„Familie & Co“ ✺ Grafik by sketchnotes-by-diana.com INTERVIEW | BIRGIT REHDERS FOTO | URSULA PICKENER: PRIVAT ✿ Mobbing in der Schule Etwa jeder zehnte Schüler erlebt mittlerweile eine Form von Mobbing, wird von Gleichaltrigen drangsaliert und gedemütigt. Nicht immer sind die Betroffenen von vornherein Außenseiter. Es kann durchaus Jungen und Mädchen treffen, die Teil einer Gruppe sind und von einem bestimmten Zeitpunkt an immer weiter ins Abseits gedrängt werden. 52 <strong>SCHWACHHAUSEN</strong> <strong>Magazin</strong> | <strong>März</strong> - <strong>April</strong> <strong>2022</strong>
Unsere „Familie & Co“ Seiten Frau Pickener, immer wieder sind SchülerInnen von Mobbing betroffen. Sie waren über 20 Jahre als Vertrauenslehrerin an einem Schulzentrum tätig und haben Mobbingbetroffene begleitet, Präventionsprogramme entwickelt und KollegInnen geschult. Warum wird jemand Ihrer Erfahrung nach gemobbt? Was für Gründe gibt es dafür? Ich möchte zunächst die Motive der TäterInnen betrachten, aus denen sich deren Auswahl der Betroffenen ergibt. Die TäterInnen sind häufig dominant und wenig empathisch. Sie werten ihren eigenen Status auf, indem sie andere herabsetzen. Zunächst testen sie an MitschülerInnen aus, wer sich „eignet“, d.h. sie suchen nach wenig aggressiven, eher zurückhaltend und passiv erduldenden SchülerInnen, die zudem wenig Rückhalt in der Gruppe haben. Auslöser für den Mobbingprozess ist also der/die TäterIn, der dann denjenigen als „Opfer“ betrachtet, der ihm keinen oder geringen Widerstand entgegensetzt. Welche Arten von Mobbing gibt es und welche Form von Mobbing findet insbesondere unter SchülerInnen am häufigsten statt? Mobbing kann direkt oder indirekt stattfinden. Das heißt, Täter und Opfer können direkt konfrontiert sein, wie zum Beispiel durch aggressive physische und verbale Angriffe oder durch soziale Ausgrenzung aus einer Gruppe. Beispiele für zunächst indirektes Mobbing schildere ich in meinem Kriminalroman „Utopia war gestern“: Die Täterin stachelt MitschülerInnen zu körperlichen und verbalen Attacken an und gibt sich erst spät als Anführerin zu erkennen. Aufgrund der zunehmenden Bedeutung sozialer Netzwerke, durch die Corona-Pandemie noch gesteigert, ist das Cybermobbing eine sehr verbreitete Mobbingform. Beleidigungen, Bloßstellungen, Drohungen gehören durch die mögliche Anonymität der TäterInnen und die niedrige Hemmschwelle nicht nur unter SchülerInnen schon fast zum „normalen“ Umgang im Netz. „Familie & Co“ die Bedeutung der Schulkultur im System sichtbar zu machen. Viele KollegInnen und auch Teile der Schulleitung haben uns dabei unterstützt. Dadurch gab es eine recht große Bereitschaft zum Hinsehen und Handeln. Das ist leider nicht an allen Schulen der Fall. Es gibt Schulen, an denen ein Klima des „Sowas-gibt-es-bei-uns-nicht“ herrscht und bei Konfliktfällen durch disziplinarische Schnellschüsse Scheinlösungen erzwungen werden, die sowohl den Opfern als auch den TäterInnen schaden können und die Probleme verschärfen. Eine Implementierung von Präventionsprogrammen auf der Grundlage eines demokratischen Leitbildes wäre an allen Schulen wünschenswert. Was passierte, wenn es zu einem Mobbingfall in der Schule gekommen ist? Der erste und wichtigste Schritt ist das Gespräch mit den Betroffenen. Jede weitere Maßnahme sollte abgesprochen sein und nicht über ihren Kopf hinweg agiert werden. Mobbingopfer machen Ohnmachtserfahrungen, die durch übergriffige Reaktionen, auch wenn sie „gut gemeint“ sind, wiederholt werden. Gemeinsam mit den Betroffenen sollte überlegt werden, wie sie gestärkt werden können, welche Ressourcen ihnen zur Verfügung stehen (zum Beispiel FreundInnen, persönliche Stärken …) und welche Schritte sie im Umgang mit den TäterInnen mittragen. Intervention kann grob gesagt autoritär (Grenzen ziehen, Strafen verhängen) oder kooperativ (TäterIn für Unterstützung gewinnen, Helfergruppe organisieren) erfolgen. Die gewünschten Veränderungen lassen sich am ehesten durch eine Kombination der Möglichkeiten erreichen. Häufig ist es auch sinnvoll die Eltern, das Kollegium und ggf. die Schülervertretung oder andere Institutionen einzubeziehen. Wie hat sich Mobbing während Ihrer langjährigen Tätigkeit als Vertrauenslehrerin verändert? Mobbing hat es schon immer gegeben, aber es wird erst seit ein paar Jahren als starke psychosoziale Belastung erkannt und seine negativen Auswirkungen auf die Entwicklung der Betroffenen werden nach und nach untersucht. Aufgrund der stärkeren Aufmerksamkeit scheinen die Fälle zuzunehmen, andererseits gibt es aber jetzt strukturierte und wirksame Präventions- und Interventionsprogramme, sodass an immer mehr Schulen gezielt gegen Mobbing und insgesamt gegen Diskriminierung gearbeitet wird. Wie wurde an Ihrer Schule mit Mobbing umgegangen? Wir waren an unserer Schule zwei VertrauenslehrerInnen, die sich zum Ziel gesetzt hatten, die Problematik von Mobbing im Zusammenhang mit der allgemeinen Schulkultur bewusst zu machen und so das Kollegium und die Schulleitung dafür zu sensibilisieren. Da fast 2.000 SchülerInnen unsere Schule besuchten und wir auch für alle anderen Problem- und Konfliktstellungen Ansprechpersonen waren, aber nur je eine Wochenstunde Unterrichtsermäßigung hatten, waren die Ressourcen absolut zu wenig. Dennoch haben wir versucht, über Fortbildungsangebote, in Konfliktgesprächen, im Austausch mit der Schülervertretung und auf Konferenzen Ursula Pickener ist Autorin, Bauingenieurin, Lehrerin. Mehr als 20 Jahre lang arbeitete sie als Vertrauenslehrerin an einem Bremer Schulzentrum. Dort hat sie als Mediatorin Mobbingbetroffene begleitet, Präventionsprogramme entwickelt und KollegInnen geschult. 2019 wurde ihr Kriminalroman „Utopia war gestern“ veröffentlicht. <strong>SCHWACHHAUSEN</strong> <strong>Magazin</strong> | <strong>März</strong> - <strong>April</strong> <strong>2022</strong> 53