Buch der Gefühle (Leseprobe)

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wachsenenalter erreichen, weil sie sich damit nicht haben vertraut machen können. So schreibt Raffaele Simone ganz richtig: »Die kognitiven Informationstechnologien sind eine drastische Form der De-Realisation«, bei der die Nutzer den Kontakt mit der Realität verlieren, weil im virtuellen Raum die Wirklichkeit durch ihre Simulation ersetzt worden ist. Als Folge der Isolation, die durch die Beziehung des Einzelnen zum Computer einsetzte, griffen die Digital Natives zuerst auf die Smileys, eine bestimmte Abfolge von Zeichen, die die Emotionen stilisieren, dann auf die Emojis zurück, jene runden Gesichter, die Gefühlszustände und Befindlichkeiten darstellen. Diese Tendenz, Schrift durch Emoticons zu ersetzen, scheint mir die offensichtlichste Form der Rückkehr in die erste Phase der Menschheitsgeschichte zu sein, als die Menschen durch Felsmalerei und Skulpturen kommunizierten. Sie ist zudem eine Rückkehr in die erste Phase unseres Lebens, wenn es stimmt, dass Emoticons schon von Kindern verstanden werden, die noch nicht schreiben können. Auf die Nutzung der Emoticons wird während des Heranwachsens nicht mehr verzichtet. Ein Gesicht stellt Traurigkeit dar, ein anderes Freude, noch eines Wut, wieder eines Langeweile oder Gleichgültigkeit: So werden in einer schon fast zwanghaften Reihung die eigenen Gefühle nach außen getragen. Und wenn die Emojis nicht mehr genügend ausdrucksstark erscheinen, greifen die Digital Natives auf Sprachnachrichten und Selfies zurück. Denn mittlerweile scheint es, dass sie Mühe haben, ihre eigenen Gefühle und Emotionen zu beschreiben, nicht nur gegenüber anderen, sondern auch gegenüber sich selbst. Dabei haben sie ein immenses Bedürfnis, ihre Gefühle mitzuteilen und auszudrücken. Aber ist all diese Zwanghaftigkeit in der Kommunikation über virtuelle Kanäle, neben dem oben beschriebenen De-Realisationsprozess, nicht auch ein Symptom der De-Sozialisierung aufgrund der vermehrten Einsamkeit derjenigen, die ausschließlich im Internet leben, arbeiten und kommunizieren? Tatsächlich kann pro Computer nur eine Person interagieren. Doch wenn es stimmt, dass wir über das Internet Freunde in Amerika oder Australien finden können, so fragt man sich, wie tief diese Freundschaften im Vergleich zu denen gehen, die man in einer realen Gemeinschaft, in der Nach- 22
arschaft, der Schule oder der Kneipe schließen kann, die nun der virtuellen Community geopfert werden. Was wird aus den sozialen Kompetenzen unserer Kinder? Welche Folgen hat das in Bezug auf Einsamkeit, Depression oder Schüchternheit? Wie wirken sich ihre Schwierigkeiten im persönlichen Kontakt mit anderen aus, wenn sie nicht nur hören, was andere sagen, sondern auch ihre Gefühle, die Qualität dieser Gefühle und ganz allgemein die Körpersprache miterleben? Denn all dies vermittelt sich nicht über Worte und auch nicht über digitale Bilder, sondern nur über den realen Körper, der eine Identität zum Ausdruck bringt. Das lässt sich von keiner Website herunterladen. Um sich und die eigenen Gefühle wirklich ausdrücken zu können, müssen Jugendliche komplexere Situationen durchleben als die, die das Netz ihnen bietet. Sie müssen vielfältigere Landschaften durchqueren und verstehen lernen. Sie müssen verschlungenere Wege gehen, statt nur auf Datenautobahnen zu surfen, die scheinbar genau dafür gebaut wurden, Nutzern nur das zu zeigen, was andere für sie vorgesehen haben. Denn um komplexe Situationen und Landschaften beschreiben zu können, reichen keine Emoticons aus, dafür brauchen wir alle Buchstaben des Alphabets. Ich will das Netz nicht zensieren. Es hat Kommunikations- und Beziehungsmöglichkeiten geschaffen, die bis vor kurzem noch undenkbar waren. Ich möchte vielmehr davor warnen, dass das Netz unsere Kinder von ihren Gefühlen und Emotionen entfremden kann. Diese werden dort durch Pseudo-Emotionen bei jenen ersetzt, die unbemerkt und unwissentlich die reale Welt für eine nicht-reale Welt aufgeben. 23
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