DER SAND HAUTNAH <strong>Ausgabe</strong> 3 Ein Gespräch über Freiheit und Behinderung: Besuch bei Sascha Bückemeyer Von Wilma Schrader Sascha und sein Projektassistent Markus Breuer Foto: Oskar Siebers Seite 16
<strong>Ausgabe</strong> 3 HAUTNAH DER SAND <strong>Der</strong> Herbst meldet sich. <strong>Der</strong> Morgen ist damit die mir nicht wegkippen – was unge sind; der Landesverband Rheinland, der das die vorübergehend bei mir eingezogen sind.“ nebelig, der Ahorn vor meinem Fenster heure Schmerzen verursacht. So hilfreich das persönliche Budget auszahlt.“ Sascha Bückemeyer gibt nicht auf. Trotz leuchtet rot. Heute bin ich mit Sascha Medikament auch ist, ich bin dankbar dafür, Heidi von Schledorn, seine Pflegeassis aller Behinderungen, trotz allen Leidens hat er Bückemeyer verabredet. Seit seiner aber durch die Nebenwirkungen bezahle ich tenz, mischt sich ein: „Es gibt keine Lobby sein Selbstbewusstsein bewahrt: Er hat durch Kindheit leidet er an Rheuma. Mit ihm einen hohen Preis“, beschreibt Bückemeyer für Behinderte. Sie sind nicht wichtig. Sie gesetzt, dass er das „persönliche Budget“ er will ich über Behinderung und Freiheit seinen Zustand. Von seiner Rheumaklinik werden kaserniert, behandelt und müssen hält, eine Hilfeleistung die 2001 eingeführt reden. Es ist feucht, es ist kalt. Ob es im bayrischen Oberammergau, in der er sich sich Regeln fügen, die sie nicht wollen, zum wurde. Seitdem kann er seine Pflege assistenz ihm wohl gut geht? einmal pro Jahr aufhält, ist er gut eingestellt. Beispiel täglich 20 unterschiedliche Pfleger selbst managen. Mit 30 Jahren hat er den Ich stehe in einer ruhigen Seitenstraße in Inzwischen kommt er mit 2 mg des künstlich aushalten, Menschen, die sie oftmals nicht Führer schein bestanden. Gegen zu wenig aus Nächstebreck. Gegenüber ein verlassen wir hergestellten Hormons pro Tag aus. Damit kennen. Immerhin sind die Dienstleistungen gezahlte Gelder wehrt sich Bückemeyer auch kendes Gebäude, vielleicht eine Schule, ansonsten bürgerlich. Bückemeyer lebt in einem schmucklosen Sechziger-Jahre-Mehrfamilienhaus. Im Hausflur eine Rampe: Hier wohnt jemand, der auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Die Wohnungstür öffnet sich. Ein Mops- Mischling begrüßt mich schnaufend und mit wedelndem Schwanz. Eine Frau versucht, den Kleinen zurückzupfeifen. Ich betrete den schmalen Flur. Sascha Bückemeyer kommt mir in seinem Rollstuhl entgegen. Er ist kleiner und zarter als erwartet; zwei strahlend blaue Augen mustern mich aufmerksam. Er wirkt etwas distanziert und neugierig; er trägt einen roten Bart und eine Kappe mit dem gestickten Logo seines Vereins „Helfen durch Handeln“. Cool irgendwie. Er führt mich in die Küche, bietet mir einen Kaffee oder Tee an. Die Frau – offensichtlich seine Assistenz – folgt, nachdem sie ihren kleinen Hund beruhigt hat. Ich erkläre, was es mit uns auf sich hat: dass wir eine hyperlokale Zeitung herausgeben, dieses Mal zum Thema Freiheit. Sascha Bückemeyer kennt uns: „Alle <strong>Ausgabe</strong>n im Netz gefunden.“ Ich: „Und?“ – „Alles super, ich freue mich, dass Sie da sind. Außerdem braucht mein Verein ja immer wieder Aufmerksamkeit!“ Er grinst. ————————————————— »Ich finde diese ständigen verbalen Fettnäpfchen nervig.« ————————————————— kann er das Leben führen, das er sich vorstellt. ————————————————— »Es gibt keine Lobby für Behinderte. Sie sind nicht wichtig.« ————————————————— „Wie hält man es in einem solchen Körper aus?“, will ich wissen, „besonders in der Jugend? Sind die gesunden Kinder mit Ihnen gut umgegangen?“ – „Damit hatte ich nie Probleme“, sagt er. „Schon im Kindergarten habe ich mir unbewusst ein Netzwerk geschaffen, war schon immer ein Rebell, wenn es um meine Behandlung ging. Die Krankheit hat meine Freunde nie beeindruckt. Im Gegenteil, sie haben mich überallhin mitgenommen, und heute sind sie es, die mir helfen, wenn die Pflegedienste an ihre Kapazitätsgrenzen kommen.“ Das Netzwerk ist so stabil, dass ihn Freunde aus Kindergartenzeiten bis heute begleiten. Die Eltern Bückemeyer waren Inhaber einer mittelständischen Druckerei. Selbstständig zu sein scheint zu Bückemeyers DNA zu gehören. Mit 15 Jahren kündigte er seinen Eltern an, später in der eigenen Wohnung leben zu wollen. „Manchmal wünschte ich mir, zehn Jahre später geboren zu sein. Da war, dank Internet, die Informationsbeschaffung schon einfacher. Ich bin sicher, vieles wäre anders gelaufen.“. 2004 wagte er den ersten Schritt und zog aus. Das Wohnheim für behinderte Menschen der „Evangelischen Stiftung Volmarstein“ bot dicht am Körper und intim.“ Bückemeyer weiter: „Behinderte werden über einen Kamm geschoren. Das Pflegesystem in Deutschland zwingt Menschen in völlig absurde Situationen. Meine Betreuungsassistenz darf mir fünf Mal täglich auf das Klo helfen. Beim sechsten Mal muss ich fragen und bin dann auf das Wohlwollen meines Assistenten angewiesen. Ich habe auch schon gehört: ‚Mach‘ in deine Hose, dann darf ich dir wieder eine große Waschung anbieten‘“, erzählt Bückemeyer ruhig, legt den Kopf schief und schaut mich an, um herauszufinden, wie ich auf seine drastische Geschichte reagiere. ————————————————— »Schneller, höher, weiter ist nicht mein Ding.« ————————————————— Kranken Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, haftet das Stigma des Scheiterns an, und das in einer Gesellschaft, die Leid ignoriert und grenzenlose Freiheit aus eigener Kraft nahezu kultisch verehrt. Heidi von Schledorn: „Es gibt eine Parallelwelt, von der gesunde Menschen nichts mitbekommen. Behinderte kämpfen für sich allein. Sie organisieren sich nicht, ihnen fehlen die Kraft und das Selbstbewusstsein. Und wir, die Pflegenden, halten die staatlich diktierten Kataloge kaum aus. Mental nicht, und weil es eine körperlich schwere Arbeit ist, auch physisch nicht. Wir werden krank, wir werden schlecht bezahlt, schon mal gerichtlich. Einen zwei Jahre andauernden Prozess hat er soeben gewonnen. ————————————————— »Ich würde gerne dort leben, wo es warm und trocken ist!« ————————————————— Eine Mission gibt ihm Kraft: Er will sein Wissen, seine gesammelten Erfahrungen an die weitergeben, die sich allein gelassen fühlen. Die in einer Welt leben, die sie in ein unwürdiges Kontroll-System zwingt und behinderten Menschen von vorneherein die Fähigkeit zu selbstbestimmtem und freiem Handeln abspricht: „Es spricht doch Bände, dass ein volljähriger Mensch mit einer rechtlichen Betreuung in diesem Jahr das erste Mal wählen durfte. Das waren 85.000 neue Wähler.“. Im Frühjahr 2019 gründete er gemeinsam mit seinen Pflegeassistenzen und Freunden ‚Helfen durch Handeln e.V.‘. Mit seinem Verein sorgt Bückemeyer für Aufmerksamkeit und veranstaltet karitative Events. Anfang 2020 gründete er gemeinsam mit seinen Freunden die HdH-Betreuung, mit der er behinderten Menschen konkrete Hilfe für mehr Teilhabe anbietet. Mehr Entfaltungsmöglichkeiten und Freiheit gehören zu den Unternehmenszielen, auch für Pflegeassistenzen. Jeder Mensch soll in die Lage versetzt werden, einen gesellschaftlich wertvollen Beitrag leisten zu können, egal ob behindert oder nicht. Er selbst jedenfalls ist auf dem besten Weg dorthin. „Handicap oder Behinderung? Will ein ihm Unterschlupf. Zwei lange Jahre harrte er wir werden nicht gesehen. Das ist zermürbend. Wann sein Unternehmen wirtschaftlich arbei- Mensch, der unter körperlichen Beeinträch dort aus, fühlte sich aber als Behinderter un Wir beugen uns einem System, das wir völlig ten wird, lässt sich noch nicht sagen: „Das alles tigungen leidet, als Mensch mit Behinderung ter Behinderten deplatziert, wollte ein selbst falsch finden, können uns aber nicht wehren, muss Spaß machen und darf nicht in Stress angesprochen werden?“, möchte ich zunächst bestimmtes, kein betreutes Leben führen. <strong>Der</strong> weil auch uns die Kraft fehlt. Wir wollen ausarten. Schneller, höher, weiter ist nicht wissen. „Ja gut, ‚du bist behindert‘ ist meist als Zufall kam ihm zur Hilfe. Im Radio hörte seine helfen, nicht kämpfen und Steine in den Weg mein Ding. Wir nehmen uns die Zeit, die wir Beschimpfung gemeint, aber es gibt so viele Mutter von der Kokobe, einer Organisation, gelegt bekommen.“ Und Bückemeyer weiter: brauchen.“ Dinge, die wir heute falsch sagen können. Ich die Jugendlichen mit Behinderung dabei hilft, „Weshalb muss ich jedes zweite Jahr den so Und welche Träume hat er für seine Zu habe eine Behinderung und damit basta. Ich ein in ihrem Rahmen eigenständiges Leben zu genannten Hilfeplan erneuern lassen? Bei mir kunft? „Ich würde gerne dort leben, wo es kann einfach nicht alles, was andere können. führen. Die Mutter nahm Kontakt auf, und es ist doch klar, dass ich weder in 5 noch in 10 warm und trocken ist! <strong>Der</strong> Winter ist für mich Ich finde diese ständigen verbalen Fettnäpf gelang. Die Kokobe verhalf Bückemeyer zur Jahren laufen kann! Gut, es könnte schlechter die schlimmste Jahreszeit, feucht und kalt, und chen nervig“, seufzt Bückemeyer. Das wäre ersten eigenen Wohnung: „Damals konnte ich geworden sein! Ich sitze alle zwei Jahre in Ge führt zu Rheumaschüben. Manchmal sind die also schon mal geklärt. mit der Hilfe der Mitarbeiter nach und nach genwart von mehreren Beisitzern und muss so schlimm, dass ich mich selbst nicht berüh Sascha Bückemeyer ist 37 Jahre alt und alle mir zur Verfügung stehenden Leistungen Listen abarbeiten, in der jede menschliche ren kann, weil alles so weh tut. Ein Traum von etwa so groß wie ein sechsjähriger Junge. so zusammenstellen, dass ich ein selbststän Verrichtung mit einem Zeitkontingent verse mir wäre, einen Ort zu schaffen, wo Pflege Seine Hände, klein und verformt, haben nur diges Leben in der eigenen Wohnung führen hen wird: Wie oft und wie lange gehe ich auf kräfte, alte Menschen, junge Menschen, be wenig mit der Anatomie einer erwachsenen, konnte. Ich wollte keinesfalls mehr von meinen die Toilette, jeweils 10 Minuten? Wie viel Zeit hinderte und gesunde zusammenleben und gesunden Hand zu tun. Sie lassen ahnen, was Eltern versorgt werden. Sie haben sich keine brauche ich für das Zähneputzen, wie viel für alle Aufgaben gemeinsam bewältigen. Und ich die Krankheit mit den Knochen seines Kör Hilfe geholt, sind wahrscheinlich nicht mal das Anziehen, das Essen. Am Ende steht dann wünsche mir, dass mein Verein wächst und pers angestellt hat. Er sitzt im Rollstuhl, kann auf die Idee gekommen. Heute möchte ich eine Stundenzahl, sagen wir mal 13. Dann ich das alles noch erlebe.“ nicht gehen, wird es nie können, und er ist in nicht mehr von meiner Mutter auf die Toilet kommt eine Beisitzerin und behauptet, dass allen seinen Bewegungen auf ein Minimum te gehoben werden. Ich möchte die Freiheit ich nur 11 Stunden benötigen würde, weil sie eingeschränkt. Seit seiner Geburt leidet er unter haben, selbst zu entscheiden, wer mich pflegt, selbst eine behinderte Tochter habe und be Rheuma, hat Schmerzen und Entzündungen; wer menschlich zu mir passt“, sagt Bücke urteilen könne, wieviel Zeit für die täglichen seit seinem ersten Lebensjahr bekommt er meyer. „Und selbst heute ist die Informations Verrichtungen notwendig sei. Also bekomme Kortison. Das Medikament hat seine Knochen beschaffung noch schwierig. Die öffentlichen ich nur für 11 Stunden eine persönliche Assis porös gemacht. Drei Rückenwirbel sind inzwi Stellen sehen alle nur den eigenen Bereich und tenz genehmigt.“ Ich bin entsetzt: „Und was schen gebrochen: „Ich habe mehrere Titan- verwalten: die Krankenkassen, die die Gelder geschieht, wenn es mal schlecht läuft?“ Bücke Schrauben in meiner Wirbelsäule, zwei künst der Pflegeversicherung auszahlen; die Kom meyer sagt trocken: „Das war im vergangenen liche Kniegelenke und versteifte Fußgelenke, munen, die für die Grundsicherung zuständig Jahr so. Aber da hatte ich ein paar Freunde, Seite 17