Buch der Gefühle (Leseprobe)

volle Botschaft, die entschlüsselt werden musste. Zum Beispiel sagte sie: »Ich
zähle die Sandkörner und messe das Meer …« oder »Jetzt stehen deine Standbilder
und verströmen Schweiß.« Dann fragten sich alle, was sie damit meinte,
und meistens suchte sich jeder die Deutung aus, die ihm am besten passte.
Viele hundert Jahre später, am Ende des 18. Jahrhunderts, schrieb der
deutsche Philosoph Immanuel Kant, etwas Kritisches gegen den Enthusiasmus:
Das wäre zu viel Aufregung und maßlose Energie, man würde in seiner
Begeisterung ja gar nicht mehr vernünftig denken können, wie es sich gehört.
Wo kämen wir denn da hin!
Dem gegenüber hielten später viele Denker den Enthusiasmus für eine
kreative Kraft. Er stoße zum Handeln, Fühlen und Dichten an. Und genauso
können wir ihn heute betrachten: Enthusiasten fixieren sich nicht fanatisch
auf eine möglicherweise gefährliche Idee, sondern befassen sich leidenschaftlich
mit anderen Menschen und der Welt.
Das Gefühl des Enthusiasmus‘, der Begeisterung, trägt immer auch Hoffnung
in sich. So stecken in ihm auch Freude, Fröhlichkeit, Optimismus
und ein positiver Charakter. Natürlich kann ein Hindernis die Begeisterung
dämpfen oder gar vertreiben, aber normalerweise haben enthusiastische
Menschen immer eine Reserve.
Denken wir zum Beispiel an Pollyanna, ein Mädchen, das über einen fast
unerschöpflichen Enthusiasmus verfügt. Sie ist die Heldin von zwei amerikanischen
Kinderbüchern, die Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen sind.
Dabei hätte Pollyanna gar keinen Grund, glücklich zu sein: Sie hat als kleines
Kind ihre Mutter verloren und jetzt auch noch den Vater. Sie wird zu einer
einsamen und verbitterten Tante in eine große Villa nach Boston geschickt.
Obwohl es dort viele große Zimmer gibt, bringt die Tante sie in einer kleinen
Kammer auf dem Dachboden unter. Es gibt keine Spiegel (zum Glück, sagt
Pollyanna, so muss ich nicht jeden Tag meine Sommersprossen sehen) und
auch keine Bilder (das macht nichts, denn durch die Fenster sieht sie viel
schönere Dinge als auf jedem Bild). Wenn sie zu spät zum Essen kommt, wird
sie zur Strafe in die Küche geschickt, um dort mit der Haushälterin Nancy
Brot und Milch zu essen (aber das Mädchen ist froh darüber, denn sie mag
Milch und Brot und Nancy findet sie nett).
Pollyanna stellt sich allem mit einem lebendigen, energischen Enthusiasmus.
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