Gut Aiderbichl Magazin Herbst/Winter 2021: Leben lieben
Lesen Sie herzerwärmende Tierrettungsgeschichten und erfahren Sie allerlei Wissenswertes rund um Gut Aiderbichl.
Lesen Sie herzerwärmende Tierrettungsgeschichten und erfahren Sie allerlei Wissenswertes rund um Gut Aiderbichl.
- Keine Tags gefunden...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Tiergeschichten<br />
HINGABE<br />
Eine Pflegerin<br />
behandelt täglich<br />
Stefans Körper<br />
mit Jodlösung<br />
und Salbe – als<br />
einziges Rind<br />
überlebte er den<br />
Brand seines Stalls<br />
<strong>Leben</strong><br />
lernen<br />
Als einziges Tier überlebte Stefan einen Stallbrand –<br />
in Henndorf findet er neues Vertrauen ins <strong>Leben</strong><br />
Eigentlich ist Stefan verspielt und<br />
übermütig, aber wenn seine Pflegerin<br />
Michaela ihn morgens von der<br />
Weide holt, wird er zum geduldigsten<br />
Rind in ganz Österreich: Michaela Fercher<br />
wäscht das große Tier von oben bis<br />
unten mit einer Jodlösung ab. Dann trocknet<br />
sie den Körper des Rindes, betupft offene<br />
Stellen vorsichtig mit einer antibiotischen<br />
Salbe und cremt die übrige Haut sanft mit<br />
Melkfett ein. Sie spricht mit ruhiger Stimme<br />
auf ihn ein „Du bist ein gaaanz Braver“, und<br />
Stefan scheint die Zuwendung sehr zu genießen.<br />
Ahnt er, dass er ohne diese aufwendige<br />
tägliche Prozedur vielleicht schon nicht<br />
mehr leben würde oder unerträgliche<br />
Schmerzen hätte? Versteht er, dass er nicht<br />
nur einer Flammenhölle, sondern auch dem<br />
Tod im Schlachthof entkommen ist?<br />
Michaela erinnert sich gut an den Tag, als<br />
Stefan nach <strong>Gut</strong> <strong>Aiderbichl</strong> in Henndorf<br />
bei Salzburg kommt. Eigentlich weiß sie,<br />
was sie erwartet, aber als das Tier aus dem<br />
Anhänger ins Tageslicht tritt, zerreißt es ihr<br />
fast das Herz. Nie zuvor hat sie ein traurigeres<br />
Geschöpf gesehen. Ein verbrannter<br />
Körper, ein Rind ohne Fell und ohne Hörner.<br />
Was sie erblickt, ist: purer Schmerz.<br />
Mehr als 6000 Tiere leben auf den Gnadenhöfen<br />
von <strong>Gut</strong> <strong>Aiderbichl</strong>. Viele von ihnen<br />
hätten geschlachtet oder eingeschläfert<br />
werden sollen und konnten diesem Schicksal<br />
entkommen. Wird Stefan aus seinem<br />
Albtraum erwachen und seinen Schmerz<br />
überwinden können? Zu den Grundbedürfnissen<br />
von Rindern gehören Erkunden,<br />
Gehen, Galoppieren, Grasen, Ruhen<br />
und eigene Körperpflege. All das hatte das<br />
junge Rind nie kennengelernt, bevor es<br />
nach <strong>Aiderbichl</strong> kam. Wenige Monate alt,<br />
war es in einen Mastbetrieb gebracht worden.<br />
Ein namenloses Tier, das nur lebte, um<br />
rasch Fleisch und Fett anzusetzen. Der Termin<br />
für den Transport zum Schlachthof<br />
stand schon fest. Doch eines Nachts brannte<br />
der Stall lichterloh …<br />
Man sagt, auch im Schlimmsten kann etwas<br />
<strong>Gut</strong>es passieren. Und manchmal ist<br />
ein Tier ein Beispiel für großen Überlebenswillen.<br />
Die arme Kreatur findet den<br />
Weg aus dem Stall, als die Fenster vor Hitze<br />
bersten und niemand mehr glaubt, dass es<br />
darin noch <strong>Leben</strong> gibt. Das Tier schafft es<br />
noch bis auf den Hof einer Nachbarin,<br />
dann bricht es zusammen. Als es wieder zu<br />
sich kommt, hat sich sein <strong>Leben</strong> zum Besten<br />
gewendet, doch wie kann es das wissen?<br />
In den nächsten Wochen wird es von<br />
der Nachbarin gepflegt, und zum ersten<br />
Mal in seinem <strong>Leben</strong> bekommt es einen<br />
Namen: Stefan.<br />
Heute, vier Jahre später, ist Stefan noch<br />
immer nackt. Sein Fell ist verbrannt und<br />
wird wohl nie mehr wachsen. Aber was<br />
macht das, wenn das <strong>Leben</strong> ansonsten<br />
freundlich und schön und voller Abwechslung<br />
und Fürsorge ist? Auf <strong>Gut</strong> <strong>Aiderbichl</strong><br />
erlebt er die schönste Zeit seines <strong>Leben</strong>s.<br />
Im Sommer bleibt er tagsüber im Stall, weil<br />
seine dünne Haut keine Sonne verträgt.<br />
Nachts darf er nach draußen, um über Wiesen<br />
und Felder zu stromern und frisches<br />
Gras zu fressen. Er ist nie allein, sein bester<br />
Freund begleitet ihn: Peter Günther, ein<br />
Ochse, der aus einem Zuchtbetrieb nach<br />
Henndorf kam. Peter Günther, eigentlich<br />
ein echter Raufbold, geht stets rücksichtsvoll<br />
mit Stefan um, als wollte er ausdrücken:<br />
Du hast genug durchgemacht. Jetzt<br />
passe ich auf dich auf.<br />
Stefan hat in jener Nacht im Stall wohl einen<br />
Schutzengel gehabt, der ihn aus den<br />
Flammen hinaus ins Freie führte und ihn<br />
schließlich bis nach <strong>Gut</strong> <strong>Aiderbichl</strong> begleitete.<br />
Er ist jetzt angekommen, er hat ein<br />
gutes <strong>Leben</strong>. Und jeden Morgen freut er<br />
sich auf Michaela, die zu ihm kommt, ihn<br />
vorsichtig eincremt, tätschelt und sagt:<br />
„Du bist ein ganz Braver!“<br />
64 65