Buch der Gefühle (Leseprobe)

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Sie glauben nie, dass sie alles wissen: Sie hören zu und beobachten, lernen und können staunen, sind neugierig und interessieren sich für Neues. Sie hören nie auf, das Talent und das Können anderer anzuerkennen, und schätzen die Beiträge von kompetenteren oder erfahreneren Menschen. Die Erfolge, das Lob, sogar der Applaus steigen ihnen nicht zu Kopf. Sie wissen, dass Berühmtheit, Bekanntheit und Lobhudelei nicht bedeuten, besser zu sein. Zur täglichen Bescheidenheit gehört also immer auch die Höflichkeit: Bisweilen behandeln diejenigen, die in einem Bereich erfolgreich sind, andere anmaßend. Sie fühlen sich überlegen und sind davon überzeugt, dass sie niemanden mehr brauchen. Hochmut und Bescheidenheit passen aber nicht zusammen. Der große Wissenschaftler aber kann bescheiden sein, nachdem er den Nobelpreis bekommen hat, und macht sich wieder an die Arbeit. Die Künstlerin kehrt nach einer großen internationalen Ausstellung in ihr Atelier zurück und beginnt mit der gleichen Begeisterung wie zuvor mit einem neuen Kunstwerk. Auch ein Kaiser kann bescheiden sein, und das ist kein Widerspruch, selbst wenn es so scheint. Der Betreffende war Mark Aurel, der den Titel im Jahr 161 nach Christus erhielt und ihn bis zu seinem Tod im Jahr 180 trug. Er war ein aufgeklärter Gesetzgeber, ein fähiger Feldherr und Philosoph. Knapp zwanzig Jahre war er die wichtigste Person seiner Zeit: Er hatte die gesamte Welt unter und niemanden über sich. Schwer zu glauben, dass er die Wesensart der Bescheidenheit besaß und sie auch praktizierte! Dennoch scheint es, dass Mark Aurel nackt auf dem Boden schlief, einfache Mahlzeiten zu sich nahm, seinen Freunden treu war und mit echter Dankbarkeit Ratschläge und Empfehlungen annahm. Er war also mächtig und bescheiden. In seinen Selbstbetrachtungen, einer Art philosophisches Tagebuch, schrieb der Kaiser, dass er von seinen Eltern und seinen Lehrern viele wertvolle Dinge geerbt hätte: die Ruhe und die Höflichkeit, die Zurückhaltung und die Standhaftigkeit, die Hilfsbereitschaft gegenüber den Freunden, die Toleranz für die, die nicht studiert haben oder sich unbegründet eine Meinung bilden, das gute Zusammenleben mit allen. Aber nicht nur: »Der Ruf und das 40
Andenken, in welchem mein Vater steht, predigen mir Bescheidenheit und männliches Wesen. […] Von den Dingen, die zur Annehmlichkeit des Lebens beitragen – und deren bot ihm das Glück eine Menge dar – machte er ohne zu prunken, aber auch ohne sich zu entschuldigen Gebrauch, so daß er, was da war, einfach nahm, was nicht da war, auch nicht entbehrte.« Es ist überliefert, dass diese Überlegungen nicht nur gute Vorsätze waren, sondern auch seine Art, den Alltag zu leben. Damit unterschied sich Mark Aurel sehr von den Gewohnheiten seines Nachfolgers, dem Kaiser Commodus, der, wenig bescheiden, als gnadenlos und tyrannisch in die Geschichte einging. Eine der vielen Anekdoten über Mark Aurel besagt, dass, wenn er durch die Straßen von Rom zog und von der Menge bejubelt und beklatscht wurde, er einen Diener an der Seite hatte, der ihm hin und wieder ins Ohr flüsterte: »Bedenke, du bist nur ein Mensch.«
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