Restauro 2/2022
Museen der Zukunft
Museen der Zukunft
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Magazin zur Erhaltung des Kulturerbes<br />
N O 2<br />
<strong>2022</strong><br />
Museum der Zukunft<br />
Museen setzen auf<br />
Megatrend Immersion<br />
FORSCHUNG<br />
Stuckfragmente aus<br />
dem Mittelalter<br />
KULTURZERSTÖRUNG<br />
Eine Geschichte der Vernichtung des<br />
Kulturerbes von Hermann Parzinger<br />
AUSBILDUNG<br />
Wanja Wedekind über<br />
Hochschulentwicklungen
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EDITORIAL<br />
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Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
die Museen sind geöffnet, der Kulturbetrieb arbeitet fleißig an der Rückkehr zur Normalität.<br />
Aber was sollten die Institutionen heute leisten? Wie sollte es aussehen, das Museum der Zukunft?<br />
Wie müssen das analoge Erleben und das digitale Erfahren gedacht werden, um die<br />
Auseinandersetzung mit den Objekten zu fördern? Und ist die klimaneutrale Zukunft zu erreichen?<br />
Das ist ein großes Thema im Film, auf Theaterbühnen und in Museen. Doch wie gehen<br />
die Kulturschaffenden selbst mit den Herausforderungen um? Was tun sie, um ihren ökologischen<br />
Fußabdruck zu reduzieren? Der Weg zum „Grünen Museum“ zumindest nimmt zunehmend<br />
konkretere Züge an. Der Deutsche Museumsbund will <strong>2022</strong> einen Nachhaltigkeitskodex<br />
erarbeiten, 2023 soll der Entwurf eines Zertifizierungsmodells für Museen und deren Träger<br />
vorliegen. Für einen „Green New Deal“ setzt sich auch das von der Staatsministerin für<br />
Kultur und Medien geförderte Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit ein. Die Initiative begleitet in<br />
einem Pilotprojekt 16 Kulturinstitutionen in Nordrhein-Westfalen bei der Nutzung eines CO2-<br />
Rechners sowie der Erstellung von Klimabilanzen. Die Einrichtungen sollen dadurch erkennen,<br />
wo Emissionsquellen liegen und wie Gegenmaßnahmen aussehen können. 2019 wurde<br />
in Österreich die wachsende Bewegung Museums For Future gegründet wurde. Denn<br />
Museumsmacher:innen, Restaurator:innen, Künstler:innen und Architekt:innen fragen sich:<br />
Wie kann man eine Haltung einnehmen, um auf die Herausforderungen der Zukunft zu reagieren?<br />
Erfahren Sie mehr ab Seite 8.<br />
2021 war das Jahr der Schließungsankündigungen: Es begann mit dem Leibniz-Forschungsinstitut<br />
für Archäologie am Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz. Das kündigte<br />
die Schließung des dualen Bachelor-Studiengangs „Archäologische Restaurierung“ an. Es<br />
folgte die Botschaft, dass die Ausbildung von Metallrestauratoren am Studiengang Konservierung/Restaurierung<br />
an der Fachhochschule Potsdam bereits zum Wintersemester<br />
2021/<strong>2022</strong> eingestellt wird. Zum Jahresende gab dann die Fachhochschule Erfurt bekannt,<br />
dass die gesamte Restauratorenausbildung eingestellt wird. Im Interview mit RESTAURO<br />
spricht der promovierte Steinrestaurator Wanja Wedekind über verpasste Entwicklungen an<br />
den Hochschulen und neue Studiengänge in den Restaurierungswissenschaften (Seite 30).<br />
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hoch<br />
Außerdem möchten wir Sie auf die Ausstellung „Venedig. La Serenissima“ in der Pinakothek<br />
der Moderne in München aufmerksam machen. Die Schau zeigt Zeichnungen und Druckgraphiken<br />
venezianischer Maler aus vier Jahrhunderten. Die ausgestellten Arbeiten stammen<br />
aus dem Bestand der Staatlichen Graphischen Sammlung München und bieten einen eindrucksvollen<br />
Einblick in die venezianische Kunst (Seite 58).<br />
Wir wünschen Ihnen viel Freude mit dieser Ausgabe und bleiben Sie gesund!<br />
Ihre RESTAURO-Redaktion<br />
Folgen Sie uns auf Facebook – www.facebook.com/restauro – und bleiben Sie auf dem<br />
Laufenden.<br />
2/<strong>2022</strong><br />
3
INHALT<br />
MUSEUM DER ZUKUNFT<br />
8 Museum For Future – höchste Zeit für einen Museumswandel<br />
2019 wurde in Österreich die wachsende Bewegung Museums For Future<br />
gegründet. Mit dabei: Museumsmacher:innen, Restaurator:innen,<br />
Künstler:innen und Architekt:innen<br />
12 Der sinnlichen Erfahrung Raum geben<br />
Werden Museumsführungen durch KI oder selbstlernende Algorithmen<br />
abgelöst? Ein Interview mit Laura Heeg von der Schirn Kunsthalle Frankfurt<br />
Die Einsicht, dass Wachstum Probleme wie den Klimawandel<br />
nicht lösen kann, hat die Institution Museum erreicht<br />
15 Digitale Transformation im Museum<br />
Interview mit Dr. Wolfgang Muchitsch, Präsident des Museumsbundes<br />
Österreich und Geschäftsführer des Universalmuseums Joanneum (Graz)<br />
16 Musikvideos im Weltkulturerbe<br />
In der Völklinger Hütte taucht man in die Welt der Musikvideos ein: Mit dem<br />
Multimediaguide von tonwelt ergeben Bild und Ton ein symbiotisches Ganzes<br />
20 Social Media für Restaurator:innen<br />
Facebook, Instagram, Twitter, Linkedin und TikTok – welche Kanäle eignen sich<br />
besonders, um restauratorische Leistungen sichtbarer zu machen?<br />
22 Wie inszeniert man Exponate auf einer digitalen Bühne?<br />
Das Museum als digital erweiterter Lern- und Erlebnisort: Gespräch mit<br />
Dr. Heiko Schmid (Zürcher Hochschule der Künste / Hochschule Luzern)<br />
ART HANDLING<br />
Wie wandelt sich aktuell das Verständnis der Kunst-<br />
vermittlung und welche Perspektiven sind zukunftsfähig?<br />
24 Revolution im Kunsttransport<br />
Bei Piet Mondrians „Evolution“ wurde eine neue Verpackungsmethode angewendet:<br />
Sie ist auf die Dämpfung von Schwingungen und Stößen ausgerichtet<br />
RAHMEN<br />
Beachtlicher Fundus: Bei Werner Murrer in München findet<br />
man 2.500 Originalrahmen aus verschiedenen Epochen<br />
Untersuchung der einzigartigen mittelalterliche Stuckfragmente<br />
aus der ehemaligen Klosterkirche in Gerbstedt<br />
26 Im Rahmen der Zeit<br />
In seinem Münchner Atelier rahmte Werner Murrer schon manches Meisterwerk<br />
der Kunstgeschichte: Bild und Rahmen sind dabei immer „unzertrennlich“<br />
BERUF<br />
30 „Das ist Stagnation!“<br />
Wanja Wedekind spricht im Interview über verpasste Entwicklungen an den<br />
Hochschulen und neue Studiengänge in den Restaurierungswissenschaften<br />
KULTURERBE<br />
34 Puzzle mit vielen fehlenden Steinen und Steinchen<br />
Einzigartige mittelalterliche Stuckfragmente aus der ehemaligen<br />
Klosterkirche in Gerbstedt im Vorharz wurden in Halle erforscht<br />
38 Wo Kunst ist, wird Kunst zerstört<br />
Prof. Dr. Hermann Parzinger (Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz)<br />
schreibt eine Geschichte der Vernichtung des Kulturerbes. Eine Rezension<br />
46 Neuer Aufbaustudiengang „Denkmalschutz kompakt“ in Weimar<br />
Die Bauhaus Weiterbildungsakademie Weimar e.V. hat mit der Bauhaus-Universität<br />
Weimar das einsemestrige berufsbegleitende Studium entwickelt<br />
Fotos (v. o. n. u.): © http://museumsforfuture.org; Werner Murrer, München; Schirn Kunsthalle Frankfurt; Landesamt<br />
für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Juraj Lipták<br />
4<br />
2/<strong>2022</strong>
EILEEN GRAYS VILLA E-1027<br />
42 Restaurierung einer Architektur-Ikone<br />
2021 wurde an der Côte d‘Azur das langjährige Restaurierungsprojekt<br />
zu Eileen Grays Villa E-1027 abgeschlossen<br />
PORTRÄT<br />
54 „Wir ergänzen uns perfekt“<br />
Durch Offenheit und Neugier hat es Vergolder Benjamin<br />
Franck geschafft, eine florierende Firma aufzubauen<br />
AUSSTELLUNG<br />
58 Venedig in München<br />
Die Ausstellung „Venedig. La Serenissima“ in der Pinakothek<br />
der Moderne in München: Zeichnungen und Druckgraphiken<br />
venezianischer Maler aus vier Jahrhunderten<br />
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Methylhydroxyethylcellulose<br />
wird als Klebstoff, Bindemittel<br />
und natürliches<br />
Verdickungsmittel verwendet.<br />
RUBRIKEN<br />
6 KUNSTSTÜCK<br />
Dem Forschungsteam des Rijksmuseum (Amsterdam) gelang<br />
es, mit Rembrandts „Nachtwache“ das bisher größte<br />
digitale Bild eines Kunstwerks überhaupt zu erstellen<br />
64 TERMINE<br />
64 Impressum<br />
65 Vorschau<br />
66 WAS BEWEGT?<br />
Iris Schäfer, leitende Restauratorin am „Wallraf-Richartz-<br />
Museum & Fondation Corboud“ in Köln<br />
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Cover<br />
Noch bis zum Oktober <strong>2022</strong> ist in der restaurierten Gebläsehalle, die 1994 als<br />
erstes Industriedenkmal zum UNESCO-Weltkulturerbe gekürt wurde, die Ausstellung<br />
„The World of Music Video“ zu sehen. Gezeigt werden bekannte, historische<br />
und aktuelle Musikvideos: Der Multimediaguide des Berliner Unternehmens<br />
tonwelt ermöglicht, dass Bild und Ton ein symbiotisches Ganzes ergeben:<br />
lippensynchron und automatisch ausgelöst (ab Seite 16).<br />
#63642<br />
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Foto: © Tom Gundelwein / Weltkulturerbe Völklinger Hütte<br />
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2/<strong>2022</strong><br />
5
MUSEUM DER ZUKUNFT<br />
1 2<br />
3<br />
Museum For Future – höchste Zeit<br />
für einen Museumswandel<br />
2019 wurde in Österreich die wachsende Bewegung Museums For Future gegründet. Denn<br />
Museumsmacher:innen, Restaurator:innen, Künstler:innen und Architekt:innen fragen sich: Wie kann man<br />
eine Haltung einnehmen, um auf die Herausforderungen der Zukunft zu reagieren? Restauratorin Anna Krez<br />
hat die deutsche Ortsgruppe Museums For Future Germany im Mai 2021 initiiert<br />
1–3<br />
Aktivismus auf der<br />
Straße: Das Netzwerk<br />
Museums for Future<br />
unterstützt die Klimastreiks,<br />
diskutiert<br />
öffentlich die Folgen<br />
der Klimakrise und<br />
versucht, Maßnahmen<br />
zur Klimaneutralität<br />
umzusetzen: von<br />
grünen Energiequellen<br />
oder kürzeren<br />
Transportwegen bis<br />
hin zu ausstellungsspezifischen<br />
Fragestellungen<br />
Die Einsicht, dass Wachstum Probleme wie<br />
den Klimawandel nicht lösen kann, hat die Institution<br />
Museum längst erreicht. Trotzdem<br />
gelten viele Häuser immer noch als wenig<br />
ökologisch. Doch ein Umdenken hat bereits<br />
eingesetzt. Museumsmacher:innen,<br />
Restaurator:innen, Künstler:innen und<br />
Architekt:innen fragen sich: Wie kann man eine<br />
Haltung einnehmen, um auf die Herausforderungen<br />
der Zukunft zu reagieren? Für ein<br />
solches Ziel kämpft die wachsende Bewegung<br />
Museums For Future, die 2019 in Österreich<br />
gegründet wurde.<br />
Vorbildlich agiert bereits das Berliner Museum<br />
für Naturkunde, das seine Renovierung<br />
am Leitbild eines „Grünen Museums“ orientiert.<br />
Es gibt bereits jetzt eine Geothermie-Anlage<br />
sowie Heiz- und Kühlschleifen in den<br />
Ausstellungssälen, mit denen sich die Raumtemperatur<br />
energiearm regeln lässt. Bis 2030<br />
soll das Haus so umgebaut werden, dass es<br />
klimaneutral ist. Alles nicht genug, meint das<br />
Netzwerk Museums for Future, deren Mitglieder<br />
sich aus unterschiedlichen Kulturinstitutionen<br />
zusammensetzen. Gegründet hat es<br />
Florian Schlederer, Jahrgang 1992, als er im<br />
Wiener Volkskunde Museum als Wissenschaftskurator<br />
zu arbeiten begann. Er studierte<br />
Physik und Philosophie in Wien, Oxford und<br />
Tokio, war seit dem ersten Streik im Dezember<br />
2018 bei Fridays For Future dabei, hat<br />
sich dann als Co-Organisator des Klimavolksbegehrens<br />
eingesetzt und arbeitet aktuell als<br />
Science Writer am IST Austria. Für Schlederer<br />
ist Museums For Future „wie ein Ventil, geschaffen<br />
für diejenigen, die verzweifelt über<br />
Fotos: © Ines Futterknecht, www.futterknecht.com; http://museumsforfuture.org<br />
8 2/<strong>2022</strong>
MUSEUM DER ZUKUNFT<br />
klimaignorante Entscheidungsträger sind.<br />
Wenn sich jetzt nichts ändert, ändert sich alles.<br />
Und deshalb ist es für mich einfach keine<br />
Option, jetzt zu schweigen oder untätig zu<br />
bleiben. Wir haben Kanäle auf allen wichtigen<br />
Social-Media-Plattformen, der Newsletter auf<br />
unserer Homepage informiert über bevorstehende<br />
Kampagnen.“<br />
Offenbar ein attraktives Angebot, denn dem<br />
Netzwerk haben sich inzwischen im Gründungsland<br />
Österreich hauptstädtische Museen<br />
wie das MAK, Dom Museum, Architekturzentrum,<br />
Volkskunde Museum oder das Kunst<br />
Haus Wien angeschlossen, flankiert vom<br />
Kunsthaus Graz, Heimatmuseum Deutsch-<br />
Griffen und Museum Niederösterreich. Allesamt<br />
haben die Deklaration unterschrieben<br />
und sich verpflichtet ihre Ziele zu verfolgen.<br />
MFF knüpft an die Ideen von Fridays for Future<br />
an und verlangt mit seiner Erklärung die<br />
Einhaltung des Pariser Klimaabkommens. Inzwischen<br />
ist es zu einer internationalen Initiative<br />
mit aktiven Mitgliedern aus Europa und<br />
Nordamerika angewachsen.<br />
Im Mai 2021 ging die deutsche Ortsgruppe<br />
Museums For Future Germany an den<br />
Start. Initiiert hat sie die Restauratorin Anna<br />
Krez. Sie sagt: „Ich merke, wie das Thema<br />
Nachhaltigkeit unter vielen Kollegen und Kolleginnen<br />
stetig an Aufmerksamkeit gewinnt.<br />
Gleichzeitig setzt aber auch eine Art Ratlosigkeit<br />
ein, wo und wie man mit der Umsetzung<br />
beginnen kann. Genau an diesem Punkt<br />
möchten wir als MFF Germany so gut wie<br />
möglich unterstützen.“ Und das ist auch nötig.<br />
Immer noch beklagen viele städtische Museen,<br />
dass ihre Häuser meist einer staatlichen<br />
Verwaltung unterstehen und dass sie deshalb<br />
nur mühsam maßgeschneiderte Klimaschutz-<br />
Lösungen für die Museen erreichen können,<br />
ganz zu schweigen von dem bürokratischen<br />
Aufwand.<br />
Ob die aufwendige Klimatisierung der Ausstellungsräume,<br />
Ausstellungsarchitekturen,<br />
die nach der Laufzeit einfach weggeworfen<br />
werden, oder die Folgen des Ausstellungstourismus,<br />
für den Objekte, Kurator:innen,<br />
Restaurator:innen und Besucher:innen um die<br />
ganze Welt reisen, der CO2-Ausstoß von Museen<br />
ist enorm. Museums For Future, unterstützt<br />
deshalb die Klimastreiks, diskutiert öffentlich<br />
die Folgen der Klimakrise und versucht,<br />
Maßnahmen zur Klimaneutralität umzusetzen,<br />
von grünen Energiequellen,<br />
Mülltrennung oder kürzeren Transportwegen<br />
bis hin zu ausstellungsspezifischen Fragestellungen:<br />
Mit welcher Farbe werden die Wände<br />
gestrichen? Auf welchem Papier die Einladungen<br />
gedruckt? Und welche Materialien<br />
können wiederverwendet werden? Welche<br />
Arbeitsroutinen müssen auf den Prüfstand?<br />
Wie lässt sich eine Kernaufgabe wie das Bewahren<br />
von Kunst in Einklang bringen mit einer<br />
Minimierung des Energieverbrauchs? Wie<br />
kann ein Museum zu mehr sozialer und ökonomischer<br />
Gerechtigkeit beitragen? Welche<br />
weiteren Fragen muss es sich stellen, um relevant<br />
zu sein und zu bleiben für die Gesellschaft<br />
von morgen?<br />
Der Versuch, ein Bewusstsein zu schaffen<br />
und etwas zu verändern, ist natürlich abhängig<br />
von den jeweiligen Ressourcen eines<br />
Hauses. So hat das Volkskundemuseum Wien<br />
etwa seinen Shop nachhaltiger umgebaut<br />
oder das Museum Niederösterreich eine Klimaausstellung<br />
gestaltet. Das Wiener Museum<br />
für angewandte Kunst ist Kooperationen<br />
mit anderen Einrichtungen eingegangen und<br />
hat die Vienna Biennale for Change 2021 zum<br />
Thema Planet Love & Climate Care ins Leben<br />
gerufen. In einem Projekt mit der Universität<br />
für Bodenkultur in Wien wurde eine konkrete<br />
CO2-Emissionsberechnung für die Hauptschau<br />
erarbeitet. Inhaltlich haben Künstler,<br />
Designerinnen und Architekten im Sinne einer<br />
nachhaltigen Klimafürsorge an Lösungen<br />
gearbeitet. Ähnliche Vorhaben möchte auch<br />
die deutsche Sektion MFF Germany umsetzen.<br />
Den Rahmen hat man seit der Gründung<br />
im Mai 2021 für sich abgesteckt. Es gehe darum,<br />
„dafür zu sensibilisieren, dass Klimaschutz<br />
auch Kulturgutschutz bedeutet, letztlich<br />
eine der Kernaufgaben der Museumsarbeit.“<br />
Die konkreten Handlungsfelder für Museen<br />
sieht das Netzwerk, das sich auf seiner<br />
Website als „Gruppe junger, dynamischer<br />
Menschen, die im Museumsbereich tätig<br />
sind“ vorstellt, in der Verknüpfung von Museen<br />
und Mobilität, etwa durch Veränderungen,<br />
die mit einer An- und Abreise zum Museum<br />
mit dem Fahrrad oder den öffentlichen Verkehrsmitteln<br />
zu erreichen seien oder durch<br />
die Vermeidung von Flugreisen. Außerdem<br />
sollten Umweltkriterien bei Ausschreibungen<br />
Umfrage zu Nachhaltigkeit und<br />
Klimaschutz im Museum mit Museums<br />
For Future<br />
Wo stehen wir in der deutschen Museumslandschaft<br />
mit den Aufgabenfeldern<br />
Nachhaltigkeit und Klimaschutz?<br />
Wie steht es um die Nachhaltigkeit in<br />
Ihrer Institution? Womit haben sie zu<br />
kämpfen? Diesen Fragen geht Museums<br />
For Future im Rahmen einer kurzen<br />
Umfrage nach, um gemeinsam<br />
Strategien für Lösungen zu erarbeiten.<br />
Der Fragebogen richtet sich an alle<br />
Museumsfachleute in Deutschland<br />
(sowohl in Festanstellung als auch in<br />
freier Mitarbeiter). Die Beantwortung<br />
dauert ca. 5 bis 10 Minuten. Eine Teilnahme<br />
an der anonymen Umfrage<br />
ist bis zum 15. März <strong>2022</strong> möglich.<br />
2/<strong>2022</strong><br />
9
MUSEUM DER ZUKUNFT<br />
1<br />
1<br />
Der sinnlichen Erfahrung Raum geben<br />
Werden Museumsführungen durch künstliche Intelligenzen oder selbstlernende Algorithmen abgelöst? Und<br />
ersetzen intuitiv nutzbare Technologien oder interaktive Medienumgebungen die Museumspädagoginnen<br />
und -pädagogen? Ein Interview mit Laura Heeg, stellvertretende Leiterin der Abteilung „Bildung – Vermittlung,<br />
Kunstpädagogik“ in der Schirn Kunsthalle Frankfurt<br />
Besonders traditionell ausgerichtete Museen<br />
klagen über sinkende Besucherzahlen. Während<br />
vor Jahrzehnten Kunstvermittlung noch<br />
gleichgesetzt wurde mit „Führungen anbieten“,<br />
haben sich die Gewohnheiten potenzieller<br />
Besucher und Besucherinnen verändert.<br />
Neugier auf Kunst wecken – wie funktioniert<br />
das heute? Wie wandelt sich gerade das<br />
Verständnis der Kunstvermittlung und welche<br />
Perspektiven sind zukunftsfähig? Wird sie in<br />
den kommenden Jahren durch digitale Programme<br />
überflüssig? Werden Museumsführungen<br />
durch künstliche Intelligenzen oder<br />
selbstlernende Algorithmen abgelöst? Ersetzen<br />
intuitiv nutzbare Technologien oder inter-<br />
aktive Medienumgebungen die Museumspädagoginnen<br />
und -pädagogen? RESTAURO<br />
sprach mit Laura Heeg, stellvertretende Leiterin<br />
der Abteilung Bildung, Vermittlung, Kunstpädagogik<br />
in der Schirn Kunsthalle Frankfurt,<br />
über das Format der Digitorials und zukunftsweisende<br />
Ansätze für die Arbeit von Kultureinrichtungen.<br />
RESTAURO: Was sind die Gründe dafür,<br />
dass die Schirn die Digitorials anbietet?<br />
Wie lange gibt es sie?<br />
Laura Heeg: Das Format Digitorial® wurde<br />
2014 in der Schirn zur Ausstellung „Helene<br />
Schjerfbeck“ entwickelt, unter dem Gesichts-<br />
12 2/<strong>2022</strong>
MUSEUM DER ZUKUNFT<br />
punkt, dass wir, als Kunsthalle ohne eigene<br />
Sammlung, dennoch nachhaltige digitale Vermittlungsangebote<br />
für unser Publikum bereitstellen<br />
wollten. Da gerade bei online konsumierten<br />
Medien die Aufmerksamkeitsspanne<br />
schnell nachlässt, sollte das Format interaktiv<br />
und multimedial sein und natürlich auch responsiv,<br />
damit für verschiedene Gerätetypen<br />
und Zugangssituationen ideal nutzbar. Gleichzeitig<br />
musste es im Zugang einfach zu finden<br />
sein, einem möglichst breiten Publikum zur<br />
Verfügung stehen und niedrigschwellig wie<br />
auch intuitiv bedienbar sein – trotzdem natürlich<br />
wissenschaftlich fundiert in den Inhalten.<br />
Von Anfang an waren die Digitorials – nach<br />
dem ersten folgten weitere in Städel Museum<br />
und Liebieghaus Skulpturensammlung, den<br />
vom selben Direktor geleiteten Häusern – auf<br />
Deutsch und Englisch kostenfrei über Ländergrenzen<br />
hinweg im Web abrufbar.<br />
Welche Funktion haben die Digitorials?<br />
Wenn man den individuellen Besuch einer<br />
Ausstellung als Visitor-Journey denkt, die die<br />
Vor- wie auch Nachbereitungsphase des Besuchs<br />
einbezieht, dann setzt das Digitorial genau<br />
hier an. Es hat eine andere Funktion als<br />
die Kunstvermittlung vor Ort, vor dem Original.<br />
Es dient zur inhaltlichen Vorbereitung auf den<br />
Besuch oder zur Vertiefung des Gesehenen<br />
und Erlebten im Anschluss. Gleichzeitig besteht<br />
die Möglichkeit, das kulturelle Umfeld<br />
der jeweils in der Ausstellung gezeigten Kunst<br />
breiter in die Erzählung einzubinden als es die<br />
Wand- und Saaltexte zu leisten vermögen.<br />
Wie auch bei all unseren anderen digitalen<br />
Formaten soll es nicht den Ausstellungbesuch<br />
und die Begegnung mit dem originalen<br />
Kunstwerk ersetzen. Damit aber die Inhalte<br />
der jeweiligen Digitorials auch wirklich zu den<br />
Ausstellungen, deren Themen, dem kuratorischen<br />
Konzept passen, werden sie immer inhouse<br />
konzipiert und verfasst. Das nächste<br />
Digitorial entsteht gerade zur Ausstellung<br />
„Kunst für Keinen, 1933–1945“ und wird ab<br />
dem 4. März <strong>2022</strong> unter www.Schirn.de/digitorial<br />
abrufbar sein.<br />
Wie werden die Digitorials genutzt?<br />
Das innovative Storytelling und die verschiedenen<br />
medialen Komponenten bedienen in<br />
ein- und demselben Medium unterschiedliche<br />
Bedürfnisse des Publikums. Das beginnt<br />
beispielsweise schon bei den Textebenen:<br />
Wer mit wenig Zeit und Geduld nur die Überschriften<br />
und vielleicht noch die Text-Anleser<br />
überfliegt, erhält trotzdem in Kombination mit<br />
dem hochauflösenden Bildmaterial einen Eindruck<br />
von der Ausstellung. Im Idealfall wird<br />
die Person neugierig und steigt tiefer in die Inhalte<br />
ein. Wer es genauer wissen möchte,<br />
klappt vielleicht auch noch die im Stil eher lexikalisch<br />
gehaltenen verborgenen Textebenen<br />
auf. Wer hingegen nicht gerne lesen<br />
möchte, hält sich vielleicht eher bei den Ton-<br />
oder Filminhalten auf, oder entdeckt durch gezielt<br />
eingesetzte Zoom-Effekte Bilddetails, die<br />
ihm/ihr in der Ausstellung vor Ort nicht aufgefallen<br />
wären. Durch die Einteilung in unterschiedliche,<br />
individuell anzusteuernde Kapitel<br />
kann man sogar gezielt die Themen durchlesen,<br />
die einen am meisten interessieren. Viele<br />
User lesen aber auch einfach das gesamte Digitorial<br />
in mehreren Etappen.<br />
Sind Angebote wie die Digitorials die<br />
Zukunft in der Vermittlung?<br />
Die Digitorials, beziehungsweise ähnliche<br />
Formate, gehören sicherlich zu den erfolgreichen<br />
digitalen Vermittlungsinstrumenten,<br />
weswegen sie auch so häufig von anderen Institutionen<br />
kopiert werden. Die kurzweilige<br />
Gestaltung und das innovative Storytelling<br />
machen neugierig und laden die User ein,<br />
sich mit ästhetischen, künstlerischen, kulturellen<br />
Themen zu beschäftigen. Das ansprechende<br />
Design und die Niedrigschwelligkeit –<br />
das Angebot ist kostenlos und es gibt kein<br />
den Speicher belastendes Runterladen, keine<br />
besonderen technischen Herausforderungen<br />
oder spezielles Equipment – tragen sicher<br />
zum Erfolg bei. Auch dass man nicht vor Ort in<br />
der Ausstellung sein muss, wie zum Beispiel<br />
bei manchen AR-Angeboten, ist ein Vorteil.<br />
Dennoch ist es schwierig die Zukunft zu prognostizieren<br />
– Apple bringt beispielsweise gerade<br />
eine AR-Brille auf den Markt, die nach<br />
Plänen des Unternehmens in Zukunft das<br />
Smartphone ersetzen soll. Falls das eintritt,<br />
wird man schauen müssen, ob das Format Digitorial<br />
dazu noch passt, verändert werden<br />
muss und ob die User dem dann auch folgen.<br />
So oder so heißt es für uns in der Vermittlung,<br />
innovativ zu bleiben. Das bedeutet aber nicht,<br />
2<br />
Laura Heeg<br />
Laura Heeg studierte Kunstgeschichte<br />
sowie Allgemeine & Vergleichende<br />
Literaturwissenschaft in Mainz und<br />
Bologna. Bereits während des Studiums<br />
arbeitete sie freiberuflich als<br />
Kunstvermittlerin für verschiedene<br />
Kulturinstitutionen. Nach ihrem wissenschaftlichen<br />
Volontariat am Historischen<br />
Museum der Pfalz Speyer<br />
wurde sie 2011 Mitarbeiterin der<br />
Schirn Kunsthalle Frankfurt. Dort ist<br />
sie seit 2015 stellvertretende Leiterin<br />
der Abteilung „Bildung – Vermittlung<br />
– Kunstpädagogik“.<br />
1, 3, 4<br />
Das Format Digitorial®<br />
wurde 2014 in der<br />
Schirn zur Ausstellung<br />
„Helene Schjerfbeck“<br />
entwickelt, um nachhaltige<br />
digitale Vermittlungsangebote<br />
bereitzustellen<br />
2<br />
Laura Heeg, stellvertretende<br />
Leiterin der Abteilung<br />
„Bildung – Vermittlung<br />
– Kunstpädagogik“<br />
2/<strong>2022</strong><br />
13
MUSEUM DER ZUKUNFT<br />
Musikvideos im Weltkulturerbe<br />
1<br />
In der Gebläsehalle der Völklinger Hütte können Besucher:innen derzeit in die Welt der<br />
Musikvideos eintauchen: Der Multimediaguide von tonwelt ermöglicht, dass Bild und Ton<br />
ein symbiotisches Ganzes ergeben – lippensynchron und automatisch ausgelöst<br />
In der Völklinger Hütte geht inmitten riesiger<br />
Schächten läuft „Voodoo in My Blood“ von<br />
einmalig ist. „Über achtzig der interessantes-<br />
Maschinen der Punk ab. Nicht nur der Punk:<br />
Massive Attack. „Das ist wirklich hypnotisch<br />
ten Musikvideos der letzten Jahre und Jahr-<br />
Auf zahlreichen Leinwänden flimmern Nirva-<br />
verstörendes Minutenkino, ganz hohe Kunst,“<br />
zehnte verdichten sich im Weltkulturerbe zu<br />
na, Queen, Eminem, Billie Eilish, Pussy Riots,<br />
begeistert sich Ralf Beil, seit Mai 2020 Gene-<br />
einem großartigen Parcours und Panoptikum<br />
aber auch ein Video von Joseph Beuys. Noch<br />
raldirektor des Weltkulturerbes Völklinger<br />
der Kunstform. Wir wollen emotional wie in-<br />
bis zum Oktober ist in der restaurierten Ge-<br />
Hütte. „Die Völklinger Hütte ist ein großarti-<br />
tellektuell inspirieren, körperliche Erfahrung<br />
bläsehalle, die 1994 als erstes Industriedenkmal<br />
zum UNESCO-Weltkulturerbe gekürt<br />
wurde, die Ausstellung „The World of Music<br />
Video“ zu sehen. Gezeigt werden bekannte,<br />
historische und aktuelle Musikvideos. Verhandelt<br />
werden darin brennende aktuelle Inhalte<br />
wie KI, Umweltzerstörung, politische,<br />
psychische und physische Gewalt sowie<br />
Genderfragen aller Art.<br />
In der 6.000 Quadratmeter großen Halle, wo<br />
einst Stahlarbeiter Rüstungsgüter für die beiden<br />
Weltkriege produzierten, regiert nun die<br />
Musikindustrie. In den unlängst geöffneten<br />
ger Möglichkeitsraum für faszinierende<br />
Kunst- und Kulturprojekte jenseits des Mainstreams.<br />
Verstärken möchte ich in Zukunft<br />
die Auseinandersetzung mit Realitäten und<br />
Visionen unserer Lebenswelt“, teilte Ralf Beil<br />
bei seiner Berufung vor zwei Jahren mit. Gesucht<br />
wurde damals „ein mutiger Macher“,<br />
der zur Vermittlung der Industriekultur im<br />
Saarland neue Ansätze, auch grenzüberschreitend,<br />
entwickeln solle. Und das ist dem<br />
promovierten Kunsthistoriker jetzt auch mit<br />
seiner ersten großen Schau gelungen, die in<br />
ihrer Dimension und ihrer Qualität bislang<br />
ist garantiert in diesem veritablen Musikvideo-Kosmos“,<br />
macht Ralf Beil deutlich.<br />
Der Megatrend Immersion ist damit auch ins<br />
Weltkulturerbe eingezogen: Überall bewegen<br />
sich in der Völklinger Hütte Menschen<br />
mit Kopfhörern rhythmisch vor den monumentalen,<br />
bis zu sieben Metern breiten Leinwänden.<br />
Teils versunken in die Musik, die nur<br />
sie hören. Möglich macht das die Firma tonwelt,<br />
die sich zum Ziel gesetzt hat, „Informationen<br />
zielgruppengerecht zu vermitteln und<br />
gleichzeitig Emotionen zu wecken“. Das Berliner<br />
Unternehmen hat schon viele Museen<br />
Fotos: © Tom Gundelwein / Weltkulturerbe Völklinger Hütte<br />
16 2/<strong>2022</strong>
und Ausstellungshäuser mit passgenauen<br />
audiovisuellen Medien ausgestattet: Zu den<br />
Kunden gehören unter anderem das Victoria<br />
& Albert Museum in London, der Louvre (Paris),<br />
das Dokumentationszentrum Flucht,<br />
Vertreibung, Versöhnung in Berlin oder die<br />
New York Historical Society und das Jewish<br />
Museum in New York. Speziell für die Völklinger<br />
Hütte hat tonwelt einen Multimediaguide<br />
entwickelt, der über eine lippensynchrone<br />
Soundspur verfügt. Nähert sich ein Besucher<br />
einem der Monitore oder Projektionen,<br />
liefert das System automatisch und punktgenau<br />
zum Bild den passenden Ton.<br />
Keine technische Trivialität angesichts des<br />
Settings mit vielen nah beieinander platzierten<br />
Stationen. Die Anforderungen an die<br />
Ausstellungstechnologie seien sehr hoch<br />
gewesen, betont Gürsan Acar. Nirgendwo<br />
falle das Auseinanderdriften von Bild und<br />
Ton so eklatant auf wie bei Musikvideos, so<br />
der tonwelt-Geschäftsführer. „Ein Versatz<br />
zwischen Bild und Ton ist für den Laien bereits<br />
ab 60 bis 80 Millisekunden deutlich<br />
wahrnehmbar.“ Profis fällt dieser Unterschied<br />
sogar bereits bei 20 bis 40 Millisekunden<br />
auf. Um ein immersives Ausstellungserlebnis<br />
zu erzielen, müssen Projektoren, Monitore<br />
und das Mediaguide-System also millisekundengenau<br />
aufeinander abgestimmt<br />
sein. „Mit Consumer-Technik, BYOD, WLAN<br />
oder Bluetooth-Beacons wäre eine solche<br />
Ausstellung wie The World of Music Video<br />
nicht zu realisieren“, erklärt Gürsan Acar.<br />
Neben der Audiosynchronisation der Videos<br />
war das Problem zu meistern, wie der Ton an<br />
den Projektionsstationen automatisch und<br />
für das Hörempfinden der umherwandelnden<br />
Besucher möglichst störungsfrei ausgelöst<br />
werden konnte. Um dies zu erreichen,<br />
1–4<br />
Blick in die Völklinger<br />
Hütte: Die technische<br />
Begleitung ist smart gelöst:<br />
Während die Musik<br />
läuft, kann man in einer<br />
übersichtlichen App Begleittexte<br />
lesen<br />
2<br />
3<br />
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KULTURERBE<br />
Puzzle mit vielen fehlenden Steinen und Steinchen<br />
Einzigartige mittelalterliche Stuckfragmente aus der ehemaligen Klosterkirche in Gerbstedt im Vorharz, Highlights<br />
der neuen Dauerausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle, wurden in Vorbereitung der Schau erforscht.<br />
RESTAURO sprach mit Diplom-Restauratorin Corinna Scherf über den Herstellungsprozess der Stuckfriese und mehr<br />
1<br />
34 2/<strong>2022</strong>
KULTURERBE<br />
Es wird unmöglich sein, den Stuckateur zu<br />
ermitteln. Auch ein Gesamtbild der 700 Einzelteile<br />
wird es am Ende nicht geben. Und<br />
doch werden 100 der schönsten Stuckfragmente<br />
aus der ehemaligen Klosterkirche<br />
von Gerbstedt im Harzvorland Highlights in<br />
der neuen Dauerausstellung im Landesmuseum<br />
für Vorgeschichte in Halle, das neben<br />
Urpferdchen und germanischen Goldfunden<br />
die Himmelsscheibe von Nebra beherbergt.<br />
Denn der Stuckfund beweist nicht<br />
nur, dass die 1650 eingestürzte und ab 1805<br />
nicht mehr existente Kirche des Klosters<br />
von Gerbstedt einst bedeutend und reich<br />
ausgestattet war. Er deutet auch darauf hin,<br />
dass es nach 1100 in Mitteldeutschland<br />
hoch entwickelte Handwerker gab.<br />
Die Funde aus der Klosterkirche befanden<br />
in der Restaurierungswerkstatt des Landesmuseums<br />
Halle und wurden von Corinna<br />
Scherf, Diplom-Restauratorin für Wandmalerei<br />
und Architekturoberflächen, gereinigt.<br />
Dass die Stuckfragmente überhaupt gefunden<br />
wurden, hat vor allem mit der Nachnutzung<br />
des Klostergeländes zu tun: 1868<br />
tauchten die ersten Stücke beim Bau einer<br />
Schule auf dem ehemaligen Klostergelände<br />
auf, neun von ihnen wurden anschließend<br />
an das heutige Bodemuseum nach Berlin<br />
verkauft. In den 1980er Jahren gruben der<br />
Schulhausmeister und einige Schüler bei<br />
Vorbereitungen zum Heizungsbau weitere<br />
Stuckteile aus – wie viele genau, ist nicht<br />
bekannt. 50 Fragmente kamen damals ins<br />
Landesmuseum nach Halle. 1996 dann wurde<br />
der Boden erneut geöffnet – dieses Mal,<br />
um eine Wasserleitung zu verlegen. Dabei<br />
wurden 400 Stuckfragmente von Archäologen<br />
ausgegraben. Sie kamen nach einer<br />
ersten Ausstellung ebenfalls ins Museumsdepot.<br />
In Vorbereitung der neuen Dauerausstellung<br />
des Landesmuseums, die 2021 eröffnet<br />
wurde, wurden die zukünftigen Ausstellungsstücke<br />
nun nicht nur erforscht und<br />
gereinigt. Es entsteht auch ein wissenschaftlicher<br />
Bestandskatalog aller Funde<br />
samt neuster Forschungen zur Klosteranlage<br />
und zur Häufung von Frauenklöstern in<br />
Mitteldeutschland.<br />
ABSTRACT<br />
1<br />
Diplom-Restauratorin<br />
Corinna Scherf mit<br />
Kunsthistorikerin Susanne<br />
Kimmig-Völkner bei<br />
der Begutachtung der<br />
einzigartigen mittelalterlichen<br />
Stuckfragmente<br />
aus der ehemaligen<br />
Klosterkirche in<br />
Gerbstedt im Vorharz<br />
Puzzle with many missing stones and pebbles<br />
Unique medieval stucco fragments from the former<br />
monastery church in Gerbstedt in the Vorharz Mountains,<br />
highlights of the new permanent exhibition at<br />
the Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle, were<br />
researched in preparation for the show. RESTAURO<br />
spoke to graduated conservator Corinna Scherf<br />
about the production process of the stucco friezes<br />
and more.<br />
2/<strong>2022</strong><br />
35
EILEEN GRAYS VILLA E-1027<br />
42 2/<strong>2022</strong>
EILEEN GRAYS VILLA E-1027<br />
Restaurierung einer<br />
Architektur-Ikone<br />
Im Sommer 2021 wurde an der Côte d‘Azur das langjährige Restaurierungsprojekt<br />
zu Eileen Grays Villa E-1027 abgeschlossen. Claudia Devaux leitete in den letzten<br />
sechs Jahren die umfassende Sanierung des Gebäudes und setzte es in den Originalzustand<br />
von 1929 zurück. RESTAURO sprach mit der deutsch-französischen<br />
Architektin<br />
Sie sieht aus wie ein gestrandetes Schiff: die<br />
Villa E-1027 an der Côte d’Azur in Roquebrune-Cap-Martin,<br />
gebaut auf einem steilen<br />
Hang mit Blick auf das Fürstentum Monaco.<br />
Die anglo-irische Designerin Eileen Gray<br />
(1878 – 1976) hatte das Haus – sie nannte es<br />
„mein Boot“ – für sich und ihren damaligen<br />
jungen Liebhaber, den rumänischen Architekten<br />
und Begründer der bekannten Avantgar-<br />
sich die beiden Kreativen. Gray zog aus, und<br />
Badovici blieb in der Villa blanche, wie die Bewohner<br />
der Gegend das weißgehaltene Gebäude<br />
nannten. Da nur Badovici im Grundbuch<br />
eingetragen war, gehörte ihm auch die<br />
minimalistische Residenz. Le Corbusier, ein<br />
Freund Badovicis, war dort häufiger Gast. Viele<br />
Sommer verbrachte der Architekt in Roquebrune<br />
und wohnte sogar ab 1937 für längere<br />
1<br />
1999 erwarb das<br />
„Conservatoire du<br />
Littoral“ Eileen Grays<br />
verfallene Villa E-1027<br />
und restaurierte sie aufwendig<br />
in verschiedenen<br />
Phasen. Der<br />
Zustand des Gebäudes<br />
im Jahr 2006<br />
dezeitschrift „L’architecture vivante“ Jean Ba-<br />
Zeit in der Eileen Grays Villa. Später erbaute er<br />
dovici (1893 – 1956), entworfen. Das zwischen<br />
auf den angrenzenden Grundstücken sein ei-<br />
1926 und 1929 erbaute Urlaubsdomizil mit<br />
genes Ferienhaus (Cabanon Le Corbusier)<br />
nautischem Flair ist das erste architektoni-<br />
und fünf Campingeinheiten. Auf Einladung<br />
sche Werk von Eileen Gray – und heute eine<br />
von Jean Badovici schuf er in der Villa E-2027<br />
legendäre Architekturikone. Das kleine, lange<br />
im April 1938 zwei große Wandbilder. Im dar-<br />
und schmale Haus, minimalistisch und stark<br />
auffolgenden Jahr kamen fünf weitere von sei-<br />
funktionell, setzt sanft auf schlanken Stützen<br />
ner Hand dazu. Und weil sich Le Corbusier<br />
in dem terrassierten Gelände zwischen Zitro-<br />
mit seinen teils stark farbigen (und überwie-<br />
nenbäumen auf und besitzt darüber hinaus<br />
gend erotischen) abstrakten Gemälden hier<br />
noch weitere Charakteristika moderner Archi-<br />
verewigt hat, wurde das Haus sogar ihm zu-<br />
tektur: ein Flachdach, einen L-förmigen<br />
geschrieben. Erst seit 2000 gilt die Autor-<br />
Grundriss, eine lichte Architektur und boden-<br />
schaft von Eileen Gray als offiziell.<br />
Foto: Pierre-Antoine Gatier 2003/2010/ Association Cap Moderne – Centre des monuments nationaux 2020<br />
tiefe Fenster, die einen grandiosen Blick auf<br />
das Meer ermöglichen. Beim Grundriss legte<br />
Eileen Gray Wert auf offene Räume, die je<br />
nach Bedarf abgetrennt werden konnten.<br />
Eine Zeitschrift als Quelle<br />
Badovici widmete der Villa in seinem Magazin<br />
eine eigene Edition („E-1027 – Maison en<br />
Bord de Mer“). Heute ist die Ausgabe von<br />
1929 nicht nur ein zeithistorisches Dokument,<br />
sondern war auch bei der Sanierung des Gesamtkunstwerks<br />
von großer Bedeutung. Die<br />
rare Edition spielt bei Auktionen Höchstpreise<br />
ein. Das Cover gestaltete Eileen Gray – es ist<br />
eine der wenigen typografischen Arbeiten<br />
von ihr.<br />
Der Name des heute denkmalgeschützten<br />
Hauses leitet sich aus der Verknüpfung der Initialen<br />
des Paares ab: E steht für Eileen, 10 für<br />
Jean – J ist der zehnte Buchstabe des Alphabets<br />
–, 2 für Badovici und 7 für Gray. Doch kurz<br />
nach der Fertigstellung des Hauses trennten<br />
Über die Arbeitsteilung zwischen Gray und<br />
Badovici wurde ebenfalls viel geforscht. Doch<br />
mittlerweile sind sich die Experten weitgehend<br />
einig: Die Wendeltreppe, die Schiebe-<br />
Klapp-Fensterläden und auch die Stützen unter<br />
dem Haus sind von Jean Badovici inspiriert.<br />
Alles andere stammt von Eileen Gray.<br />
Auch die komplette Inneneinrichtung gestaltete<br />
die Designerin selbst. Nach dem Tod von<br />
Jean Badovici (1956) gelangte das Haus in die<br />
Hände verschiedener Besitzer. Der Letzte<br />
wurde unter ungeklärten Umständen ermordet.<br />
Wohnungslose besetzten danach die Villa<br />
E-1027. Eileen Grays Haus verfiel immer<br />
mehr. „Einst als Gesamtkunstwerk konzipiert,<br />
verlor es im Laufe der Zeit fast sämtliche Möbeleinbauten<br />
und wurde zu einer leeren Hülle“,<br />
erklärt Claudia Devaux. Die deutsch-französische<br />
Architektin ist mit ihrem Pariser Büro<br />
DDA auf die Restaurierung von modernen<br />
Kulturbauten spezialisiert und leitete die vergangenen<br />
fünf Jahre das umfassende Projekt<br />
zur Sanierung.<br />
ABSTRACT<br />
Restoration of an Architecture icon<br />
In the summer of 2021, the long-standing restoration<br />
project on Eileen Gray's Villa E-1027 was completed<br />
on the Côte d'Azur. Claudia Devaux led the comprehensive<br />
renovation of the building over the past six<br />
years, restoring it to its original 1929 state. We spoke<br />
with the German-French architect.<br />
2/<strong>2022</strong><br />
43