DANIEL DECKERS ÜBER DIE QUÄLENDEN ANFÄNGE DES VDP IN DEN 1970ER- UND 80ER-JAHREN Im Herbst dieses Jahres möchte der Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP) mit großem Aplomb ein kleines Jubiläum begehen. 20 Jahre werden dann vergangen sein, seit in Berlin jene Weine vorgestellt wurden, die endlich wieder die Aufmerksamkeit der internationalen Weinwelt auf Deutschland richten sollten. Tatsächlich präsentierte der Dachverband von etwa 200 Gütern aus allen Anbaugebieten im September 2002 eine neue Kategorie deutscher Spitzenweine: das »Große Gewächs«, kurz »GG«. Abbildungen: Landeshauptarchiv Koblenz 130 <strong>FINE</strong> 1 | <strong>2022</strong> WEIN & ZEIT
WEIN & ZEIT XLII Dabei hatte es schon früher Weine aus Deutschland gegeben, die es an Ansehen mit den »grands vins« aus Frankreich hätten aufnehmen sollen. Aber wenn André Simon noch 1950 (!) feststellen konnte, dass »hocks« die vielleicht besten Stillweine der Welt seien, dann bezog sich der Doyen der englischen Weinschriftstellerei nur auf Weißweine. Außerdem waren diese »fine wines« im Unterschied zu den Crus aus dem Bordelais und der Bourgogne zumeist entweder fruchtsüße, rassige Weine von Mosel und Saar oder Auslesen, Beerenauslesen und Trockenbeerenauslesen aus der Pfalz, Rheinhessen und dem Rheingau. Die Weine, die zu Beginn des neuen Jahrhunderts unter dem Signet »GG« auftraten, stellten damit das Gegenstück zu all jenem dar, das man seit Menschengedenken als »deutscher Spitzenwein« kannte. Geschmacklich und analytisch waren sie das, was nach dem seit 1971 geltenden Weingesetz unter »trocken« zu verstehen war. Als Weißweine sollten sie in dieser Kategorie zu den großen weißen Weinen aus Frankreich aufschließen, allen voran zu den burgundischen Chardonnays. Damit aber nicht genug: Auch trocken ausgebaute Spätburgunder und Lemberger (Blaufränkisch) aus den nördlichsten Weinbauregionen der Welt sollten es nun mit der internationalen Konkurrenz aufnehmen. Alles in allem, so der Plan, würde mit Einführung der weißen und roten Großen Gewächse nicht weniger als ein neues Kapitel in der Geschichte des Weinbaus in Europa, ja der gesamten Weinwelt aufgeschlagen werden. »Trockene Auslesen« waren rar – und bei Top-Gastronomen begehrt Doch wäre dieses Vorhaben unvollständig beschrieben, wollte man nur den Gegensatz zwischen den neuen GG und den klassischen Spitzenweinen aus Deutschland herausstellen. Noch stärker war der Gegensatz zwischen den Großen Gewächsen und den lieblichen, oft mit Süßreserve frisierten Spät- oder Auslesen, die noch in den 80er-Jahren den Ton in Deutschland angegeben hatten – von den lieblichen Massenweinen aus Rebsorten wie Müller-Thurgau oder auch Blauem Portugieser gar nicht zu reden. Am nächsten unter den besseren Weinen der 1960er-- und 70er-Jahre kamen den GG noch die »trockenen Auslesen«. Die gab es allerdings nur in den seltenen guten Jahrgängen wie 1964 oder zuletzt 1971 und 1976. In den wenigen Spitzenrestaurants jener Zeit waren sie umso begehrter. Daher liegt es nahe, die Geschichte der Großen Gewächse auch, wenn nicht vor allem als Teil jener Entwicklung zu schreiben, die in der Mitte der 70er-Jahre einsetzte und als das »deutsche Küchenwunder« bezeichnet wird (siehe <strong>FINE</strong> 3|2021). Spitzenköche wie Eckart Witzigmann, Heinz Winkler, Hans-Peter Wodartz oder Herbert Schönberner, aber auch die ersten Sommeliers in Deutschland, darunter der Herausgeber dieser Zeitschrift Ralf Frenzel, mussten damals die Nachfrage nach trockenen deutschen Weinen erst schaffen. Im vorigen Heft (<strong>FINE</strong> 4/2021) haben wir zudem den englischen Visionär Hugh Johnson gewürdigt, der mit dem Blick von außen die weithin traditionsvergessenen Spitzengüter langsam, aber sicher lehrte, dass Wein im Grunde »geography in a bottle« sein müsse. Diese Maxime hatte man in Deutschland in den 60er-Jahren bei der Erarbeitung eines neuen Weingesetzes für entbehrlich gehalten. An dieser Stelle soll nun eine dritte Facette ausgeleuchtet werden, ohne die es wohl niemals zu einer Kategorie namens GG gekommen wäre. Es geht um die quälend langsame Verwandlung des 1910 gegründeten »Verbands Deutscher Naturweinversteigerer« (VDNV) in eine Marketingorganisation namens VDP. Bei diesem Prozess, der um 1970 einsetzte und dessen im Folgenden beschriebene erste Phase mit dem Rückzug des Präsidenten Erwein Graf Matuschka-Greiffenclau im Jahr 1989 endete, wurden die Grundlagen dafür gelegt, dass trockene Spitzenweine aus Deutschland in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts die Weltbühne betreten konnten. Zwangsläufig oder auch nur wahrscheinlich war diese Entwicklung nicht – im Rückblick kommt es eher einem Wunder gleich, dass es heute Große Gewächse gibt. Denn der Fortbestand eines Verbands von Spitzenweingütern als solchem war 1971 alles andere als gewiss. Nahezu alles in der Welt des deutschen Weins hatte schon lange darauf hingedeutet, dass die Zeit jener Vereinigung von Gütern abgelaufen war, die seit 1930 mit dem Motto »Unsere Mitglieder besitzen Lagen von Weltruf« für sich geworben hatten. Vordergründig war es der Gesetzgeber, der den Untergang dieses oft als elitär verschriebenen Klubs herbeigeführt hatte. Der Begriff »Naturwein«, so hatte es sich seit den frühen 60er- Jahren abgezeichnet, sollte im längst überfälligen neuen Weingesetz verboten werden. Freilich sollte die in der Weinwelt einmalige und sehr deutsche Idee, dass durch Zusatz von Zucker »verbesserte« Weine nicht als Spitzenweine durchgehen könnten, in der Kategorisierung von »Qualitätsweinen mit Prädikat« fortleben. Der Untergang des VDNV war daher nicht zwangsläufig. Vielmehr lag schon früh die Option auf dem Tisch, den Begriff »Naturwein« durch »Prädikatswein« oder allgemein »Qualitätswein« zu ersetzen. Gegen ein Überleben sprach aber, dass der Verband sich in den ausgehenden 60er-Jahren in einem Zustand fortgeschrittener Selbstauflösung befand. Nominell bestand der VDNV aus sieben Regionalvereinen. Tatsächlich aber war das Vereinsleben in Südbaden wie an der Nahe längst erloschen, und wer sich im Rheingau, in der Rheinpfalz, in Rheinhessen, in Franken sowie an Mosel, Saar und Ruwer dem Verein zugehörig fühlte, war 1971 nicht zu ermitteln. Der damalige Vorsitzende des VDNV, Wolfgang Michel vom Weingut Domdechant Werner in Hochheim am Main, wusste es jedenfalls nicht. Warum also überhaupt an einem Zopf namens Bundesverband festhalten, wenn die meisten Güter mit dem neuen Weingesetz und seinem Bezeichnungsrecht gut glaubten leben zu können? Die weinbaupolitische Lobbyorganisation, als die der VDNV 1910 entstanden und vor allem vor der Verabschiedung des Weingesetzes von 1930 in Erscheinung getreten war, hatte sich offenkundig überlebt, und das nicht allein, weil schon seit den späten 50er-Jahren europäisches (Wein-)Recht den Handlungsspielraum des deutschen Gesetzgebers zunehmend einschränkte. Der VDNV hatte, wie man während einer Vorstandssitzung Mitte der 70er- Jahre rückblickend feststellte, auch aus anderen Gründen schon lange keine eigene Weinbaupolitik mehr betrieben. Der Bundesverband bestand nämlich nur aus dem Vorsitzenden, die Macht lag – wenn überhaupt – bei den Vorständen der Regionalvereine. In der Weinbaupolitik wiederum führte kein Weg an den Gremien des Deutschen Weinbauverbandes (DWV) vorbei. <strong>Das</strong>s dort die Genossenschaften und Die Mitgliederversammlung am 22. März 1971 unter dem Vorsitz von Wolfgang Michel war spärlich besucht. Peter von Weymarn verhinderte mit einer Rede die Auflösung des Verbands, dessen Leitung er im Jahr darauf übernahm WEIN & ZEIT <strong>FINE</strong> 1 | <strong>2022</strong> 131