Buch der Gefühle (Leseprobe)

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keit – in den sozialen Netzwerken teilen, weil sie sich dort treffen und so reale Begegnungen ersetzen. Diese Prägung geschieht sowohl beim Onlinespiel als auch beim Beschimpfen und Bedrohen von Gleichaltrigen, dem sogenannten Cybermobbing, ebenso beim Sexting, wenn der eigene Körper in Fotos und Videos gezeigt wird, nur um wenigstens ein Minimum an narzisstischer Belohnung zu erheischen. Sie kann zur Entwicklung von Hikikomori führen, also Jugendliche hervorbringen, die sich aus der realen Welt vollkommen zurückziehen und sich in ihren Zimmern einschließen. Diese Menschen stehen nur mit der virtuellen Welt in Kontakt, aus der sie ein gewisses Maß an Trost ziehen, um ihre Ängste zu betäuben. Tragisch wird es, wenn die Heranwachsenden als Opfer eines jugendlichen Bedürfnisses auf TikTok Kraft und Mut beweisen wollen in Challenges, die von anderen Usern auf der Plattform geteilt werden, und dabei den Tod riskieren. Aber so weit müssen wir gar nicht gehen. Schon die Chats können die Gefühle der Jugendlichen verfälschen. Bei dieser Kommunikationsart können sie sich tatsächlich so darstellen, wie sie gern wären: schön, intelligent, faszinierend. So kompensieren sie in der virtuellen Welt alle Frustrationen, denen sie in der realen Welt ausgeliefert sind. Die Möglichkeit, unbeschadet lügen zu können, erweckt in ihnen Gefühle von Allmacht und unbegrenzter Freiheit, die typisch für die Kindheit sind. Findet nach dem Chatten ein echtes Treffen statt, so kann das die Jugendlichen enttäuschen, wenn die Wirklichkeit der Selbstdarstellung im Chat widerspricht. Dann zerbricht der Traum, und die Enttäuschung holt sie gnadenlos in die Realität zurück. Doch nicht nur deswegen gehen sich chattende Jugendliche aus dem Weg. Wenn nur das Virtuelle das bietet, was die Realität ihnen nicht liefern kann, machen sie es sich eben im Virtuellen gemütlich und verringern reale Kontakte mit der echten Welt. 20
10. Wie die neuen Technologien die Gefühle unserer Kinder belasten Im Verlauf der kulturellen Entwicklung der Menschheit, können wir von einer ersten Phase sprechen: In prähistorischer Zeit fanden unsere Vorfahren mithilfe von Höhlenmalerei und Steinskulpturen eine Art, ihre Gedanken, Gefühle und ihre Vision der Welt auszudrücken, die uns heute allgemein, vage, global und holistisch erscheint. Mit der Erfindung der Schrift beginnt eine zweite Phase, die dadurch charakterisiert wird, dass die bildliche Vision der Welt durch die Fähigkeit ersetzt wird, Bedeutung in eine lineare Reihe von Symbolen zu übersetzen. Wenn ich beispielsweise das Wort »Hund« lese, so haben die grafische und klangliche Form des Wortes nichts mit dem Tier an sich zu tun. Vielmehr stellt die Entschlüsselung des alphabetischen Kodes eine geistige Leistung dar, die für die Betrachtung von Bildern nicht erforderlich ist. Seit dieser Erfindung hat unsere Art zu denken eine radikale Veränderung durchgemacht: Von holistisch und global ist sie analytisch, strukturiert und sequenziell geworden. Die Entwicklung der Sprache garantierte eine Verbreitung der Kultur, die mit den vorherigen Werkzeugen nicht denkbar gewesen wäre. Doch die Digital Natives von heute, die den virtuellen Raum der Sozialen Netzwerke den realen Räumen vorziehen, leben ihre Gefühle lieber aus und spüren sie, als sie diskursiven Strukturen anzuvertrauen, wie es die großen Romanciers vor der Digitalisierung machten. Denn für die Heranwachsenden drückt sich die wahre und authentische Wirklichkeit nicht in gesprochenen oder geschriebenen Sätzen aus, sondern in absoluten Gefühlen, so wie die Musik sie beispielsweise liefern kann. An diesem Punkt stellt sich die Frage: Wie verändern sich die Gefühle unserer Kinder in der digitalen Welt, in der Raum und Zeit aufgehoben sind und die Gefahr läuft, die wertvollsten Aspekte der »physischen« Realität zu Gunsten der »virtuellen« auszulöschen? Das alles geschieht genau in dem Alter, in dem die Jugendlichen notwendigerweise den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Traum, zwischen Fantasie und Wunsch lernen müssen. Doch stattdessen wird die Jugendzeit hinausgezögert, sodass die jungen Menschen schließlich nicht mehr anpassungsfähig sind, sobald sie das Er- 21
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