optimal. Vier Vorschläge für sinnvolle Anlagen –<br />

auch für Menschen mit weniger Geld im Portemonnaie.<br />

Das Mietshäuser<br />

Syndikat<br />

Häuser dem freien Markt entziehen und dadurch<br />

gemeinsamen und bezahlbaren Wohnraum schaffen:<br />

Das ist das Ziel des Mietshäuser Syndikats. Anfang der<br />

1990er-Jahre in Süddeutschland gegründet, ist das<br />

Syndikat heute an Wohnprojekten in ganz Deutschland<br />

beteiligt. Auch wer seine persönliche Zukunft nicht in<br />

einem Wohnprojekt sieht, kann die Idee unterstützen:<br />

durch Direktkredite, also Geld, das dem Projekt geliehen<br />

wird – ohne Umweg über eine Bank. Dafür gibt es Zinsen.<br />

Rund 170 Hausprojekte ge hören dem Mietshäuser<br />

Syndikat heute an, neun befinden sich in Hamburg – ein<br />

weiteres steht kurz vor der Realisierung: In Harburg<br />

will eine Initiative eine alte Likörfabrik zum selbstverwalteten<br />

Wohn-, Gewerbe-, und Kulturort umbauen und ist<br />

dafür auf der Suche nach Geldgeber:innen. Detaillierte<br />

Informationen zu Direktkrediten, deren Vorteilen und<br />

möglichen Risiken, finden sich auf der Homepage<br />

www.lifa-harburg.org. LG<br />

•<br />

Weitere Infos: www.syndikat.org<br />

Gemeinsam sparen<br />

Sparclubs sind ein echter Geldanlage-Klassiker. Schon Ende des 19. Jahrhunderts sammelten Seeleute<br />

und Hafenarbeiter:innen in Hamburg ihr Geld in metallenen Schränken hinter dem Kneipentresen.<br />

Wirt:innen legten das Geld bei der Bank an und zahlten regelmäßig die Zinsen aus. Oft waren<br />

und sind die Auszahlungen Anlass für gemeinsame Aktivitäten der Kneipengäste. In der Hochphase<br />

des Sparclubwesens in den 1960er-Jahren soll es in Hamburg Tausende Sparclubs gegeben haben.<br />

Zwischenzeitlich etwas aus der Mode gekommen, finden sich die Schränke heute auch in vielen<br />

Szenekneipen wieder, seit 20 Jahren ebenfalls bei Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Sparclubverwalter Stephan Karrenbauer<br />

erinnert sich an Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Verkäufer:innen, die mithilfe des Sparclubs einen Führerschein,<br />

Urlaube oder Geburtstagsgeschenke für die Kinder finanziert haben. „Gerade für Menschen, die<br />

etwa aufgrund von Suchterkrankungen schlecht mit Geld umgehen können, ist das eine tolle Sache“,<br />

sagt er. Im Gegensatz zu den meisten Sparclubs wird das Geld bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> aber nicht bei einer<br />

Bank angelegt – der Sparclub ist hier eher ein verwaltetes Sparschwein. LG<br />

•<br />

36


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Faire Finanzen<br />

Gewissenhaftes Banking<br />

Faire Banken wie GLS Bank (seit 1974), Triodos Bank, EthikBank oder Umweltbank<br />

wollen ihren Kund:innen vor allem ökologisch-nachhaltigen Mehrwert liefern und<br />

kommunizieren ihre Finanz-Transaktionen mit klaren Positiv- und Negativ kriterien<br />

auch öffentlich. Gegründet 2018, spielt auch die Hamburger Bank Tomorrow<br />

bereits erfolgreich in dieser Liga mit. Ihr Motto: Geld als Hebel für positiven<br />

Wandel. Das auf St. Pauli beheimatete Unternehmen mit nach eigenen<br />

Angaben mehr als 100.000 Kund:innen, bietet über eine App nur<br />

fürs Handy unter anderem sämtliche Leistungen eines Girokontos<br />

an (3 Euro pro Monat). Außerdem gibt es bei Tomorrow das<br />

klimaneutrale Konto „Zero“. Die Kontoführungsgebühren von<br />

15 Euro im Monat kompensieren den durchschnittlichen jährlichen<br />

CO 2<br />

-Ausstoß eines Menschen in Deutschland, indem Projekte im globalen<br />

Süden gefördert werden, die dafür CO 2<br />

-Zertifikate ausgeben. Jede Kartenzahlung<br />

beim Einkaufen generiert zudem Geld für ein Waldschutzprojekt in Brasilien, denn die<br />

anfallenden Gebühren gehen nicht an die Bank, sondern an das Projekt. So konnten<br />

bislang 232 Millionen Quadratmeter Regenwald geschützt werden. Die Kontoeinlagen<br />

sind wie bei herkömmlichen Banken bis 100.000 Euro gesetzlich abgesichert.<br />

Geplant für dieses Jahr: das erste nachhaltige Investmentprodukt „Tomorrow Fonds“. JOC<br />

•<br />

Weitere Infos: www.tomorrow.one<br />

FOTOS: MARTIN KUNZE (S. 36 OBEN), LG (S. 36 UNTEN),<br />

TOMORROW BANK (S. 37 OBEN), UTA GLEISER PHOTOGRAPHY<br />

Ökologische<br />

Landwirtschaft<br />

unterstützen<br />

Nicht dabei zusehen, wie ein regionaler Betrieb nach dem anderen<br />

von der Bildfläche verschwindet – das ist das Ziel von<br />

Genossenschaften und Bürgeraktiengesellschaften in ganz<br />

Deutschland. Die Idee: Bürger:innen legen ihr Geld in Form<br />

von Genossenschaftsanteilen oder Aktien an, um so Betriebe<br />

nachhaltig zu finanzieren. Eine Möglichkeit zu einer solchen<br />

Geldanlage ist die Regionalwert AG Hamburg. Interessierte<br />

können dort Aktien im Wert von 600 Euro erwerben. Dieses<br />

Geld investiert die Regionalwert AG in regionale Betriebe, die<br />

sich im Gegenzug zu sozialen und ökologischen Standards<br />

verpflichten. Statt jährlicher Dividenden ist die Rendite also<br />

zunächst ideeller Natur. Langfristig sollen aber auch Überschüsse<br />

erzielt werden – was mit denen passiert, entscheiden<br />

dann die Aktionär:innen. Bisher unterstützen auf diese<br />

Weise rund 1500 Aktionär:innen etwa 70 Betriebe in und<br />

um Hamburg. LG<br />

•<br />

Weitere Infos: www.regionalwert-hamburg.de<br />

37


Freunde<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />

Selma und Thomas Wegmann<br />

sind gespannt darauf, was<br />

sie von Hinz&Künztler:innen<br />

lernen können.<br />

Ein Praktikum<br />

im Pop-up-Store<br />

Luxuswaren und Hinz&<strong>Kunzt</strong> – wie geht das zusammen?<br />

Ziemlich gut, finden Selma und Thomas Wegmann<br />

vom Traditions-Herrenausstatter Ladage & Oelke.<br />

TEXT: MISHA LEUSCHEN<br />

FOTO: IMKE LASS<br />

Es soll Hamburger Männer<br />

geben, die ihr ganzes Erwachsenenleben<br />

in Kleidung von<br />

„Ladage & Oelke“ verbringen.<br />

Zeitlos klassisch und beinahe unverwüstlich,<br />

eignen sich Tweedsakkos<br />

und Pullover, Dufflecoats und gewachste<br />

Jacken auch prima als Erbstücke für<br />

weitere Generationen.<br />

Viel zu schade für die Altkleidertonne<br />

ist die hochwertige Herrenkleidung<br />

allemal – das finden auch<br />

38<br />

die beiden Ladage & Oelke-Geschäftsführenden<br />

Selma und Thomas Wegmann.<br />

Immer mal wieder hatten sie<br />

Kleidung für die Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Kleiderkammer<br />

gespendet. Doch sie wollten<br />

mehr bewegen. So entstand die Idee für


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

eine ungewöhnliche Kooperation:<br />

einem Pop-up-Secondhand-Store im<br />

Levantehaus, in dem neue und gebrauchte<br />

Ladage & Oelke-Kleidung<br />

durch Hinz&Künztler:innen verkauft<br />

wird. Das Levantehaus stellt das Ladenlokal<br />

unentgeltlich zur Verfügung.<br />

„Hinz&<strong>Kunzt</strong> soll durch die Einnahmen<br />

profitieren. Und die beteiligten<br />

Verkäufer können durch ein Shop-<br />

Praktikum Erfahrungen sammeln, die<br />

vielleicht bei der Eingliederung ins Berufsleben<br />

helfen“, so Selma Wegmann.<br />

„Wir schließen,<br />

wenn nichts<br />

mehr da ist.“<br />

SELMA WEGMANN<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Sozialarbeiter Stephan<br />

Karrenbauer wird die Verkäufer:innen<br />

als Projektleiter betreuen. Ihm gefällt<br />

die neue Allianz zwischen Gewerbetreibenden<br />

und Hinz&<strong>Kunzt</strong>:<br />

„Von dem Geld, das wir einnehmen,<br />

können wir die Vertriebsarbeit von<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> mit finanzieren, davon<br />

profitieren alle Hinz&Künztler:innen.“<br />

Ladage & Oelke stellt den Praktikanten<br />

eigene Mitarbeiter:innen an die<br />

Seite. „Wir sind gespannt, welche<br />

Hinz&Künztler bei uns mitarbeiten<br />

werden und was wir von ihnen lernen<br />

können“, erklärt Selma Wegmann.<br />

Stephan Karrenbauer ergänzt: „Wir<br />

haben Verkäufer, die richtig Lust<br />

darauf haben, sich im anderen Zwirn<br />

zu präsentieren und die Spaß daran<br />

haben, sich auszuprobieren.“<br />

Zum Start des Pop-up-Stores sollen<br />

erst mal Restbestände zu guten<br />

Preisen an den Mann gebracht werden.<br />

„Wir gehen mit hohen Rabatten<br />

und mit einer übersichtlichen Menge<br />

neuwer tiger Ware an den Start, die<br />

sich während der coronabedingten<br />

Schließung angesammelt hat“, erklärt<br />

Freunde<br />

39<br />

die Geschäftsführerin. „Wir schließen,<br />

wenn nichts mehr da ist“ – und wenn<br />

sich die Idee bewährt, soll der Pop-up-<br />

Store zur regelmäßigen Kooperation<br />

werden. Für noch mehr Nachhaltigkeit<br />

sorgt der Secondhand- Gedanke, ab<br />

Herbst <strong>2022</strong> sammelt der Herrenausstatter<br />

dann für die nächste Ausgabe<br />

des „Benefit Preloved Stores“ 2023:<br />

Wer ein gut erhaltenes, gereinigtes Ladage<br />

& Oelke-Kleidungsstück abgibt,<br />

bekommt beim Kauf eines neuen Teils<br />

zehn Prozent Rabatt.<br />

Nachhaltigkeit ist Selma und<br />

Thomas Wegmann wichtig. Ladage &<br />

Oelke-Kleidung sei hochwertig, langlebig<br />

und könne repariert werden. Und<br />

die beiden wissen, wo Materialien und<br />

Kleidung produziert werden: „Wir<br />

bieten gute Produkte an.“ Das hat<br />

Tradition. Hochwertiges englisches<br />

Tuch war Grundlage für das Geschäftsmodell<br />

des 1845 gegründeten „Englischen<br />

Kleidermagazins“, mit den Wegmanns<br />

ist es in der fünften Generation<br />

familiengeführt. Selma ist die Urgroßnichte<br />

des Gründers Johann Oelke. „Ich<br />

bin im Geschäft groß geworden, habe<br />

als Kind die Inventur mitgemacht<br />

und als Schülerin in der Adventszeit<br />

Geschenke gepackt“, erinnert sich die<br />

Mode- und Designmanagerin.<br />

Selma Wegmann setzt auf die<br />

Offenheit und das soziale Engagement<br />

ihrer Kund:innen, viele hätten ihre<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Stammverkäufer:innen.<br />

Auf neue Begegnungen und Kontakte<br />

für die Verkäufer:innen freut sich auch<br />

Stephan Karrenbauer. „So können sie<br />

zeigen, dass sie viel mehr können<br />

als auf der Straße unser Magazin zu<br />

verkaufen.“ •<br />

redaktion@hinzundkunzt.de<br />

The Benefit Preloved Store:<br />

Der Ladage & Oelke Pop-up-Store<br />

startet am 21. März im Levantehaus<br />

in der Mönckebergstr. 7.<br />

Öffnungszeiten: Mo–Sa, 12–18 Uhr<br />

JA,<br />

ICH WERDE MITGLIED<br />

IM HINZ&KUNZT-<br />

FREUNDESKREIS.<br />

Damit unterstütze ich die<br />

Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />

Meine Jahresspende beträgt:<br />

60 Euro (Mindestbeitrag für<br />

Schüler:innen/Student:innen/<br />

Senior:innen)<br />

100 Euro<br />

Euro<br />

Datum, Unterschrift<br />

Ich möchte eine Bestätigung<br />

für meine Jahresspende erhalten.<br />

(Sie wird im Februar des Folgejahres zugeschickt.)<br />

Meine Adresse:<br />

Name, Vorname<br />

Straße, Nr.<br />

PLZ, Ort<br />

Telefon<br />

E-Mail<br />

Einzugsermächtigung:<br />

Ich erteile eine Ermächtigung zum<br />

Bankeinzug meiner Jahresspende.<br />

Ich zahle: halbjährlich jährlich<br />

IBAN<br />

BIC<br />

Bankinstitut<br />

Ich bin damit einverstanden, dass mein Name in<br />

der Rubrik „Dankeschön“ in einer Ausgabe des<br />

Hamburger Straßenmagazins veröffentlicht wird:<br />

Ja<br />

Nein<br />

Wir garantieren einen absolut vertraulichen<br />

Umgang mit den von Ihnen gemachten Angaben.<br />

Die übermittelten Daten werden nur zu internen<br />

Zwecken im Rahmen der Spendenverwaltung<br />

genutzt. Die Mitgliedschaft im Freundeskreis ist<br />

jederzeit kündbar. Wenn Sie keine Informationen<br />

mehr von uns bekommen möchten, können<br />

Sie jederzeit bei uns der Verwendung Ihrer<br />

personenbezogenen Daten widersprechen.<br />

Unsere Datenschutzerklärung können Sie<br />

einsehen unter www.huklink.de/datenschutz<br />

Bitte Coupon ausschneiden und senden an:<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Freundeskreis<br />

Minenstraße 9, 20099 Hamburg<br />

HK <strong>349</strong>


Haben jahrelang zusammengearbeitet:<br />

Susanne Schmidt-Haym und Arno Schmidt<br />

Richtig gemütlich<br />

Arno Schmidt vom ehemaligen Wäschehaus Möhring hat für<br />

Bettzeug und Handtücher in den Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Wohngemeinschaften gesorgt.<br />

TEXT: MISHA LEUSCHEN<br />

FOTO: IMKE LASS<br />

Weiche Kissen, warme Decken,<br />

kuschelige Bettwäsche<br />

und Handtücher – für Arno<br />

Schmidt gehört all dies zum persönlichen<br />

Wohlgefühl. Das sollten auch die<br />

Bewohner der Wohngemeinschaften im<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Haus genießen können,<br />

fand der ehemalige Geschäftsführer<br />

des Traditions-Wäschehauses Möhring<br />

und spendete dafür Bettwaren und<br />

Frottierwäsche.<br />

Dabei hatte Arno Schmidt eigentlich<br />

anderes zu tun. Nach 218 Jahren<br />

des Bestehens schloss er Ende März<br />

2021 das Wäschehaus Möhring in der<br />

Hamburger City. Mit 80 Jahren ging<br />

er in den Ruhestand. Die Abwicklung<br />

hielt ihn auf Trab. Als dann die Anfrage<br />

von Hinz&<strong>Kunzt</strong> kam, ob uns<br />

Möhring bei der Ausstattung unserer<br />

neuen Verkäuferwohnungen unterstützen<br />

könnte, war der Geschäftsmann<br />

erst einmal etwas zögerlich. „Über<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong> wusste ich wenig“, sagt er.<br />

Also machte er sich erst mal schlau.<br />

„Was ich da über das Projekt erfahren<br />

habe, hat mir gefallen.“<br />

Mit viel Euphorie mobilisierte der<br />

Kaufmann seine Fabrikant:innen, um<br />

die Ware herbeizuschaffen. Finanziert<br />

wurde die Spende aus einem Fonds, zu<br />

dem viele Partner:innen und Kundschaft<br />

beigetragen hatten. Je 24 Bettdecken<br />

und Kissen, dazu 48 Garnituren<br />

Bettwäsche aus rauchblauem Halbleinen<br />

(Bett- und Kissenbezüge sowie<br />

40<br />

Spannlaken) und 98 Stücke weiße Frottierwäsche<br />

machen nun die Zimmer<br />

und Bäder richtig gemütlich.<br />

Ein bisschen hat Arno Schmidt sein<br />

Herz an Hinz&<strong>Kunzt</strong> verloren, obwohl<br />

der Hanseat es so wohl nicht formulieren<br />

würde. „Hinz&<strong>Kunzt</strong> mit seinen<br />

vielen Projekten fasziniert mich“,<br />

sagt er und räumt ein, dass er unsere<br />

Verkäufer:innen heute mit anderen<br />

Augen sieht. Mittlerweile war er in unserem<br />

neuen Haus zu Besuch und ist<br />

begeistert von der Möglichkeit des<br />

sozialen und bezahlbaren Wohnens<br />

dort. „Und die Bettwäsche passt ausgezeichnet<br />

zu den guten Betten!“ •<br />

redaktion@hinzundkunzt.de


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Freunde<br />

Freunde des<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Hauses<br />

Seit seiner Gründung ist Hinz&<strong>Kunzt</strong> ein Projekt des Miteinanders<br />

und der Solidarität! Menschen, die uns Geld spenden, die ihre<br />

Preise für uns niedrig halten oder uns mit ihrem Know-how zur<br />

Seite stehen, haben auch die Inbetriebnahme und die<br />

Ausstattung unseres neuen Hauses in der Minenstr. 9 ermöglicht.<br />

Wir sagen: Danke!<br />

• Christa und Jeremy Bird<br />

• Beiersdorf AG<br />

• BFGF: Gerrit Kuhn und Eric Pfromm<br />

• Blindenwerkstatt<br />

H. Sieben e.K. Loccum<br />

• Mara und Holger Cassens Stiftung<br />

• Konrad Ellegast<br />

• Hamburger Spendenparlament<br />

• HASPA Lotteriesparen<br />

• HFBK: Olivia Amon, Hannes von Coler, Karolina Kaiser,<br />

Elisa Kracht mit Prof. Jezko Fezer<br />

• Antje Kay<br />

• Dr. Friederike Kerner<br />

• Sven Jösting<br />

• Sebastian Mainusch<br />

• Tim Mälzer<br />

• Gisela und Manfred Mertens<br />

• Monika Metzner<br />

• Judith Rakers<br />

• Restaurant 100/200<br />

• Hildegard und Horst Roeder-Stiftung<br />

• Stop The Water While Using Me!<br />

• Studio 6277<br />

• Wäschehaus Möhring<br />

• Daniela Wömmel<br />

Tellerdank im<br />

Vertriebscafé,<br />

gestaltet<br />

vom Hamburger<br />

Label „Herr Fuchs“.<br />

Dankeschön<br />

Wir danken allen, die uns im Februar unterstützt haben, sowie allen Mitgliedern<br />

im Freundeskreis von Hinz&<strong>Kunzt</strong>! Wir freuen uns gleichermaßen über kleine und große Beträge!<br />

Auch unseren Unterstützer:innen auf Facebook: ein großes Dankeschön!<br />

DANKESCHÖN EBENFALLS AN:<br />

• wk it services<br />

• die Hamburger Tafel<br />

• Obstmonster GmbH<br />

• Hanseatic Help<br />

• Axel Ruepp Rätselservice<br />

• die Hamburger Kunsthalle<br />

NEUE FREUNDE:<br />

• Jan Brumm • Heike Budschinski<br />

• Sabine Erbskorn • Yvonne Fritzsch und<br />

Alexander Gerd-Wiener-Stiftung<br />

• Wiebke Grünhagen • Katharina Höing<br />

• Susanne Jacobs • Martina Kroh<br />

• Volker Kühl • Tabea Künne<br />

• Constanze Lange<br />

• Edeltraut Lewitz<br />

• Louisa-Mareen Machner<br />

• Hans-Thomas Meinhold<br />

• Ingrid Schmidt<br />

• Hans-Joachim Schröder<br />

• Mathias Alfred Schulz<br />

• Moritz Vahldiek • Björn Völkel<br />

Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk<br />

41


Buh&Beifall<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />

Was unsere Leser:innen meinen<br />

„Auch viele Obdachlose sind auf Leichte Sprache angewiesen“<br />

„Grobe Fehler“<br />

H&K 348: „Idylle entlang der Bille“<br />

Der Satz „Das Haus spielt in einer Liga<br />

mit den Kurt-Schuhmacher-Bauten<br />

wie dem Chilehaus“ hat mich wirklich<br />

geärgert. Gleich zwei grobe Fehler, die<br />

mit zwei Minuten Online-Recherche<br />

vermeidbar wären. Der Architekt vom<br />

Chilehaus ist Fritz Höger, und der<br />

Architekt und Hamburger Oberbaudirektor<br />

hieß Fritz Schumacher.<br />

<br />

HARALD BOVELAND<br />

Anmerkung der Redaktion: Wir bitten vielmals<br />

um Entschuldigung, diese Flüchtigkeitsfehler<br />

hätten uns nicht passieren dürfen.<br />

„Schieflagen allen näher bringen“<br />

H&K 348, zu unserem Text in Leichter Sprache<br />

Das Ziel von Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist doch, die<br />

soziale Schieflage in Hamburg allen<br />

Personengruppen näherzubringen. Das<br />

ist nur zu erreichen, wenn alle Texte in<br />

Leichter Sprache geschrieben werden.<br />

Schließlich sind auch viele obdachund<br />

woh nungslose Menschen auf<br />

Leichte Sprache angewiesen, weil ihre<br />

Muttersprache nicht deutsch ist.<br />

<br />

OLAF STAHR, PEOPLE FIRST<br />

<br />

HAMBURG – DIE STARKEN ENGEL E.V.<br />

Begeistert<br />

H&K Sondermagazin „Tierisch gute Freunde“<br />

Als Hundebesitzer bin ich begeistert<br />

von diesem Sonderheft. KLAUS STEHR<br />

„Wirklich wichtige Themen“<br />

H&K allgemein<br />

Kompliment, dass und wie ihr die<br />

wirklich wichtigen Themen aufnehmt,<br />

kritisiert, kommuniziert und anregt.<br />

<br />

UWE GUNDLACK<br />

Leser:innenbriefe geben die Meinung der<br />

Verfasser:innen wieder, nicht die der Redaktion.<br />

Wir behalten uns vor, Briefe zu kürzen. Über Post<br />

an briefe@hinzundkunzt.de freuen wir uns.<br />

Wir trauern um<br />

Klaus Rohmeier<br />

7. Juni 1951– 11. Mai 2021<br />

Wir hatten ihn lange nicht gesehen und vermutet, was<br />

jetzt traurige Gewissheit ist: Klaus ist verstorben.<br />

Die Verkäufer:innen und das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Team<br />

Wir trauern um<br />

Petros Pedridis<br />

9. September 1968– 9. Dezember 2021<br />

Petros ist nach schwerer Krankheit verstorben. Zuletzt<br />

lebte er in einer Unterkunft und hatte einen Vollzeitjob.<br />

Die Verkäufer:innen und das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Team<br />

HAMBURGER NEBENSCHAUPLÄTZE<br />

DER ETWAS ANDERE<br />

STADTRUNDGANG<br />

Wollen Sie<br />

Hamburgs City<br />

einmal mit<br />

anderen Augen<br />

sehen? Abseits<br />

der glänzenden<br />

Fassaden zeigen wir<br />

Orte, die in keinem<br />

Reiseführer stehen:<br />

Bahnhofsmission<br />

statt Rathaus und<br />

Tagesaufenthaltsstätte<br />

statt Alster.<br />

Sie können mit<br />

unserem Stadtführer<br />

Chris zu Fuß auf<br />

Tour gehen, einzeln<br />

oder als Gruppe<br />

bis 25 Personen.<br />

Auch ein digitaler<br />

Rundgang ist<br />

möglich. Das ist fast<br />

genauso spannend.<br />

Offener Rundgang am Sonntag, 13.3. und 27.3.22, jeweils 15 Uhr<br />

Reguläre Rundgänge bequem selbst buchen unter:<br />

www.hinzundkunzt.de/stadtrundgang<br />

Digitale Rundgänge bei friederike.steiffert@hinzundkunzt.de oder<br />

Telefon: 040/32 10 84 04<br />

Kostenbeitrag: 5 Euro/10 Euro<br />

pro Person<br />

100Jahre<br />

Wenn die Welt<br />

auf einmal<br />

stillsteht.<br />

Zuverlässige und<br />

persönliche Hilfe im<br />

Trauerfall – jederzeit.<br />

Immer für Sie da.<br />

040 - 24 84 00<br />

www.gbi-hamburg.de


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Ausdauernd: Michael Mankus und Karsten Schuldt erlaufen alle Straßen und Wege Hamburgs (S. 44).<br />

Traditionell: Musikerin Norma von der Insel Föhr singt auf Friesisch und Plattdeutsch (S. 48).<br />

Unzertrennlich: Die Hinz&Künztler Edgars und Ugis helfen einander in allen Lebenslagen (S. 56).<br />

Für Shobe Mehraz aus<br />

Bangladesch ist das Surfen mehr<br />

als nur ein Sport. Es ist ihr Ticket<br />

raus aus der Armut.<br />

Der Kurzfilm „Shobe Surfs“ über<br />

die 13-Jährige läuft bei der<br />

diesjährigen Ocean Film Tour.<br />

Cinemaxx Hamburg Dammtor,<br />

Dammtordamm 1, Di, 8.3.,<br />

19.30 Uhr, 24,80 Euro (Vvk),<br />

15., 16. und 30.3., jeweils 20 Uhr,<br />

18,90 Euro (Vvk)<br />

FOTO: SAIKAT MOJUMDAR


Rund 50 Kilometer pro Woche<br />

joggt Karsten Schuldt momentan<br />

durch Hamburg.


Hamburg,<br />

wir laufen dich!<br />

Mehr als 8000 Straßen hat Hamburg zu bieten –<br />

Michael Mankus und Karsten Schuldt wollen sie alle in<br />

voller Länge ablaufen. Wie es dazu kam, was sie unterwegs<br />

erleben und: die spannendste Straße der Stadt!<br />

TEXT: JOCHEN HARBERG<br />

FOTOS: DMITRIJ LELTSCHUK, LARSSCHNEIDER.COM


Eigentlich dachte Michael,<br />

er könne Hamburg in drei, vier<br />

Jahren ablaufen. Mittlerweile sieht<br />

er es eher als Lebensaufgabe.<br />

In den vergangenen Wochen mussten<br />

beide ungewollt die Füße<br />

hochlegen. Karsten machte die<br />

rechte Achillessehne zu schaffen,<br />

nachdem er Anfang des Jahres noch<br />

Bramfeld abgehakt hatte – als Nächstes<br />

steht Farmsen-Berne auf seinem Zettel.<br />

Und Michael hatte Anfang Februar einen<br />

positiven Coronatest. Das Ziel ist<br />

dennoch an visiert, zumindest für Karsten:<br />

„Ich denke, bis Ende nächsten Jahres<br />

müsste ich es schaffen.“ Sprich:<br />

wirklich jede der 8659 Straßen, Plätze<br />

und Brücken Hamburgs – so die offizielle<br />

Angabe der Stadt – persönlich und<br />

in voller Länge abgelaufen zu haben!<br />

Es ist ein wunderbar verrücktes<br />

Projekt, dem Karsten Schuldt (56) aus<br />

Wilhelmsburg und Michael Mankus (51)<br />

aus St. Pauli einen Gutteil ihrer letzten<br />

46<br />

Laufjahre gewidmet haben – und weiter<br />

widmen werden. #everysinglestreet – so<br />

hatte es Michael vor drei Jahren aus<br />

Kalifornien mitbekommen. Ein Läufer<br />

hatte dort Ende 2018 tatsächlich alle<br />

Straßen San Franciscos abgelaufen,<br />

mehr als 1300 Meilen in sagenhaften<br />

46 Tagen. Seitdem wird dieser Hashtag<br />

in der Runner-Community global gefeiert<br />

und nachgeahmt. Karsten wiederum<br />

hatte als Leiter der Wilhelmsburger<br />

Laufgruppe „Inselrunners“ (die vor ihm<br />

übrigens ein gewisser Michael Mankus<br />

leitete) schon etwas früher die Idee, mit<br />

seiner Gang alle Straßen ihres Heimatstadtteils<br />

abzugrasen. Da man als<br />

Dauerläufer eh ständig auf der Suche<br />

nach dem Kick fürs nächste Training<br />

ist, stellte er sich anschließend die<br />

Sinnfrage: Warum nicht die ganze<br />

Stadt?<br />

Denn, so sagt Michael augenzwinkernd:<br />

„Menschen wie Karsten und ich


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

laufen ja, weil es sein muss – und nicht<br />

wie andere aus Versehen!“<br />

So sind die zwei – und Michael hat<br />

noch von vier anderen Läufern mit<br />

ähnlichem Vorhaben gehört – nun unabhängig<br />

voneinander unterwegs, um<br />

rund 4000 Kilometer städtisches Straßennetz<br />

auf eigenen Füßen zu erleben.<br />

Nein, nicht mit einem täglichen Marathon<br />

wie damals in San Francisco jener<br />

besessene Rickey Gates. In Hamburg<br />

will gut Ding Weile haben. Also laufen<br />

beide bis heute so, wie es sich in das<br />

normale Leben eines Werktätigen integrieren<br />

lässt. Karsten, der bei einem<br />

Software-Hersteller in Barmbek beschäftigt<br />

ist, ist meist am Wochenende<br />

on the run. Und Michael, der nicht nur<br />

in einem Lauf- und Triathlon-Laden<br />

arbeitet, sondern auch als Lauftrainer<br />

sowie auf 450-Euro-Basis als Buchhalter<br />

für ein Plattengeschäft, nutzt gerne<br />

mal wochentags die Vormittage für seine<br />

Hamburg-Exkursionen. Die abgelaufenen<br />

Straßen protokollieren beide<br />

auf entsprechenden Portalen im Internet<br />

– Michael bei citystrides.com, das<br />

auch auf seinem Instagram-Account<br />

verlinkt ist („Da kann sich jeder alles<br />

an gucken.“), Karsten bei „uMap“ von<br />

„OpenStreetMap“.<br />

Neugierig tauschen sich die beiden<br />

aus, als wir sie zum Gespräch bitten.<br />

Denn der Hamburg-Lauf ist ja per se<br />

ein einsames Geschäft. „Manchmal ist<br />

es schon eine richtig dumme Idee“, antwortet<br />

Michael grinsend auf die Frage,<br />

ob man das Projekt denn auch schon<br />

mal heimlich verflucht habe: „Ich dachte,<br />

für ganz Hamburg brauche ich vielleicht<br />

drei, vier Jahre. Inzwischen betrachte<br />

ich es eher als Lebensaufgabe!“<br />

Er, der schon Ultra-Marathons in den<br />

USA gelaufen ist, schrubbt normal um<br />

die 100 Kilometer pro Woche, aber beileibe<br />

nicht nur fürs City-Projekt. Ebensowenig<br />

wie Karsten, der derzeit rund<br />

50 Kilometer pro Woche läuft und<br />

die Stadteroberung inzwischen „als<br />

Mischung aus Pflicht und Genuss“ empfindet.<br />

Beide treibt zwar durchaus der<br />

Ehrgeiz, als Erster über die Ganz-Hamburg-Ziellinie<br />

zu laufen – beide verfolgen<br />

das aber keineswegs manisch.<br />

„Waaaaas, so weit bist du schon?“, entfährt<br />

es Michael, als Karsten preisgibt,<br />

dass er „87 von 104 Stadtteilen komplett<br />

hat“ und damit bereits bei rund<br />

85 Prozent Planerfüllung angekommen<br />

ist. „Da kann ich ja gleich aufhören“,<br />

jammert Michael spontan im Scherz –<br />

wohl wissend, dass seine Läuferehre das<br />

niemals zulassen wird: Er steht derzeit<br />

bei etwa 43 Prozent.<br />

Denn, das betonen beide, man bekomme<br />

definitiv ein anderes Lebensgefühl<br />

beim Erobern der eigenen Heimat<br />

im Laufschritt: „Die Vielfalt der Stadt<br />

ist schon krass“, sagt Michael. Plötzlich<br />

ein tolles Reetdachhaus und altes<br />

Kopfsteinpflaster mitten in Fischbek<br />

(Karsten). Die Nase-hoch-Leute in Eppendorf,<br />

die nie Platz machen (Michael).<br />

Der Lauf frühmorgens durch die<br />

Herbertstraße (Karsten). Die fast immer<br />

grüßenden Obdachlosen (Michael).<br />

Die zwei Kilometer langen Sackgassen<br />

in den Marschlanden, die vielen<br />

SUVs in Lemsahl-Duvenstedt (Karsten).<br />

Ewig könnten sie erzählen – und<br />

sind sich doch in einem total einig:<br />

„Komplett anders als alles, was ich<br />

sonst in Hamburg gesehen habe“,<br />

staunt Michael, „das ganze Ambiente<br />

Das Ziel immer vor Augen:<br />

Auf einer Straßenkarte und digital auf<br />

umap.openstreetmap.fr vermerkt<br />

Karsten, welche der 8659 Hamburger<br />

Straßen er bereits abgelaufen hat.<br />

47<br />

da mit den afrikanischen Garküchen<br />

und dem arabischen Business!“ „Aber<br />

auch die riesigen Warenlager und<br />

Geschäfte sind echt abgefahren“, bestätigt<br />

Karsten. Die überraschendste und<br />

spannendste Straße der Stadt also für<br />

beide: die zweieinhalb Kilometer lange<br />

Billstraße in Rothenburgsort – hier hat<br />

Hamburg einen Lauf! •<br />

redaktion@hinzundkunzt.de


Musikerin Norma bleibt<br />

ihrer friesischen Heimat<br />

auch in Hamburg treu.<br />

Mutmachlieder<br />

auf Platt<br />

Die Musikerin Norma ist auf der Insel Föhr aufgewachsen.<br />

Ihre Lieder singt sie auch auf Friesisch und Plattdeutsch –<br />

entgegen gut gemeinter Karrieretipps.<br />

A<br />

uf Föhr leben 8592 Menschen<br />

und 11.000 Kühe. Vor<br />

dem Rathaus des Hauptortes<br />

Wyk steht ein Brunnen<br />

mit versteinerten Seehunden, auf den<br />

Friedhöfen der Insel kann man auf<br />

Grabsteinen ganze Lebensgeschichten<br />

nachlesen. Hobby-Sängerin:innen haben<br />

die Auswahl zwischen drei Insel-<br />

TEXT: SIMONE DECKNER<br />

FOTO OBEN: ANDREAS HORNOFF<br />

Chören. Norma Schulz, geboren 1987,<br />

hat bei allen dreien mitgesungen. Es<br />

existieren Fotos von ihr als Vierjährige,<br />

wie sie bei der „Föhrer Mini Playback<br />

Show“ auftritt. Sie hat sowohl in Schüler-<br />

als auch in Lehrerbands gespielt, bei<br />

Auftritten wurde sie schon mal von dem<br />

Herrn Pastor an der Gitarre begleitet.<br />

Von ihrem Konfirmationsgeld kaufte<br />

48<br />

sich Norma ein E-Piano. Für ihren ersten<br />

Konzertbesuch musste sie lange bei<br />

den Eltern betteln: In Flensburg spielte<br />

die Kelly Family. Von Föhr aus ist das eine<br />

halbe Tagesreise.<br />

„Dadurch, dass ich als Kind nicht<br />

viele Konzerte besucht habe, war mein<br />

Bild von Popmusik sehr geprägt von<br />

den Medien. Ich hatte im Kopf: Ich


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

FOTOS: LORNZ LORENZEN/NDR 2<br />

singe irgendwann auch auf Englisch.<br />

Das macht man so“, erinnert sich Norma.<br />

Es ist die Zeit der weiblichen Popstars:<br />

Britney Spears und Christina<br />

Aguilera sind in den Charts, im Radio<br />

laufen Sarah Connor und die No<br />

Angels. Dass sie das Singen ernsthaft<br />

betreiben will, daran besteht für Norma<br />

kein Zweifel. 2005, mit 17 Jahren,<br />

bricht sie die Schule ab und geht nach<br />

Hamburg, wo sie die Aufnahmeprüfung<br />

an einer privaten Musikschule bestanden<br />

hat. Ihr Eltern sagen, wenn es mit<br />

der Musik nicht klappt, könne sie ja immer<br />

noch zurückkommen auf die Insel.<br />

Norma tut alles dafür, dass es klappt.<br />

Fast jeden Tag in der Woche singt sie<br />

auf einer anderen Open Stage, bei denen<br />

Musiker:innen spontan und ohne<br />

Gage auftreten können („Ich habe alles<br />

mitgenommen.“), tagsüber kellnert sie,<br />

um ihr Studium zu finanzieren.<br />

Sie schreibt und singt jetzt ihre eigenen<br />

Songs, nicht auf Englisch, sondern<br />

auf Deutsch, genauer: auf Hochdeutsch,<br />

Plattdeutsch und Friesisch, ihrer Muttersprache<br />

von der Insel. „Friesisch fühlt<br />

sich wie Zuhause an“, sagt sie – ob sie es<br />

nun bei Heimatbesuchen schnackt oder<br />

auf einem Konzert singt: „Im Publikum<br />

sitzen vielleicht ein oder zwei Personen,<br />

die das auch sprechen können, und<br />

freuen sich. Man fühlt sich irgendwie<br />

anders verbunden.“<br />

Aber: Erst kürzlich wurde Norma<br />

wieder gefragt, ob sie denn nicht ausschließlich<br />

auf Deutsch singen wolle,<br />

also auf Hochdeutsch. „Ich werde ständig<br />

davor gewarnt, auf Plattdeutsch zu<br />

singen“, sagt die 35-Jährige und lacht.<br />

Man erreiche doch zu wenige Menschen<br />

damit, es verstehe ja kaum jemand! Der<br />

Einwand überzeugt sie nicht: „Klar,<br />

man verringert das Publikum, aber das<br />

ist ja beim Deutschen ähnlich, im Vergleich<br />

zum Englischen.“ Und wenn die<br />

Kritik stimmen würde, wie erklärt sich<br />

dann der Erfolg von in Mundart singenden<br />

Musiker:innen wie BAP, La Brass<br />

Banda oder Sophie Hunger?<br />

Ende März veröffentlicht Norma<br />

ihre neue EP „Op bald“. Der Name ist<br />

Programm. „Es sind Popsongs, nur auf<br />

Plattdeutsch. Ich habe versucht, Mutmachlieder<br />

zu schreiben. Ich glaube, in<br />

solchen Zeiten kann man das irgendwie<br />

Mit Popsongs auf Platt<br />

und Friesisch hat sich<br />

Norma eine treue<br />

Fan gemeinde aufgebaut.<br />

gebrauchen“, findet sie. In einem Lied<br />

erinnert sie sich daran, wie alles anfing,<br />

damals auf Föhr: „Un ik weet noch genau<br />

weer dat Radio an / Wat heff ik<br />

dröömt ik loop dor Iigendwann / Mit<br />

de Hoorböst in’e Hand sung’n / Vor de<br />

Spiegel in mien lütte Ruum so fung dat<br />

an / Dat is mien Weg.“ •<br />

redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Neues Album:<br />

„Op bald“ erscheint am Fr, 25.3.,<br />

auf Normamusik.<br />

Mehr Infos: www.normamusik.de


Kult<br />

Tipps für den<br />

Monat März:<br />

Mit neuen Erlebnissen<br />

die Sinne schärfen<br />

Diskussion und Kunst<br />

Wozu brauchen wir Zukunft?<br />

Wenn sich die Autorin Emma Braslavsky<br />

mit dem Filmkritiker Knut Elstermann<br />

unterhält, dann geht es um<br />

nicht weniger als die Zukunft. Und um<br />

eine kreative Annäherung an Fragen<br />

nach der Geschlechtlichkeit von intelligenten<br />

Maschinen oder dem Zeitem p­<br />

Eishöhle 1963: Unsere Zukunft ist übermorgen schon Vergangenheit.<br />

finden von Künstlicher Intelligenz.<br />

Ein spannendes Gesprächspaar: Sie<br />

beschreibt in ihren Romanen Zukunftsszenarien,<br />

er ist Fachmann für Science-<br />

Fiction-Filme aus der DDR. Die beiden<br />

treffen sich zum Talk parallel zur Ausstellung<br />

„Futura. Vermessung der Zeit“,<br />

50<br />

die noch bis zum 10. April in der Kunsthalle<br />

zu sehen ist. Die Gelegenheit, sich<br />

die Ausstellung aktiv zu erschließen! •<br />

Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall 5,<br />

Sonderveranstaltung „Utopie Zukunft“ am<br />

Do, 3.3., 19 Uhr, Eintritt 14/8 Euro, bis<br />

25 Jahre frei, www.hamburger-kunsthalle.de


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Ein choreografierter<br />

Spaziergang<br />

durch den<br />

Alten Elbtunnel<br />

Ferienprogramm<br />

Let it be diversity<br />

Unter diesem Motto steht die Filmprojektwoche<br />

für Kinder ab elf Jahren:<br />

Ein praktischer Einblick in die<br />

Welt des Filmens und gleichzeitig<br />

eine Auseinandersetzung mit der Frage,<br />

was Vorurteile, Vielfalt und Menschenrechte<br />

mit Kino zu tun haben. •<br />

Altonaer Museum, Museumstraße 23,<br />

Mo, 7.3., bis Fr, 11.3., 11 bis 15 Uhr,<br />

kostenlos, Infos: www.shmh.de,<br />

Anmeldung: hallo@bettermakers.de<br />

FOTOS: FOTOARCHIV BOGOMIR ECKER (S. 50), DESPINA CHARITONIDI (S. 51 OBEN), MARCUS MAY (S. 51 UNTEN)<br />

Ausstellung<br />

Veränderte Wahrnehmung<br />

Was ist Realität? Wie wir unsere Umgebung wahrnehmen, hängt ganz davon<br />

ab, wie wir uns bewegen, schnell oder langsam, und wie viel Aufmerksamkeit wir<br />

ihr schenken. Wenn wir langsam im Gänsemarsch laufen, nehmen wir Details auf.<br />

Wenn wir auf dem Rad durch den Alten Elbtunnel rasen, rauschen die gekachelten<br />

Wände wie im Flug vorbei. Objektivität ist reinste Illusion. Im Rahmen des<br />

Art Off des Hamburger Kultursommers im vergangenen August lud Künstlerin<br />

Sabine Siegfried zum choreografierten Spaziergang ein, bei dem die Teilnehmer:innen<br />

diesen „Perspektivwechsel“ fotografisch festhielten. Die Bilder sind nun<br />

als Collage, Zeichnungen und Video im Galerie-Club der Neustadt zu sehen. •<br />

Westwerk e. V., Admiralitätsstraße 74, Do, 3.3., ab 15 Uhr bis Sa, 5.3.,<br />

Fr und Sa jeweils 14–19 Uhr, der Eintritt ist frei, www.westwerk.org<br />

Musikalischer Findungsprozess<br />

Bünger, Müller & Klinger<br />

Bünger ist mal mit, mal ohne seinen Vornamen Sven seit Jahrzehnten von Hamburg<br />

aus in der deutschen Musikszene unterwegs. Ob bei den wundervollen Cul tured<br />

Pearls, als Gründer und Gitarrist der Soulounge, als Produzent zahlloser Acts von<br />

Madsen über Ulrich Tukur bis<br />

Phil Siemers. Doch für jeden ist<br />

es mal an der Zeit, sich neu zu<br />

erfinden, befand Sven und setzte<br />

sich im Trio mit Nina Müller als<br />

Co-Texterin und Christoph<br />

Klinger als Pianist und minimalistischem<br />

Arrangeur an ein neues<br />

Album: „Angst ist nur ’ne Illusion“<br />

heißt es, ist meist reduziert<br />

auf Gesang und Klavier, und<br />

Büngers kräftig samtene Stimme<br />

nimmt unser Herz im Sturm.<br />

Ein berührend nahbares Album<br />

in feinster<br />

Singer-Songwriter-Tradition! •<br />

Angst ist nur ’ne Illusion erscheint am<br />

Fr, 4.3., auf www.buengermusik.de<br />

Bünger geht’s nicht darum,<br />

besonders gut auszusehen – sagt er.<br />

Tanz<br />

TanzHochDrei<br />

Ein Festival des zeitgenössischen<br />

Tanzes: die diesjährigen Residenzchoreograf:innen<br />

Gloria Höckner,<br />

Venetsiana Kalampaliki und Clarissa<br />

Sacchelli zeigen ihre Arbeiten. •<br />

Kampnagel, Jarrestraße 20,<br />

von Do, 24.3., bis So, 3.4., live,<br />

Eintritt 15 Euro, vom 20.4. bis 24.4.<br />

im Stream, www.k3-hamburg.de<br />

Lesung und Gespräch<br />

Ljudmila Ulitzkaja<br />

2020 wurde die russische Schriftstellerin<br />

mit dem Siegfried Lenz<br />

Preis ausgezeichnet. Wortgewaltige<br />

Romane über die Tragödie des<br />

20. Jahrhunderts, der Epoche der<br />

Gewaltherrschaft und des Genozids<br />

verbinden Religiöses und Poltitisches.<br />

Ihr jüngstes Werk: die Erzählungen<br />

„Alissa kauft ihren Tod“. •<br />

Freie Akademie der Künste, Klosterwall<br />

23, Di, 22.3., 19 Uhr, Eintritt 15/10 Euro,<br />

www.akademie-der-kuenste.de<br />

Familie<br />

Babykonzert<br />

Die Musikpädagogin Juliane Giese<br />

und das CANEA Quartett spielen<br />

eingängige Werke von Mozart, Bach<br />

und Haydn für Babys und Geschwisterchen<br />

bis 18 Monate, Eltern, Großeltern,<br />

Schwangere und werdende<br />

Väter. Live oder digital als Stream. •<br />

Sasel-Haus e. V., Saseler Parkweg 3,<br />

Fr, 25.3., 16 Uhr, Eintritt 7,50 Euro,<br />

www.sasel-haus.de<br />

51


Musik<br />

The boys are back<br />

Im Januar 2019 legten die Jeremy Days<br />

in den ausverkauften Docks ein Konzert<br />

hin, als wäre zuvor nicht ganze 24 Jahre<br />

Funkstille gewesen. Nicht nur für die<br />

Fans war dieser Abend ein hochemotionales<br />

Ereignis. Über zwei Jahrzehnte<br />

herrschte Schweigen zwischen Frontmann<br />

Dirk Darmstaedter, Jörn Heilbut,<br />

Louis C. Oberlander und Stefan Rager.<br />

Auf einmal aber war er wieder da, der<br />

positive Vibe, der ihnen einst Hits<br />

wie „Brand New Toy“ beschert hatte.<br />

Energien wie diese muss man nutzen:<br />

Am 25. März erscheint das erste gemeinsame<br />

Album seit 27 Jahren. „Beauty<br />

in Broken“ lautet der Titel. „There’s<br />

a sense. There’s a beauty in broken“<br />

heißt es in der ersten, gleichnamigen<br />

Singleauskopplung. Die perfekte Zeile<br />

für diese coronazerfurchten Zeiten.<br />

Coverfoto des neuen Albums der Jeremy Days<br />

Irgendwo muss sich doch ein Sinn,<br />

etwas Schönes in alldem verbergen.<br />

Musik könnte da ein guter Ansatz sein.<br />

Derzeit plant die Band fleißig Konzerttermine,<br />

heißt es. Freuen wir uns auf<br />

ein baldiges Wiedersehen live und in<br />

Farbe – mit neuen und alten Songs! •<br />

The Jeremy Days, Beauty in Broken, VÖ:<br />

Fr, 25.3, Vinyl, CD und digital, Circushead<br />

Records, www.thejeremydays.com<br />

52


<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

Kinofilm des Monats<br />

Leid und<br />

Schönheit<br />

FOTOS: LOUIS C. OBERLANDER (S. 52), ARCHÄOLOGISCHES MUSEUM HAMBURG/<br />

ILLUSTRATION ROLAND WARZECHA (S. 53 OBEN), ERICH HEEDER (S. 53 UNTEN), PRIVAT<br />

Hamburgs Burgen-<br />

Filme in Bewegung<br />

Historie trifft „Macbeth“<br />

Mobiles Kino<br />

Das „Flexible Flimmern“ inszeniert Kino als Einheit von Filmsujet und Raum.<br />

Die unterschiedlichsten Hamburger Orte werden so zum Kinosaal. Zur Sonderausstellung<br />

„Burgen in Hamburg – Eine Spurensuche“ können Filmfans nicht<br />

nur in die Hamburger Stadtgeschichte eintauchen, sondern im Anschluss den<br />

Film „Macbeth“ (2015) mit Marion Cotillard und Michael Fassbender erleben.<br />

Archäologisches Museum Hamburg, Museumsplatz 2, Di, 15.3., Mi, 16.3., Filmbeginn<br />

•<br />

20 Uhr, Eintritt 12/10 Euro, Anmelden bei reservierungen@flexiblesflimmern.de<br />

Ausstellung<br />

Bewegt<br />

Stadtteilkünstler Erich Heeder bringt<br />

zum Ausdruck, was ihn bewegt, und<br />

er findet dafür immer wieder neue<br />

künstlerische Formen. Seine Werke<br />

sind vielseitig und spannungsgeladen,<br />

sind sozial, politisch, universell. Unter<br />

dem Titel „Was bewegt?“ präsentiert<br />

der Hinz&Künztler seine Bilder. •<br />

Auferstehungskirche Lohbrügge,<br />

Kurt-Adams-Platz 9, Vernissage:<br />

So, 27.3., 18 Uhr, bis Fr, 20.5.,<br />

Öffnungszeiten: Mo, 16–19 Uhr,<br />

Mi, 9–11 Uhr, Fr, 12–14 Uhr,<br />

Eintritt frei, www.kap-kirche.de<br />

Hörsalon<br />

Die dunkle Seite<br />

Woher kommt das Böse, das wir<br />

scheinbar alle in uns tragen? Alexander<br />

Solloch, NDR Kultur, spricht<br />

darüber mit Diplom-Psychologin<br />

und Autorin Lydia Benecke und den<br />

Schriftstellern Michael Köhlmeier<br />

und Volker Kutscher. Das Gespräch<br />

wird aufgezeichnet und am 24. April<br />

in der Sendung „Sonntagsstudio“<br />

ausgestrahlt. Wer schneller lauschen<br />

will, kann die Veranstaltung beim<br />

Hörsalon im Bucerius Kunst Forum<br />

live mitverfolgen. •<br />

Bucerius Kunst Forum, Alter Wall 12,<br />

Di, 29.3., 19 Uhr, Eintritt frei, Anmeldung<br />

unter www.buceriuskunstforum.de<br />

Über Tipps für April freuen sich<br />

Simone Rickert und Regine Marxen.<br />

Bitte bis zum 10.3. schicken an:<br />

kult@hinzundkunzt.de<br />

Frühling! Gute Laune! Vogelgezwitscher,<br />

Lust auf Seichtes<br />

statt Wintergrau! Da will<br />

uns diese Kolumne ausgerechnet<br />

zu einem Film über<br />

Machtmissbrauch, Leid und<br />

Zwangsprostitution ins Kino<br />

locken? Geht’s noch? Klar!<br />

Denn die Doku „Was tun“ ist<br />

ein 73-minütiges erzählerisches<br />

Meisterwerk über die<br />

Kraft der Selbstwirksamkeit.<br />

Am Anfang steht ein Videoschnipsel.<br />

In einer Dokumentation<br />

fragt eine Kinderprostituierte<br />

aus Bangladesch,<br />

ob es für Frauen einen anderen<br />

Weg als den des Leidens<br />

gäbe. Diese Szene sieht der<br />

Dokumentarfilmstudent Michael<br />

Kranz. Sie wirkt lange<br />

in ihm nach, und er fragt sich,<br />

ob er helfen kann. Und sei es<br />

nur dieser einen 15-Jährigen.<br />

Er fliegt nach Bangladesch,<br />

trifft dort Frauen und<br />

Mädchen, die wie Eigentum<br />

behandelt werden. Er spricht<br />

mit Opfern und Tätern und<br />

hält bei allem Leid und der<br />

vermeintlichen Ausweglosigkeit<br />

herzliche und glückliche<br />

Momente in farbenfrohen<br />

Filmbildern fest, die ganz anders<br />

wirken, als man es zu<br />

diesem Thema erwartet hat.<br />

Und er schafft es, durch<br />

einen Spendenaufruf genug<br />

Geld für die Gründung eines<br />

Heims für die Kinder aus den<br />

Bordellen zu sammeln.<br />

Es bleibt eine Erkenntnis:<br />

Ein Einzelner kann die Welt<br />

nicht retten. Wenn wir sie<br />

aber für einige Menschen weniger<br />

grau machen, ist das<br />

wie ein kleiner Frühling. •<br />

André Schmidt<br />

geht seit<br />

Jahren für uns<br />

ins Kino.<br />

Er arbeitet in der<br />

PR-Branche.<br />

53


Leselounge<br />

#5<br />

<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />

Auf ein Getränk mit …<br />

Simone Buchholz<br />

Die Autorin erzählt unserer<br />

Kolumnistin Nefeli Kavouras vom<br />

Amt des Parlamentarischen Poeten.<br />

Wir stolpern aus der Walrus Bar, Simone<br />

Buchholz und ich verabschieden<br />

uns voneinander. Mir klebt Zigarettennebel<br />

im Haar, ich schmecke die Bittersüße<br />

des Gins und die fruchtige<br />

Orangennote auf der Zunge. Ich laufe<br />

auf die hellen Lichter der Reeperbahn<br />

zu, in mir pocht das Gefühl, nicht nur<br />

etwas Großes machen zu wollen, sondern<br />

es auch zu können.<br />

Vielleicht hat sich die Krimiautorin<br />

Simone Buchholz so gefühlt, als sie die<br />

Idee entworfen hat, dass im Bundestag<br />

ein:e Poet:in arbeiten solle.<br />

Ich treffe also Stunden zuvor Simone<br />

Buchholz auf einen Gin Tonic – das<br />

Getränk, das schon von vielen großen<br />

Frauen als perfekt deklariert wurde<br />

(Queen Elisabeth II., Amy Winehouse –<br />

FOTOS: IMKE LASS<br />

und jetzt auch Simone Buchholz). Sie<br />

erzählt mir, wie sie von dem Gedanken<br />

angetan war, dass ein:e Autor:in im<br />

Bundestag sitzt, alles mitbekommt, und<br />

darüber für die Öffentlichkeit schreibt.<br />

Wobei sie sich das Amt des Parlamentarischen<br />

Poeten nicht selbst ausgedacht<br />

hat. Auf der Frankfurter Buchmesse<br />

2021 lernte sie die amtierende Parlamentarische<br />

Poetin Kanadas kennen,<br />

und Simone fand: So was brauchen wir<br />

auch! Sie teilt diese Idee mit den<br />

Autor:innen Mithu Sanyal und Dmitrij<br />

Kapitelman. Gemeinsam verfassen sie<br />

einen Artikel, der Anfang des Jahres in<br />

der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht<br />

wurde.<br />

„Wenn man was bewegen will,<br />

muss man auch sein Gesicht zeigen und<br />

sich in den Stachel der Öffentlichkeit<br />

werfen. Und das war ganz schön krass“,<br />

erzählt mir Simone. Es gibt keine größere<br />

Zeitung, die nicht auf den Vorschlag<br />

eines Parlamentspoeten reagiert,<br />

häufig schreiben sie, es gäbe Wichtigeres,<br />

in das der Bundestag zu investieren<br />

hat. Simone entgegnet: „Warum können<br />

wir nicht inmitten von Krisen sein<br />

und uns trotzdem gleichzeitig darum<br />

kümmern, dass diese Krisen in lebendiger<br />

Sprache bewältigt werden? Seit<br />

Beginn der Menschheit erzählen wir<br />

einan der am Feuer Geschichten, das<br />

gehört doch dazu.“<br />

Wenn Simone erzählt, wirkt es, als<br />

säße man mit ihr am Lagerfeuer. Es ist<br />

unmöglich, sich nicht begeistern zu lassen<br />

von den Funken, die sie in die Welt<br />

werfen möchte. Ich kühle mich mit einem<br />

Schluck ab und frage, wen sie sich<br />

in diesem Amt vorstellen kann. Ihre<br />

Antwort überrascht mich: „Haftbefehl.<br />

Denn er ist ein trauriger Rapper und<br />

traurige Rapper sind kluge Rapper.“<br />

Simone erklärt, wie Literatur eine<br />

Intervention gegenüber der Politik sein<br />

kann: „Wir Autoren können dort hingehen,<br />

wo es wehtut. Das kann die<br />

Politik nicht leisten, weil sie auf Konsens<br />

angelegt ist. Aber wir haben die<br />

Fähigkeit, nicht den Kompromiss, sondern<br />

die Ränder zu erzählen.“<br />

Die Geräusche um uns herum werden<br />

lauter, unsere Gläser leeren sich.<br />

Wir verlassen die Bar, die frische Luft<br />

tut gut und ich frage mich, welchen<br />

Coup Simone wohl als Nächstes in die<br />

Welt werfen wird. •<br />

Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Literaturtipp:<br />

„Abteilung für irre<br />

Theorien“ von Tom<br />

Gauld. Seit Beginn<br />

der Pandemie<br />

kann sich Simone<br />

nicht mehr so gut<br />

auf Romane konzentrieren, aber diese<br />

Cartoons gehen wirklich immer.<br />

54


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Rätsel<br />

Hafen auf<br />

Honshu<br />

(Japan)<br />

Modetanz<br />

anders,<br />

sonst<br />

auch<br />

genannt<br />

US-Schauspieler<br />

(Will)<br />

Stadt in<br />

Niedersachsen<br />

Fragewort<br />

(4. Fall)<br />

spanischer<br />

Frauenname<br />

Party im<br />

Freien<br />

Luftgeist<br />

bei<br />

Shakespeare<br />

Halbton<br />

über C<br />

Bewohner<br />

eines dt.<br />

Bundeslandes<br />

4<br />

1<br />

1<br />

1<br />

7<br />

8<br />

5<br />

4<br />

Stadt<br />

an der<br />

Schlei<br />

hinter,<br />

folgend<br />

2<br />

2<br />

1<br />

5<br />

9<br />

3<br />

Seemannsruf<br />

Rockaufschlag<br />

Tierschau<br />

3<br />

3<br />

2<br />

5<br />

6<br />

8<br />

7<br />

kurzes<br />

Gewehr<br />

6<br />

englisch:<br />

Kuss<br />

9<br />

8<br />

6<br />

3<br />

7<br />

4<br />

3<br />

5<br />

6<br />

1<br />

8<br />

anrüchig,<br />

verdächtig<br />

süßer<br />

Schnaps<br />

5<br />

8<br />

6<br />

7<br />

2<br />

1<br />

Handelsbrauch,<br />

Gewohnheit<br />

Wurfpfeilspiel<br />

(engl.)<br />

Kindertagesheim<br />

umgangssprachlich:<br />

Kuss<br />

Stadt<br />

in Westfalen<br />

griechischer<br />

Buchstabe<br />

umgangssprachlich:<br />

Alte<br />

AR0909-1219_1sudoku<br />

Erste,<br />

Führende<br />

(Sport)<br />

Futterpflanze<br />

hebräisch:<br />

Sohn<br />

griech.<br />

Göttin<br />

der Morgenröte<br />

verlockende<br />

Wirkung<br />

süddt.<br />

Kurzform<br />

von:<br />

Josef<br />

Hauptstadt<br />

in<br />

Nordeuropa<br />

altgriechische<br />

Grabsäule<br />

voller<br />

kleiner<br />

Unebenheiten<br />

Bildungsinstitut<br />

(Abk.)<br />

umgangssprachl.:<br />

Einfaltspinsel<br />

Wandmalerei<br />

internationales<br />

Notsignal<br />

kleine,<br />

strichartige<br />

Vertiefung<br />

pointierte<br />

Kurzgeschichte<br />

lateinisch:<br />

innen,<br />

inwendig<br />

Gegenteil<br />

von:<br />

Kontra<br />

Füllen Sie das Gitter<br />

so aus, dass die Zahlen<br />

von 1 bis 9 nur je einmal<br />

in jeder Reihe, in jeder<br />

Spalte und in jedem<br />

Neun-Kästchen-Block<br />

vorkommen.<br />

Als Lösung schicken<br />

Sie uns bitte die farbig<br />

gerahmte, unterste<br />

Zahlenreihe.<br />

Lösungen an: Hinz&<strong>Kunzt</strong>, Minenstraße 9, 20099 Hamburg,<br />

per Fax an 040 32 10 83 50 oder per E-Mail an info@hinzundkunzt.de.<br />

Einsendeschluss: 28. März <strong>2022</strong>. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />

Wer die korrekte Lösung für eines der beiden Rätsel einsendet,<br />

kann zwei Karten für die Hamburger Kunsthalle gewinnen oder<br />

einen von drei Hamburg-Krimis „Als die Flut kam“ von Kathrin Hanke<br />

(Gmeiner-Verlag).<br />

Das Lösungswort des Februar-Kreuzwort rätsels war: Raumfaehre.<br />

Die Sudoku-Zahlenreihe lautete: 936 852 741.<br />

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12191 – raetselservice.de<br />

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Impressum<br />

Redaktion und Verlag<br />

Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH<br />

Minenstraße 9, 20099 Hamburg<br />

Tel. 040 32 10 83 11, Fax 040 32 10 83 50<br />

Anzeigenleitung Tel. 040 32 10 84 01<br />

E-Mail info@hinzundkunzt.de, www.hinzundkunzt.de<br />

Herausgeber<br />

Landespastor Dirk Ahrens, Diakonisches Werk Hamburg<br />

Externer Beirat<br />

Prof. Dr. Harald Ansen (Armutsexperte HAW-Hamburg),<br />

Mathias Bach (Kaufmann), Dr. Marius Hoßbach (Korten Rechtsanwälte AG),<br />

Olaf Köhnke (Ringdrei Media Network),<br />

Karin Schmalriede (ehemals Lawaetz-Stiftung, i.R.),<br />

Dr. Bernd-Georg Spies (Spies PPP),<br />

Alexander Unverzagt (Medienanwalt), Oliver Wurm (Medienberater)<br />

Geschäftsführung Jörn Sturm<br />

Redaktion Annette Woywode (abi, CvD; V.i.S.d.P. für den Titel,<br />

Gut&Schön, den Finanzschwerpunkt, Freunde, Buh&Beifall, <strong>Kunzt</strong>&Kult)<br />

Jonas Füllner (jof, V.i.S.d.P. für das Stadtgespräch)<br />

Lukas Gilbert (lg, V.i.S.d.P. für die Momentaufnahme),<br />

Ulrich Jonas (ujo, V.i.S.d.P. für die Zahlen des Monats und<br />

die Auslandsreportage), Benjamin Laufer (bela),<br />

Simone Deckner (sim), Kirsten Haake (haa), Jochen Harberg (joc),<br />

Nefeli Kavouras (mnk), Misha Leuschen (leu),<br />

Regine Marxen (rem), Simone Rickert (sr)<br />

Online-Redaktion Benjamin Laufer (CvD), Jonas Füllner, Lukas Gilbert<br />

Korrektorat Christine Mildner, Kerstin Weber<br />

Redaktionsassistenz Cedric Horbach,<br />

Sonja Conrad, Anja Steinfurth<br />

Artdirektion grafikdeerns.de<br />

Öffentlichkeitsarbeit Sybille Arendt, Friederike Steiffert<br />

Anzeigenleitung Sybille Arendt<br />

Anzeigenvertretung Gerald Müller,<br />

Wahring & Company, Tel. 040 284 09 418, g.mueller@wahring.de<br />

Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 27 vom 1. Januar <strong>2022</strong><br />

Vertrieb Christian Hagen (Leitung), Gabor Domokos,<br />

Meike Lehmann, Sergej Machov, Frank Nawatzki,<br />

Sigi Pachan, Reiner Rümke, Marcel Stein,<br />

Eugenia Streche, Cornelia Tanase, Silvia Zahn<br />

Spendenmarketing Gabriele Koch<br />

Spendenverwaltung/Rechnungswesen Susanne Wehde<br />

Sozialarbeit Stephan Karrenbauer (Leitung), Jonas Gengnagel,<br />

Isabel Kohler, Irina Mortoiu<br />

Das Stadtrundgang-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />

Chris Schlapp<br />

Das BrotRetter-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />

Stefan Calin, Fred Houschka, Mandy Schulz<br />

Das Team von Spende Dein Pfand am Airport Hamburg<br />

Stephan Karrenbauer (Leitung), Uwe Tröger,<br />

Klaus Peterstorfer, Herbert Kosecki<br />

Litho PX2 Hamburg GmbH & Co. KG<br />

Produktion Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH<br />

Druck und Verarbeitung A. Beig Druckerei und Verlag,<br />

Damm 9–15, 25421 Pinneberg<br />

QR Code ist ein eingetragenes Warenzeichen von Denso Wave Incorporated<br />

Leichte Sprache capito Hamburg, www.capito-hamburg.de<br />

Spendenkonto Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

IBAN: DE56 2005 0550 1280 1678 73<br />

BIC: HASPDEHHXXX<br />

Die Hinz&<strong>Kunzt</strong> gGmbH mit Sitz in Hamburg ist durch den aktuellen<br />

Freistellungsbescheid bzw. nach der Anlage zum Körperschaftssteuerbescheid<br />

des Finanzamts Hamburg-Nord, Steuernummer 17/414/00797,<br />

vom 15.3.2021 für das Jahr 2019 nach § 5 Abs.1 Nr. 9 des Körperschaftssteuergesetzes<br />

von der Körperschaftssteuer und nach<br />

§ 3 Nr. 6 des Gewerbesteuergesetzes von der Gewerbesteuer befreit.<br />

Geldspenden sind steuerlich nach §10 EStG abzugsfähig. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist als<br />

gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH im Handelsregister beim<br />

Amtsgericht Hamburg HRB 59669 eingetragen.<br />

Wir bestätigen, dass wir Spenden nur für die Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

einsetzen. Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte<br />

weitergegeben. Beachten Sie unsere Datenschutzerklärung, abrufbar auf<br />

www.hinzundkunzt.de. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist ein unabhängiges soziales Projekt, das<br />

obdachlosen und ehemals obdachlosen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe bietet.<br />

Das Magazin wird von Journalist:innen geschrieben, Wohnungslose und<br />

ehemals Wohnungslose verkaufen es auf der Straße. Sozialarbeiter*innen<br />

unterstützen die Verkäufer:innen.<br />

Das Projekt versteht sich als Lobby für Arme.<br />

Gesellschafter<br />

Durchschnittliche monatliche<br />

Druckauflage 4. 1. Quartal 2021: <strong>2022</strong>:<br />

72.333 55.333 Exemplare<br />

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Zu zweit durchs Leben<br />

Die beiden Exil-Letten Ugis und Edgars lernten sich bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> kennen<br />

und schätzen. Heute unterstützen sich die Freunde, wo immer es geht.<br />

TEXT: LUKAS GILBERT<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE


Momentaufnahme<br />

L<br />

angsam schiebt Edgars seinen<br />

Freund Ugis im Rollstuhl<br />

an tristen Industrieflächen<br />

im Freihafen vorbei. Mit ausgestrecktem<br />

Arm zeigt er auf ein in die<br />

Jahre gekommenes Klinkergebäude<br />

hinter einer grauen Flutschutzmauer.<br />

Edgars erklärt auf Lettisch: „Da ist das<br />

Hotel. Da ganz oben rechts, hinter den<br />

grünen Vorhängen, hat er gewohnt“,<br />

dolmetscht Ugis in gebrochenem<br />

Deutsch. Mehrere Jahre verbrachte<br />

Edgars in der Absteige. Zuvor war er<br />

obdachlos.<br />

Edgars und Ugis stammen aus Lettland.<br />

Kennen und schätzen gelernt<br />

haben sich die beiden bei Hinz&<strong>Kunzt</strong>:<br />

„Wir sind super Freunde. Wir helfen uns!<br />

Edgars hofft auf<br />

gute Gesundheit<br />

für sich und<br />

seinen Freund.<br />

Ugis (links) und Edgars auf dem<br />

Hof vor Edgars ehemaligem Zuhause<br />

im Hamburger Freihafen<br />

Wir verbringen die Tage zusammen“,<br />

sagt Ugis. Er ist seit einiger Zeit auf<br />

Hilfe angewiesen: „Meine Gesundheit<br />

ist richtig kaputt“, sagt er. Bauchspeicheldrüse,<br />

Diabetes, vier OPs am Magen,<br />

zuletzt an der Bandscheibe. Schuld<br />

sei neben harter körperlicher Arbeit vor<br />

allem der Alkohol: „Auf der Straße habe<br />

ich jeden Tag zwei Flaschen Wodka<br />

getrunken. Allein.“ Zumindest allein ist<br />

der 53-Jährige nicht mehr, seit er Edgars<br />

gefunden hat.<br />

Der kam während des Wehrdienstes<br />

zum Alkohol. Dennoch hatte er sein<br />

Leben damals in Lettland im Griff und<br />

fand einen Job als Fassadenmaler. Er<br />

heiratete, das junge Ehepaar bekam<br />

Kinder. Doch wegen der Trinkerei<br />

trennte sich seine Frau von ihm. Nach<br />

dem Zusammenbruch der Sowjetunion<br />

sei dann die Auftragslage immer<br />

57


Edgars (links) und Ugis sind auf dem Weg zum „Hotel“, in dem Edgars in den vergangenen Jahren seine Nächte verbracht hat.<br />

Neuerdings muss er nicht mehr in dem Backsteinbau (im Hintergrund zu sehen) schlafen. Er hat eine Wohnung gefunden.<br />

schlechter geworden, erzählt der heute<br />

54-Jährige. Edgars Arbeitswege wurden<br />

länger, die Auftraggeber dubioser. Der<br />

Alkohol immer mehr.<br />

Vor elf Jahren nahm er einen Auftrag<br />

in Hamburg an. Zwei Monate habe<br />

er gearbeitet, das Geld dafür aber nicht<br />

bekommen: „Ich wurde verarscht.“<br />

Ohne Geld und ohne Perspektive in der<br />

Heimat fand Edgars sich so auf der<br />

Straße und schließlich bei Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />

wieder.<br />

„Sowjetunion war auf einmal weg,<br />

dann ging Scheiße los“, so erinnert sich<br />

auch Ugis. Weil er keinen Job fand, baute<br />

er sich einen kleinen Hof auf und<br />

verkaufte Holz: „Ich war fast ein reicher<br />

Mann.“ Doch dann sei er von Kriminellen<br />

vertrieben worden, die auch noch<br />

regelmäßig Geld forderten. „Mafia“,<br />

sagt Ugis nur. Er verließ das<br />

Land und landete in Hamburg,<br />

wo er sich mit Gelegenheitsjobs<br />

über Wasser hielt. Was ihm fehlte:<br />

eine Wohnung. Erst schlief er bei<br />

Bekannten, doch irgendwann<br />

landete er auf der Straße, wo er<br />

schließlich von Hinz&<strong>Kunzt</strong> hörte.<br />

„Ohne Hinz&<strong>Kunzt</strong> weiß ich nicht,<br />

was ich machen würde heute“,<br />

sagt er: „Mit Becher stehen an der<br />

S traße wahrscheinlich.“<br />

Ugis war es auch, der damals vom<br />

Zimmer im Freihafen erfuhr. Er selbst<br />

hatte kurz zuvor eine kleine Wohnung in<br />

Harburg gefunden, dachte aber sofort<br />

an seinen Freund Edgars. Wenige Meter<br />

neben dem „Hotel“, das eigentlich ein<br />

Bürogebäude ist, donnern Güterzüge<br />

vorbei. Auf dem Hof stapeln sich Seecontainer,<br />

Lastwagen rangieren über<br />

den Parkplatz. „Richtig laut, Katastrophe<br />

ist das, du kannst die ganze Nacht<br />

nicht schlafen“, ruft Ugis durch den<br />

Lärm. Seit einigen Monaten muss sein<br />

Freund das hier nicht mehr versuchen.<br />

Er hat eine Wohnung gefunden. „Richtig,<br />

richtig Glück“, sei das gewesen, sagt<br />

Edgars, Ugis und alle anderen Hinz&Künztler:innen erkennt man am Verkaufsausweis.<br />

5223<br />

Edgars. „Jetzt endlich eine Wohnung zu<br />

haben – das ist ein Traum.“<br />

In seiner freien Zeit besucht er seinen<br />

Freund Ugis. Kocht ihm Essen<br />

und hilft im Haushalt. Große Wünsche<br />

haben die beiden nicht. Edgars hofft<br />

vor allem auf gute Gesundheit für sich<br />

und für seinen Freund. „Ich glaube<br />

nicht, dass es mir körperlich noch mal<br />

besser gehen wird“, sagt Ugis. „Aber<br />

ich hoffe zumindest, dass es nicht<br />

schlimmer wird.“ In einigen Tagen<br />

steht mal wieder eine OP für den<br />

53-Jährigen an. Sein Freund Edgars<br />

klopft ihm auf die Schulter und grinst<br />

ermutigend: „Wird gut!“ •<br />

lukas.gilbert@hinzundkunzt.de<br />

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KUNZT-<br />

KOLLEKTION<br />

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