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Der Sand Ausgabe 3

Zeitung für Oberbarmen/Wichlinghausen und den Rest der Stadt

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<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

unentgeltlich & unbezahlbar · www.die-wueste-lebt.org<br />

SAND<br />

•<br />

•<br />

DER<br />

ZEITUNG FÜR OBERBARMEN/WICHLINGHAUSEN UND DEN REST DER STADT<br />

Mein Stück Himmel<br />

Seite 4/5<br />

Nein sagen lernen<br />

Seite 6/7<br />

Ich zeichne mein Leben<br />

Seite 18/19<br />

Schütze die Flamme!<br />

Seite 22<br />

Freiheit<br />

Eine Spurensuche


DER SAND DIE SEITE ZWEI<br />

<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

Editorial<br />

Liebe Bewohnerinnen und Bewohner der Wüste,<br />

die Pandemie hat viele von uns in ihrer persönlichen Freiheit<br />

eingeschränkt. Kontaktbeschränkungen, Ausgangsperren,<br />

Schließungen von Läden, Gastrobetrieben und Kultureinrichtungen,<br />

die Masken- und Testpflicht, die Debatte um die<br />

Impflicht – all das verändert unseren Alltag, unsere Psyche,<br />

unser Leben und auch das, was wir unter Freiheit verstehen.<br />

Seit jeher beschäftigen sich Philosophen und Rechtsgelehrte<br />

mit der Freiheit. Freiheit ist mehr als ein großes Wort.<br />

Sie ist ein menschliches Grundbedürfnis, ein in unserer Verfassung<br />

verbürgtes Grundrecht und ein universales Menschenrecht.<br />

Sie ist ein Ideal, ein Versprechen.<br />

Wir haben nun Menschen in Oberbarmen und Wichlinghausen<br />

gefragt, was sie unter Freiheit verstehen. Sie sind<br />

Expert:innen des Alltags, sie wissen, wovon sie sprechen, sie<br />

wissen, wie es ist, ohne Freiheit zu leben, zu überleben. Viele<br />

von ihnen kennen Armut, Durst, Hunger, Nächte im Freien,<br />

Stürme und Kälte, Angst, Verfolgung, Verlust und Not. „Freiheit<br />

ist ein Wort, das nur versteht, wer sie verliert“, hat uns<br />

Rem, 15, erklärt.<br />

Unsere Zeitung entsteht nicht in der Abgeschiedenheit<br />

einer Redaktion, sondern draußen auf der Straße, auf Plätzen,<br />

in Cafés und Geschäften, in Stadtteilspaziergängen, in der<br />

Sprechstunde im Wüstenmobil auf dem Vorplatz der Färberei,<br />

mal mit einem Pop­Up­Foto­Studio, mal mit dem Stadtschreiber<br />

Roland Brus und seinem Oasen-Team; immer in der<br />

Begegnung mit Bewohner:innen und Passant:innen.<br />

Die Menschen erzählen in diesem SAND über ihre Ängste<br />

und Wünsche, ihre Träume und Probleme. Was sie über Freiheit<br />

wissen, ist absolut konkret. Sie berichten von Freiheit,<br />

die man kaufen kann; von Freiheit durch Gesundheit, durch<br />

Sicherheit und andere Privilegien; aber auch von Freiheit im<br />

Spiel auf der Bühne. Sie sprechen über Ausgrenzung, Abhängigkeiten,<br />

Arbeitsverhältnisse und Sklaverei, über soziale<br />

Zwänge und unfreie Sexualität; sie erzählen von der Einschränkung<br />

ihrer Bewegungs- und Meinungsfreiheit, von<br />

physischen und psychischen Fesseln, von äußerer und innerer<br />

Unfreiheit. Wie kommt man raus aus dem inneren oder<br />

äußeren Gefängnis, aus politischen, religiösen und kulturellen<br />

Zwängen? Kann der Ausbruchsversuch gelingen?<br />

Auf den folgenden Seiten berichten Migrant:innen<br />

über ihre Erfahrungen von Unfreiheit, Gewalt, Verfolgung<br />

und Krieg. Sie werfen einen fremden und frischen Blick auf<br />

Deutschland: auf die Erungenschaften politischer Freiheit<br />

und darauf, dass persönliche Freiheit auch unfrei machen<br />

kann, weil niemand mehr Zeit hat.<br />

Schüler:innen der Hauptschule Wichlinghausen diskutieren<br />

über Freiheit zwischen Traum und Wirklichkeit und<br />

über ihre Sehnsucht in Hinblick auf Geschlechterrollen,<br />

Liebe, Rassismus, Diskriminierung. Freiheit heißt für sie,<br />

ihr Leben selbst zu zeichnen. Wilma Schrader erzählt von<br />

Sascha Bückemeyer und seinem Alltag im Rollstuhl, dem<br />

Kampf mit dem Irrsinn unseres Pflegesystems und davon, wie<br />

sich Sascha für eine gerechtere und inklusivere Welt engagiert.<br />

Unsere Reporter:innen zeigen, was Selbstbestimmung<br />

sein kann: Dieter Westhoff widmet sich dem Phänomen<br />

Kiosk und dem Preis der Selbstständigkeit. Daniela Raimund<br />

und Philipp Czampiel entführen uns in die faszinierende<br />

Welt der Kleingärten von Wichlinghausen: „Mein Stück<br />

Himmel“ – eine Parzelle Paradies? Wir berichten über unseren<br />

Fackellauf quer durch die Stadt: eine Manifestation für<br />

Freiheit, Frieden und Chancengleichheit anlässlich des 100.<br />

Geburtstags von Joseph Beuys. Und wir erinnern an Bernhard<br />

Letterhaus, den Barmer Freiheitskämpfer, der von den<br />

Nationalsozialisten ermordet wurde.<br />

Nach dem letzten Bundestagswahlkampf haben wir<br />

nach Schließung der Wahllokale die Plakate der Politiker und<br />

ihre Slogans überklebt mit Bildern von Menschen, denen wir<br />

in Oberbarmen begegnet sind, die hier leben und arbeiten.<br />

Jetzt sehen Sie sie auf unserem Titel: Menschen aus vielen<br />

Nationen und Kulturen, jung und alt. Sie zeigen sich, sie setzen<br />

ein Zeichen: Wir sind da. Wir sind die, um die es geht, wenn<br />

wir über Politik sprechen und Partizipation ernst nehmen<br />

wollen. Nehmt uns wahr, nehmt nicht nur unsere Wahlstimme!<br />

Hört uns zu!<br />

Die Freiheit des Einzelnen ist nicht denkbar ohne den<br />

Anderen. Kollektive Freiheit, sagt der Verfassungsrechtler<br />

Christoph Möllers, bedeute auch, „dass wir uns nicht nur<br />

einschränken, sondern auch ermächtigen, Dinge zu tun, die<br />

wir alleine nicht tun könnten“. Alle Macht der Bevölkerung!<br />

Diese Zeitung versteht sich als eine Spurensuche.<br />

Freiheit ist weltweit bedroht. Wenn wir das Klima auf unserer<br />

„schönen blauen Murmel“, wie Antje sagt, retten<br />

wollen, müssen wir immer das Verhältnis von individueller<br />

und kollektiver Freiheit aushandeln. Freiheit und Verantwortung<br />

gehen Hand in Hand. Es geht, das zeigt uns die<br />

Corona­Zeit, nicht ohne Einschränkungen von Freiheit. Aber<br />

bei wem? Zu welchen Lasten? Müssen wir unsere Freiheit<br />

wirklich erst verlieren, um zu verstehen, was sie ist?<br />

Die Redaktion<br />

Es gibt einen Soundtrack zu dieser <strong>Ausgabe</strong>.<br />

Wir Freiheit! haben auf Spotify eine Playlist für Euch zusammengestellt.<br />

<strong>Der</strong> Soundtrack zu dieser <strong>Ausgabe</strong><br />

Natürlich dreht sich dort alles um Wandel und Arbeit:<br />

für Dich zusammengestellt auf Spotify<br />

Maybe DER SAND. Höre selbst!<br />

Alle Macht der Bevölkerung Foto: Daniela Camilla Raimund<br />

IMPRESSUM<br />

DER SAND Zeitung für Oberbarmen, Wichlinghausen und den Rest der Stadt, März 2022<br />

HERAUSGEBER:INNEN Die Wüste lebt! Roland Brus, Uwe Peter (V.i.S.d.P.), Daniela Camilla<br />

Raimund<br />

REDAKTION Roland Brus, Hans-Joachim Neubauer, Uwe Peter, Daniela Camilla Raimund,<br />

Wilma Schrader, Hans-Dieter Westhoff<br />

ANSCHRIFT VERLAG UND REDAKTION <strong>Der</strong> <strong>Sand</strong> – Ein Projekt von Die Wüste lebt!<br />

c/o Die Färberei e.V., Peter-Hansen-Platz 1, 42275 Wuppertal · info@die-wueste-lebt.de · www.<br />

die-wueste-lebt.org<br />

AUTOR:INNEN Abdulrahman Alasaad, Roland Brokop, Roland Brus, Sina Dotzert, Rainer Lucas,<br />

Hans-Joachim Neubauer, Uwe Peter, Daniela Camilla Raimund, Wilma Schrader, Hans-Dieter<br />

Westhoff<br />

ALLTAGSEXPERT:INNEN Alle Macht der Bevölkerung Abu Jones, Adla Mohamed, Ahmed<br />

Gulag, Ali, Ali Karakoc, Almohamed, Alsaadi Sajjad, Andoj und Lulozim, Andreas Kaluza,<br />

Anke Klammer, Anna Bröcker, Bärbel Höller, Bea Wallinger, Bernd Saure, Binguzel Kihç,<br />

Carola Haberl, Christin Fuhrmann, Christine Leithäuser, Dashoumir Sali, Detlev Schäfer,<br />

Diana <strong>Sand</strong>ermann, Esmail Ibrahim, Gifty, Richmond und Solomon Addae, Giovanni Ermini,<br />

Gisela Kettner, Günther Böttcher, Iris Colsman, James Gettys, Jörg Justin Fopa, Kerstin Holzmann,<br />

Leila Elhei, Ludgera Menting, Martina Braun, Melanie Beul, Mohamad Alaa Alden, Monika<br />

Kopersul, Nicola Koch, Oliver Falk, Özcan Kihç, Rago Ljub, Rakan Kaba, Salaymah Raghrid,<br />

Shadi Alaaelddin, Stella Türkoglu, Surinder Singh, Ute Gehrke, Wilfried Jöckel, Willy Wolfgang<br />

Bröcker, Zahara Al Mohamed Im Fokus Antje Böhning, Desirée Hahn, Diallo Djoulde, Georg<br />

Kocher, Günther Trzeschwski, Haji Al Hammo Harbi, Peter Ebersberger, Ramona Blau, Samira<br />

Lawaichi Am Rand Alexander, Astrid, Aydin, Erwin, Filiz, Helmut, Mario, Siggi, Willi Nah-<br />

aufnahme Abdu, Amani, Amena, Aree, Civan, Francisca, Hanan, Khaled, Mariam, Mohammad,<br />

Souzan, Valentina, Wiola, Zainab Futur 3 Enisa, Homan, Miray, Moheeb, Rem, Talal Flugschreiber<br />

Anna, Carola, Detlef, Lutz, Khalid, Nikola, Mohammed, Ronni Hautnah Markus Breuer,<br />

Sascha Bückemeyer, Heidi von Schledorn Mikrokosmos Emily, Leonie, Miri Mittendrin Ahilan<br />

Kamenthiram, Bea, Danqi, Emil, Erhan Sag, Frau Gülüm, Isabell Hanisch, Herr Akbal, Herr<br />

Danqui, Mento, Oktay Urzun, Salih Bozan, Saliha Sural, Senl, Shakan Asit, Sorupoluxmy<br />

Ratnasingam, Sural, u.v.a.<br />

FOTOGRAF:INNEN Philip Czampiel, Mirela Hadžić, Max Höllwarth, Rainer Lucas, Daniela Camilla<br />

Raimund, Oskar Siebers, Hans-Dieter Westhoff, Simon Veith, © BOB CAMPUS<br />

TRANSKRIPTIONEN Marvin Malek, Adnan Dalgic, Sophie Dzwonek, Tim Schoger<br />

LEKTORAT Hans-Joachim Neubauer und Karen Peter<br />

SATZ Jens Oliver Robbers und Mara Füsser<br />

DRUCK Rheinische DruckMedien GmbH, Zülpicher Straße 10, 40196 Düsseldorf · Aufl age 10.000<br />

DANK AN David Becher, Johannes Schmidt und Superknut (Utopiastadt), Roland Brokop, Iris<br />

Colsman (Färberei), Johanna Debik und Robert Ambree (BOB Campus), Christoph Gärtner und<br />

Regina Stephan (MLPD), Marcel Gießwein (Bündnis 90/ Die Grünen), Annette Hager, Severin<br />

Hackspiel, Katharina Jungheim und Sarah Badi (Hauptschule Wichlinghausen), Florian Kötter,<br />

Helge Lindt (SPD), Anne Lukas (Bob Kulturwerk), Victoria Lange (Volt), Gudrun Nolte und Helge<br />

Bruhn (KOKOBE), Quartiersbüro Vierzwozwo, Berthold Schneider (Opernhaus Wuppertal), Uwe<br />

Schneidewind, Christel Simon und Burkhard Rücker (CDU), Bernhard <strong>Sand</strong>er (Die Linke), Ariane<br />

Staab (Junior Uni), Manfred Todtenhausen (FDP), <strong>Sand</strong>ra Wohlert (DKP), Teresa Wojciechowska,<br />

Werner Zimmermann und an alle unsere Gesprächspartner:innen und Mitwirkenden.<br />

Die Wüste lebt! ist ein Projekt von Die Färberei e.V. – Zentrum für Inklusion und Integration.<br />

Gefördert über das Modellprogramm „Utopolis – Soziokultur im Quartier“ im Rahmen der ressortübergreifenden Strategie Soziale Stadt „Nachbarschaften stärken, Miteinander im Quartier“ des Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen und der Beauftragten für Kultur und Medien (BKM).<br />

Gefördert durch:<br />

Seite 2<br />

Titelfotos: Daniela Camilla Raimund


<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

ORTSBELICHTUNG<br />

DER SAND<br />

Ein schöner<br />

Name für eine<br />

schöne, ruhige<br />

Straße<br />

von Hans-Dieter Westhoff<br />

Unterwegs in der Freiheitsstraße<br />

Die Freiheitsstraße beginnt im Osten an der Breslauer Straße, in Sichtweite vom Carl-Duisberg-Gymnasium<br />

und der Nordbahntrasse. Das Eingangsportal sind zwei Eichen, und insgesamt<br />

ist fast die ganze Straße eine schöne Allee, für Wichlinghausen eine ziemliche Seltenheit.<br />

Wie steht es mit der Freiheit in der Freiheitsstraße? In den Aushängen an der Kita Buddelkiste<br />

auf der linken Seite geht es nicht darum, sondern um die üblichen Corona-Regeln:<br />

„Einlass nur einzeln unter Einhaltung der üblichen<br />

Hygiene-Regeln“. Auch beim Kinderspielplatz<br />

nebenan ist die Freiheit eingeschränkt, allerdings<br />

die von Hunden. Die dürfen hier nicht rein. Also<br />

nicht Freiheit für, sondern von Hunden. Am Spielplatz-Zaun<br />

und dann am Eingang des Nachbarhauses<br />

ist Florentina aktiv. Sie ist wohl knapp ein<br />

Jahr alt und kostet intensiv unter den Augen ihrer<br />

geduldigen Mutter die Freiheit aus, selbst laufen<br />

zu können. Jeder Pfahl, jede Stufe und jedes Blatt<br />

wird genau untersucht, bevor es auf eigenen wackligen<br />

Beinchen weitergeht. „Spazierenstehen“ wird<br />

diese Fortbewegungsart in eingeweihten Kreisen<br />

genannt. Florentina wohnt nicht hier, sondern nebenan<br />

in der Liegnitzer Straße. Vielleicht ist die<br />

Freiheitsstraße deshalb so interessant für sie.<br />

Im folgenden Teil der Straße gibt es den üblichen<br />

Wuppertaler Gebäude­Mix. Auf der rechten<br />

Seite mehr schlichte Neubauten in Folge der Bombentreffer<br />

aus den 1940er Jahren. Auf der linken<br />

Seite: Glück gehabt, die Jugendstil-Bauten aus der<br />

vorletzten Jahrhundertwende haben es bis heute<br />

geschafft. Hier spreche ich mit Diethelm darüber,<br />

wie frei man sich fühlt in der Freiheitsstraße:<br />

„Bisschen eng, Parkplätze muss man suchen. Und<br />

wenn ich hier durchgehe, fühle ich mich wie im Urlaub:<br />

so viele fremde Kennzeichen.“ Nebenan denkt<br />

Hubert über den Straßennamen nach: „Ob man<br />

sich in der Freiheitsstraße frei fühlt? Bis jetzt ja.<br />

Das passt ganz gut. Es gab zwar auch Zeiten, da<br />

hat ein Nachbar immer Trouble gemacht, aber jetzt<br />

ist es wieder schön, hier zu wohnen.“ Seit 2003 ist<br />

er schon hier, erst bei einer Freundin, und dann in<br />

seiner eigenen Wohnung.<br />

An der spitzwinkligen Kreuzung mit der Handelsstraße<br />

Noch ein paar Häuser weiter, an der Kreuzung Görlitzer Straße, wird es jetzt munter. Links<br />

zuerst das Atelier des Malers Rainer Kruse: „Mein Motto: Ich male, also bin ich. Malen ist für<br />

mich Leidenschaft und Berufung als Gegenentwurf zu der vom Menschen selbst geschaffenen<br />

entfremdeten Welt. Je mehr ich in den unmittelbaren künstlerischen, die Schöpfung achtenden<br />

Gestaltungsraum hineinschreite, entsteht Freude, Zufriedenheit und Ruhe.“ Künstlerische<br />

Freiheit in der Freiheitsstraße.<br />

Daneben ist ein Trödler, bei dem man Sammeltassen,<br />

aber auch alte Dual-Plattenspieler anschauen<br />

kann. <strong>Der</strong> Eingang ist allerdings nicht frei, sondern so<br />

zugestellt, dass man nicht sagen kann, ob das hier ein<br />

Laden oder ein Lagerraum ist. An der Ecke dann die<br />

Café-Bar „Zum Rothen Baron“: Viele Tische im Freien,<br />

und viele rauchende Männer vor Tee- und Kaffeetassen.<br />

<strong>Der</strong> Wirt heißt Boris Mihaylov, kommt aus Bulgarien,<br />

und das Lokal ist auch der Treffpunkt für die bulgarische<br />

Gemeinde. Wie es zu seinem komischen Namen kommt?<br />

„<strong>Der</strong> Vermieter hat mir gesagt, ich soll es so nennen. Das<br />

sei gut.“ Aha.<br />

Schräg gegenüber steht Tojic am Parterrefenster<br />

und raucht auch, und er denkt laut über die Café­Gäste<br />

nach: „Das war schöner, bevor die das Lokal aufgemacht<br />

haben. Da sind jetzt so viele Leute da, die hier nicht<br />

wohnen.“<br />

Aufschriften an den folgenden Häusern zeugen von<br />

Leidensdruck. Es geht um die Freiheit der Ausfahrt für<br />

Autos, und es wird nicht nur einigermaßen freundlich<br />

um „Ausfahrt freihalten“ gebeten; es wird auch gedroht:<br />

„Widerrechtlich abgestellte Fahrzeuge werden kostenpflichtig<br />

abgeschleppt“ – auf kurzer Strecke drei Mal<br />

gelesen. Noch eine interessante Drohung auf dem Weg:<br />

„Werbung, Prospekte usw. nicht einwerfen! Die Unterlagen<br />

werden kostenpflichtig an den Absender zurückgesandt“.<br />

An der Ecke Teichstraße hat Evangelie einen freien<br />

Parkplatz für ihr Auto gefunden. Sie wohnt gern hier.<br />

„Freiheitsstraße ist ein schöner Name für eine schöne,<br />

ruhige Straße, in der man sich sich frei fühlt, weil alles<br />

in der Nähe ist, was man braucht.“ Hier ist der befahrbare<br />

Teil unserer Straße zu Ende. Die Freiheit der Fußgänger<br />

aber noch nicht. Es kommt eine kleine Freifläche<br />

– schön verkehrsberuhigt aufgepflastert –<br />

das erste gastronomische Highlight: Pizza Flash, ein<br />

unfassbar preiswerter Bringdienst: Pizza Margherita<br />

Ingrid Nolzen und Heinrich Barkam aus Haus Nr. 13 unterwegs in ihrer Freiheitsstraße<br />

Foto: Oskar Siebers<br />

mit schönen runden Holzstelen und wiederum einigen<br />

alten Eichen: Die Freiheitsstraße endet so, wie sie begonnen<br />

hat. Dann gibt es noch einen Fußweg zwischen Hecken, und<br />

3,20, Currywurst mit Pommes 3,70, alles frei Haus aus der Freiheitsstraße. Etwas weiter die<br />

Straße entlang haben rechts und links einige Häuser das NRW-Baudenkmal-Zeichen, alle mit<br />

schönen klassizistischen Fassaden. Fast könnte man von einem Ensemble sprechen.<br />

dann ist man an der Alten Straße. Die geht man hinunter, vorbei an einigen der schönsten<br />

Fachwerkhäuser des Stadtteils, zum Wichlinghauser Markt – wo die Autos brausen und die<br />

Busse warten.<br />

Teile Deine Erfahrungen /<br />

Deine Meinung unter:<br />

info@die-wueste-lebt.org<br />

Seite 3


DER SAND AM RAND<br />

<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

Mein Stück Himmel<br />

Freiheit auf 370 Quadratmetern<br />

Eine Reportage aus der Welt der Kleingärten: Am Beuler Bach, Hügel 1928, Lohmannsfeld, Olgastraße, Rittershausen und Schellenbeck Süd.<br />

Interviews und Texte: Daniela Camilla Raimund · Fotos: Daniela Camilla Raimund und Philipp Czampiel<br />

»Ich sitze gerne einfach nur im Garten und sehe dem Gemüse beim Wachsen zu.<br />

Das muss ich dann nicht im Norma einkaufen.«<br />

»Ich habe Panikattacken, dann komme ich hierher und fange an zu arbeiten, werde ruhig.«<br />

»Nicht alles ist erlaubt hier. Zaun ist verboten. Übernachten auch.«<br />

»Probier mal den Knoblauch hier – das reicht für geschieden!«<br />

»Wir vermissen die Vereinsarbeit, die Gemeinschaft. Früher war das anders hier.«<br />

»Freizeit ist, wenn man nicht arbeiten muss.«<br />

»Die Leute sind faul geworden heutzutage.«<br />

»Sri Lanka liegt direkt neben Russland, Oberschlesien neben Israel und Griechenland neben Kasachstan.«<br />

»Kampf dem Unkraut!«<br />

»Hier kann nicht jeder machen, was er will, wir sind an die Satzung gebunden.«<br />

Seite 4


<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

AM RAND<br />

DER SAND<br />

Teile Deine Erfahrungen /<br />

Deine Meinung unter:<br />

info@die-wueste-lebt.org<br />

Einblick in ihre Gärten und Gedanken zum Thema Freiheit gaben uns:<br />

Astrid, Aydin, Filiz, Willi, Erwin, Alexander, Mario, Siggi, Helmut u.a.<br />

Mehr Fotos fi ndest Du im <strong>Sand</strong>kasten: www.die-wueste-lebt.org/der-sand<br />

Seite 5


DER SAND NAHAUFNAHME<br />

<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

Was bedeutet persönliche Freiheit?<br />

Wir müssen<br />

lernen, nein<br />

zu sagen!<br />

Die Frage, was Freiheit bedeutet, beschäftigt nicht nur Philosophinnen<br />

und Philosophen. Sie bestimmt auch die konkrete<br />

Wirklichkeit unserer Existenz. Roland Brokop und Abdulrahman<br />

Alasaad haben Deutsch lernende Migrant:innen in einem<br />

Video-Workshop gefragt, was sie brauchen, um frei zu sein.<br />

FRANCISCA Persönliche Freiheit bedeutet für<br />

mich, dass ich meine Frisur selber auswählen<br />

kann und meine Kleidung. Dass ich ausgehen<br />

kann, wohin ich will und wann ich will. Tanzen,<br />

Disco, Kneipe, Konzert oder so. Oder<br />

zuhause bleiben und Filme gucken, solange<br />

ich will. Oder natürlich Deutsch lernen. Also<br />

deutsche Filme gucken, meine ich. Ich gucke<br />

natürlich NUR deutsche Filme (lacht). Ja, und<br />

dass ich essen und trinken kann, was ich will<br />

und wann ich will. Oder, dass ich rauchen kann<br />

oder Alkohol trinken. Aber meine Mutter,<br />

die in Afrika wohnt, ist immer in meinem<br />

Kopf. Wenn ich zum Beispiel rauchen oder<br />

Alkohol trinken möchte, denke ich an meine<br />

Mutter, und dann kann ich das nicht machen.<br />

Meine Mutter begrenzt meine Freiheit, obwohl<br />

sie nicht hier ist. Das ist komisch, aber<br />

das ist auch gut.<br />

AREEJ Die Freiheit muss begrenzt werden.<br />

Sonst machen viele Leute schlechte Sachen.<br />

Es gefällt mir, dass man bestraft wird, wenn<br />

man gegen die Gesetze verstößt. Ich meine,<br />

dass JEDER bestraft wird, der gegen die<br />

Gesetze verstößt. Auch Polizisten oder Soldaten<br />

oder reiche oder bekannte Leute, sogar<br />

Politiker! Es gibt Dinge, die sind für ALLE<br />

Leute verboten. Das gibt Sicherheit, wenn alle<br />

Leute Respekt oder auch ein bisschen Angst<br />

vor den Gesetzen haben.<br />

AMANI Ich fühle mich frei, wenn ich meine<br />

Hobbys ausleben kann: Malen, Lesen, Musik,<br />

Sport und so weiter. Ich meine, wenn ich<br />

genug Zeit habe für diese Dinge. Eigentlich<br />

bedeutet Freiheit für mich viel freie Zeit für<br />

die schönen Dinge im Leben, die keine Pflicht<br />

sind. Pflichten können auch okay oder sogar<br />

toll sein. Kinder, Hausarbeit, Kochen, Einkaufen,<br />

arbeiten gehen und so. Aber man braucht<br />

auch freie Zeit ohne Druck.<br />

SOUZAN Die Deutschen sind politisch frei.<br />

Es gibt verschiedene Parteien und eine<br />

richtige Opposition und so. Aber ich denke,<br />

viele Deutsche sind privat oder persönlich<br />

nicht frei. Sie haben nie Zeit, wenn man sie<br />

einlädt, zum Beispiel. Es hat zwei Jahre gedauert,<br />

bis mein Deutschlehrer mich und meine<br />

Familie besucht hat, er hatte nie Zeit. Er war<br />

immer beschäftigt. Zwei Jahre! Krass, oder?<br />

————————————————————————————————————<br />

Nur in der Gemeinschaft – oder besser<br />

alleine?<br />

AMANI Freiheit bedeutet, nicht alleine zu<br />

sein. Hier in Deutschland fühle ich mich oft<br />

alleine, weil meine Familie nicht hier ist.<br />

Wenn du isoliert bist, ist deine Welt zu klein.<br />

Du hast keine Freiheit. Familie und Verwandte<br />

bedeuten Freiheit für mich. Wir Mütter sind<br />

hier fast immer alleine mit unseren Kindern.<br />

Es gibt keine Oma oder Tante, oder Nachbarn,<br />

die uns helfen oder wo die Kinder hingehen<br />

können.<br />

Im Freien Foto: Daniela Camilla Raimund<br />

ZAINAB Wenn die Familie gut ist, kann das<br />

super sein. Aber wenn die schlecht sind und<br />

alles bestimmen wollen, was du machst, ist<br />

das die Hölle. Ich bin von meiner Familie zu<br />

meinem Mann geflüchtet. Ich dachte, dann bin<br />

ich frei, weil er mich liebt und möchte, dass<br />

ich glücklich bin. Aber er wollte, dass ich alles<br />

mache, was er sagt. Und seine Eltern auch.<br />

Seite 6


<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

NAHAUFNAHME<br />

DER SAND<br />

Stell dir vor: Ich flüchte vor meinen Eltern und<br />

AMENA Ja, Geld macht frei, vor allem wenn<br />

weg, in einem großen Gefängnis. Sie haben<br />

spielen dürfen. Und die Kinder bleiben oft zu<br />

meinem Bruder und bekomme einen Mann,<br />

man in einem nicht demokratischen Land<br />

keine Freiheit mehr, sie haben auch keine<br />

lang in der Schule.<br />

der schlimmer ist als mein Bruder, und ich be­<br />

lebt. Mit Geld wird alles geregelt. Freiheit<br />

Rechte, auf nichts haben sie Rechte. Keiner<br />

komme Schwiegereltern, die schlimmer sind<br />

kann man kaufen.<br />

weiß, wie viele das sind. In meinem Land und<br />

HANAN Die wichtigste Freiheit ist die Gesund-<br />

als meine Eltern. Und alle waren immer da. Ich<br />

in anderen Ländern.<br />

heit. Aber das merkt man erst, wenn man krank<br />

war total unfrei. Dann sind wir nach Deutsch­<br />

————————————————————————————————————<br />

ist. Viele Leute vergessen das. Sie wollen so viel:<br />

land geflüchtet. Gott sei Dank ohne seine<br />

Wofür müssen Staat und Politik sorgen?<br />

————————————————————————————————————<br />

Geld, Auto, Reisen, tolle Sachen kaufen usw.<br />

Eltern! Hier habe ich mich scheiden lassen<br />

Dürfen wir glauben und denken, was wir<br />

Aber wenn du krank bist, hilft auch kein Geld.<br />

von meinem Diktator-Mann. Viele Deutsche<br />

MARIAM Freiheit ist für mich zuerst Sicher­<br />

wollen?<br />

haben mir geholfen für meine Freiheit. Jetzt<br />

heit. Das klingt komisch, wie ein Widerspruch,<br />

WIOLA Doch! Geld hilft auch bei der Gesund-<br />

lebe ich mit den Kindern frei und glücklich.<br />

aber ich denke an Syrien. Da war das ganze<br />

CIVAN Das ist schwierig zu sagen. Ich glaube,<br />

heit. Du kannst gute Sachen zum Essen kaufen,<br />

Ich habe deutsche Freunde, und ich arbeite<br />

Leben nicht sicher. Wir waren nicht sicher vor<br />

wir sind nicht so frei, wie wir denken. Ich bin<br />

wenn du Geld hast. Dann bleibst du vielleicht<br />

Vollzeit in einer Firma, weil die Kinder schon<br />

Bomben, vor Explosionen oder vor Leuten mit<br />

kein Muslim, aber wenn ich in Syrien in einer<br />

länger gesund. Du kannst gute Ärzte bezahlen,<br />

groß sind. Ich bin sogar frei vom Jobcenter!<br />

Waffen. Was mache ich mit meiner Freiheit,<br />

muslimischen Familie geboren wäre, würde<br />

wenn du krank bist. Und arme Leute leben oft<br />

wenn ich nicht rausgehen kann, weil vielleicht<br />

ich wahrscheinlich anders denken. Ich wäre<br />

nicht gesund, weil sie nicht genug Geld haben<br />

HANAN Freiheit gibt es nur vor der Ehe. Wenn<br />

der Tod auf mich wartet? Ohne Sicherheit<br />

vielleicht überzeugt davon, dass es einen Gott<br />

für gutes Essen.<br />

du verheiratest bist, ist die Freiheit vorbei.<br />

kann ich nicht frei sein. Sicherheit ist: Die<br />

gibt und dass Mohammad sein Prophet ist.<br />

Polizei, die Soldaten, die Politiker und Richter<br />

Vielleicht könnte ich mir das gar nicht anders<br />

————————————————————————————————————<br />

————————————————————————————————————<br />

schützen dich vor Gewalt und Kriminalität.<br />

vorstellen, weil diese Idee so stark in meinem<br />

Frei trotz Corona?<br />

Machen, was man liebt, oder lieben, was<br />

In Syrien hatte ich immer Angst oder ein<br />

Kopf wäre. Die Eltern und die Umgebung,<br />

man macht?<br />

komisches Gefühl, wenn ich einen Polizisten<br />

die Traditionen, die Schule und die Gesell­<br />

SOUZAN Corona hat natürlich viel persönliche<br />

sah. Aber die Deutschen sagen „Die Polizei<br />

schaft beeinflussen uns von Kindheit an. Es ist<br />

Freiheit eingeschränkt. In Deutschland wurde<br />

VALENTINA Freiheit ist für mich, wenn ich<br />

ist dein Freund und Helfer“, und die meinen<br />

schwer, sich davon freizumachen. Aber man­<br />

so viel diskutiert, und die Politiker mussten alle<br />

machen kann, was ich liebe. Aber man kann<br />

das wirklich. Aber manche hassen auch die<br />

che machen das. Auch Muslime. Sie machen<br />

Maßnahmen erklären. Sie wurden auch sehr<br />

natürlich nicht alles machen, was man liebt.<br />

deutsche Polizei. Das verstehe ich nicht.<br />

sich frei von der Religion und suchen andere<br />

kritisiert. In anderen Ländern gab es keine<br />

Es ist auch schön, wenn man das lieben kann,<br />

Antworten auf die großen Fragen des Lebens.<br />

Diskussion. Man hat einfach eine Ausgangs­<br />

was man macht. Wenn man zufrieden ist mit<br />

ABDU Freiheit ist, wenn man die Regierung<br />

Zum Beispiel bei den Philosophen oder ande­<br />

sperre verhängt oder andere Gesetze erlassen.<br />

dem, was man hat oder macht, dann ist man<br />

offen kritisieren kann. Privat oder in der Zei­<br />

ren Religionen.<br />

Daran kann man sehen, dass die Politiker in<br />

auch irgendwie frei.<br />

tung und im TV oder Internet. Man kann<br />

demokratischen Ländern von der Öffentlich­<br />

hier in Deutschland auch eine Demonstration<br />

————————————————————————————————————<br />

keit und den Medien kontrolliert werden. Die<br />

KHALED Okay, Freiheit ist auch eine innere<br />

machen, auf der man Angela Merkel to­<br />

Wo liegen die Grenzen der Freiheit?<br />

haben eine große Macht in Deutschland. Man<br />

Einstellung. Aber das funktioniert nicht immer,<br />

tal kritisiert. 2016 und 17 waren viel Demos<br />

sagt auch, die sind die vierte Gewalt.<br />

oder? Wenn du in einer Diktatur lebst und<br />

gegen Angela Merkel und gegen die Flücht­<br />

AMANI Wenn Leute Freiheit falsch verstehen<br />

total unfrei bist, kannst du nicht sagen: Ich<br />

linge. Manche haben auf Plakate geschrie­<br />

und andere Menschen dadurch schädigen.<br />

AREEJ Freiheit und Sicherheit für alle, das ist<br />

lebe in einer Diktatur, aber innerlich bin ich<br />

ben „Merkel muss weg“. Das fand ich sehr<br />

ein großes Problem. Das sieht man jetzt bei<br />

frei. Wie kann man ein Gefängnis zum Para­<br />

schlecht, weil ich Frau Merkel sehr gut finde.<br />

KHALED In den USA hat zum Beispiel jeder<br />

Corona beim Impfen. Es gibt keine Impfpflicht,<br />

dies machen? Das geht nicht, das ist totale<br />

Aber man darf das machen in Deutschland.<br />

hat das Recht, eine Waffe zu tragen.<br />

es gibt persönliche Freiheit. Aber Ungeimpfte<br />

Selbsttäuschung!<br />

Das ist Meinungsfreiheit und Pressefreiheit<br />

gefährden die Gesundheit und die Freiheit der<br />

und Demonstrationsrecht. Die Polizei be­<br />

AMANI Das ist schlecht. Dadurch dass jeder<br />

anderen.<br />

————————————————————————————————————<br />

schützt sogar die Menschen, die gegen die<br />

eine Waffe tragen darf, werden viele Unschul­<br />

Welche Rolle spielt die Sprache?<br />

Regierung demonstrieren. Man kann sagen,<br />

dige getötet.<br />

WIOLA Corona ist für mich die größte Freiheits-<br />

die Polizei beschützt die Feinde der Regierung.<br />

einschränkung in meinem Leben. Maske tragen,<br />

AMANI In Deutschland gibt es ein gutes Leben.<br />

Aber das ist gut. Alle haben das Recht, offen<br />

AREEJ Ich finde, dass die Freiheit in einer Ge­<br />

Shutdown, Lockdown, keine Besuche machen,<br />

Aber hier ist nicht alles einfach und frei.<br />

und frei ihre Meinung zu sagen. Die kleinen<br />

sellschaft ein bisschen begrenzt werden soll.<br />

keinen Urlaub, kein Kino, kein Konzert, kein<br />

Es gibt viele Leute, die hier nicht gut leben<br />

Leute und die großen und auch die dummen<br />

Kinder sollen zum Beispiel nicht alles sehen.<br />

Kaffeetrinken oder Essengehen, kein Kinder­<br />

und keine Arbeit und viele Probleme haben.<br />

oder schlechten Menschen. Alle haben Würde<br />

Im Internet gibt es zu viel Freiheit, Gewalt<br />

garten, keine Schule.<br />

Warum? Weil sie nicht gut Deutsch sprechen<br />

und Rechte. Das finde ich toll.<br />

und Porno und sowas. Ich will meine Kinder<br />

können – und verstehen auch nicht. Und<br />

davor schützen. Hoffentlich kann ich das.<br />

schreiben und lesen auch nicht. Die wissen<br />

KHALED Ja, und in Syrien haben Kinder –<br />

viele Sachen nicht, weil sie nicht richtig mit<br />

Kinder! – etwas Ähnliches an eine Hauswand<br />

————————————————————————————————————<br />

Deutschen sprechen können. Sie können sich<br />

gegen den Präsident Assad geschrieben. Die<br />

Wie wollen wir leben?<br />

nicht richtig informieren, nichts lesen. Die<br />

wurden vom Geheimdienst abgeholt, einge­<br />

haben kein freies Leben, weil sie immer Hilfe<br />

sperrt und gefoltert. Einfach so. Als die Eltern<br />

AMANI In manchen Gegenden sieht man nur<br />

brauchen. Man muss viel wissen in Deutsch­<br />

protestierten und demonstrierten, kam das<br />

Häuser, Straßen und Autos. Wenn ich aus<br />

land, wenn man frei leben will. Aber ohne<br />

Militär und schoss auf die Leute, vier Tote.<br />

dem Fenster gucke oder aus dem Haus gehe,<br />

Sprache gibt es kein Wissen.<br />

Das war der Anfang des Bürgerkriegs, mit<br />

sehe ich nur graue Wände und Autos. Ich sehe<br />

einer halben Million Toten. Keiner hatte mehr<br />

keine Natur. Man fühlt sich nicht frei im Kopf<br />

ZAINAB Genau! Und das wichtigste Wort für<br />

Würde oder Rechte. Das ist schrecklich.<br />

und guckt oft auf dem Bildschirm, im Fernse­<br />

die Freiheit ist „Nein!“. Wenn du keine Angst<br />

hen oder Internet, in die virtuelle „Freiheit“.<br />

mehr hast, „Nein“ zu sagen, beginnt deine<br />

MOHAMMAD Wir reden hier über Freiheit mit<br />

Das ist nicht normal, oder?<br />

Freiheit. Besonders wenn du eine Frau bist.<br />

Geld, Freiheit mit Auto, Freiheit mit Reisen, gute<br />

Das habe ich hier in Deutschland gelernt.<br />

Wohngegend mit Natur und so. Oder darüber,<br />

AREEJ Das ist auch nicht schön für die Kinder.<br />

ob die Corona-Beschränkungen richtig sind<br />

Jetzt mit Corona ist das noch schlimmer, wenn<br />

————————————————————————————————————<br />

oder nicht. Das ist alles gut und wichtig. Aber<br />

sie viele Tage zuhause bleiben müssen. Keine<br />

Ohne Geld geht es nicht, oder?<br />

es gibt eine Basis-Freiheit. Das ist Bewegungs­<br />

Schule, kein Kindergarten, kein Sport. Bei<br />

freiheit oder Körperfreiheit. Ich meine, dass<br />

uns in Syrien konnten sie einfach rausgehen<br />

MARIAM Mit Geld kann man in Syrien viel<br />

du mehr als vier Meter gehen kannst. In vielen<br />

und vor oder hinter dem Haus spielen. Es gab<br />

erreichen, man kann fast alles kaufen, sogar<br />

Ländern kann die Polizei oder der Geheim-<br />

immer viel freien Platz, wenn man aus dem<br />

Polizisten oder Politiker oder Ärzte, und hat<br />

dienst kommen und dich mitnehmen aus<br />

Haus ging. Und Verwandte und Nachbarn, zu<br />

viel Freiheit. Man hat sogar Würde, wenn man<br />

deiner Wohnung und ins Gefängnis sperren.<br />

denen sie gehen konnten.<br />

Geld hat. Aber wenn man kein Geld hat, ist<br />

Und dann bleibst du da, auf 10 Quadrat-<br />

man nicht frei und hat keine Würde und keine<br />

metern. Einen Monat , zwei, drei. Oder ein<br />

ZAINAB Ja, genau! In Syrien gibt es für die<br />

Rechte. Die Deutschen sagen: „Hast du was,<br />

Jahr, zwei, drei oder länger. Und du weißt<br />

Kinder immer die Möglichkeit, irgendwohin<br />

dann bist du was, hast du nichts, dann bist du<br />

nicht, warum. Und du kannst nichts machen.<br />

rauszugehen, aber hier gibt es keine Plätze.<br />

nichts.“ Das ist nicht so total ernst gemeint.<br />

Keiner kann was machen. In meinem Land<br />

Als ich Kind war, war ich die ganze Zeit drau­<br />

Ironisch oder so. Aber für mein Land passt<br />

gibt es viele Männer, die einfach nur frei<br />

ßen. Hier in Deutschland sind die Kinder nicht<br />

das genau.<br />

denken und sprechen wollen. Die sind einfach<br />

so frei, weil sie nur an einem bestimmten Ort<br />

Seite 7


DER SAND MADE IN WICHLINGHAUSEN<br />

<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

Die Grafik stammt aus dem Zyklus Lebensakrobatik – Luftspuren (2021).<br />

„Mich interessiert an Kunst die Transgression; die Freiheit, die Grenzen traditioneller Sparten zu überschreiten,<br />

um die Inhalte und Botschaften in ein anderes Licht zu stellen und die Kommunikation durch Kunst zu verbessern.”<br />

Teresa Wojciechowska ist freischaffende Malerin, Grafi kerin, Installations- und Videokünstlerin.<br />

Sie hat ihr Atelier in den Königsberger Höfen in Wuppertal Wichlinghausen.<br />

Seite 8


<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

ESSAY<br />

DER SAND<br />

Eine besonders<br />

günstige Form<br />

von Abhängigkeit<br />

Ein Essay von Sina Dotzert über Freiheit und Privilegien<br />

Vor einiger Zeit bin ich mit meinem Freund nach Südfrankreich<br />

getrampt. Selten habe ich mich so frei und<br />

so abhängig zugleich gefühlt: frei von der Notwendigkeit,<br />

für eine Reise Geld ausgeben zu müssen, frei von<br />

festen Abfahrts- und Ankunftszeiten, frei von der Verantwortung<br />

für ein Fahrzeug, frei, überhaupt reisen zu<br />

können; abhängig hingegen vom Wohlwollen fremder<br />

Menschen, von ihren Fahrkünsten und von einem<br />

Quäntchen Glück.<br />

Als ich anfing darüber nachzudenken, wurde mir bewusst,<br />

dass es eigentlich immer so ist: Es gibt keinen Moment in<br />

meinem Leben, in dem ich komplett unabhängig wäre. Als<br />

Kind brauchen wir Bezugspersonen, die uns lieben und versorgen.<br />

Im Erwachsenenalter ist das nicht anders: Irgendjemand<br />

muss unser Haus bauen, unsere Kleidung anfertigen,<br />

und irgendwie müssen die Lebensmittel in den Supermarkt gelangen.<br />

Jemand muss sich mit komplizierten Dingen auskennen,<br />

Wissen weitergeben oder einfach schöne Geschichten erzählen.<br />

Selbst wenn ich völlig isoliert im Wald leben würde, wäre<br />

ich auf Trinkwasser, saubere Luft und eine intakte Pflanzenund<br />

Tierwelt angewiesen. Wir sind also nicht nur von sozialen,<br />

sondern auch von ökologischen Systemen abhängig.<br />

Freiheit lässt sich also nicht mit Unabhängigkeit gleichsetzen.<br />

Freiheit beschreibt vielmehr eine besonders günstige<br />

Form von Abhängigkeit. Das griechische Wort für Freiheit,<br />

„Eleutheria“, besagt, dass „Leute“ einer Gemeinschaft angehören.<br />

„Freiheit“ im Deutschen geht auf das gotische „frijon“<br />

zurück, was freundschaftlich lieben bedeutet. Dass sich Freiheit<br />

nur im Kontext einer wohlwollenden Mitwelt konkretisiert,<br />

ist also keine neue Erkenntnis. Doch es gibt Menschen,<br />

die in der Praxis ein bisschen freier sind als andere.<br />

Wenn ein Mensch privilegiert ist, dann genießt er ein besonderes<br />

Vorrecht, das bestimmten Umständen geschuldet,<br />

durch Gesetze festgeschrieben oder einfach im Alltag etabliert<br />

ist. Beispielsweise darf ein:e deutsche:r Staatsbürger:in ab<br />

ihrem/seinem 18. Geburtstag Volksvertreter:innen der BRD<br />

wählen. Das ist gegenüber denjenigen, die hier leben, aber<br />

nicht wählen dürfen, ein Vorteil. Ein Mensch, der in Deutschland<br />

aufgrund seiner Herkunft oder seines Geschlechts nicht<br />

diskriminiert wird, erhält leichter Zugang zu Bildung oder zu<br />

einem angesehenen Job als ein Mensch, der von Diskriminierungen<br />

betroffen ist. Ein Mensch, der wohlhabend ist, kann<br />

sich mit seinem Geld allerlei ermöglichen, wovon er träumt.<br />

Ein Mensch mit zwei gesunden Beinen kann problemlos die<br />

vielen Treppen in Wuppertal auf- und absteigen. All diese<br />

Menschen haben es leichter als andere, ihre Freiheitsrechte<br />

in Anspruch zu nehmen, beziehungsweise ihr Leben oder ihre<br />

Gesellschaft zu gestalten.<br />

Es lohnt sich demnach zu prüfen, ob unsere Mitwelt<br />

im Gleichgewicht ist, weil eben sie es ist, die Freiheiten erst<br />

ermöglicht. Wäre unsere Mitwelt gefährdet, wären es auch<br />

unsere Freiheiten. Wenn wir zugleich bedenken, dass wir als<br />

biologische Wesen Teile von Ökosystemen sind und dass wir<br />

im Zeitalter der Globalisierung mit allen Menschen dieses<br />

Planeten in Gemeinschaft leben, dann müssen wir auch dies in<br />

unsere Überlegungen mit einbeziehen. Man kann beobachten,<br />

dass die medizinische Versorgung in wohlhabenden Ländern<br />

im Schnitt besser ist als in weniger wohlhabenden. Die Gestaltungsfreiheit<br />

der jetzigen und der folgenden Generationen<br />

ist durch unseren Umgang mit unserem Planeten gefährdet.<br />

Diese Tatsache hat neulich sogar das Bundesverfassungsgericht<br />

verurteilt. Wir verbrauchen natürliche Ressourcen,<br />

ohne dass jemand für die indirekten Kosten aufkäme. Die<br />

daraus entstehenden Profite sammeln sich zu großen Teilen im<br />

globalen Norden. In der Bundesrepublik selbst wird die Schere<br />

zwischen arm und reich größer. Und weil in all diesen beispielhaften<br />

Fällen Freiheiten im Sinne von Gestaltungsmöglichkeiten<br />

und Inanspruchnahme von Rechten ungleich verteilt<br />

sind, müssen wir unser globales, soziales und ökologisches<br />

Miteinander überdenken.<br />

Wir haben den konservativen Auftrag, Gesellschaften<br />

im Sinne ihrer Werte zu erhalten. Wir haben den liberalen<br />

Auftrag, Freiheiten auszuloten. Und wir haben den sozialen<br />

Auftrag, für Gerechtigkeit zu sorgen. Wenn Privilegierte –<br />

und dazu zähle ich selbst in vielerlei Hinsicht auch – nun<br />

anerkennen müssen, dass sie vor allem deshalb bevorzugt<br />

und ein bisschen freier als andere leben können, weil andere<br />

für sie die entsprechenden Umstände geschaffen haben, dann<br />

ist es an uns, im Sinne dieser drei großen Aufgaben Vorteile<br />

abzugeben. Sollte das einmal nicht möglich sein, können<br />

wir unseren Einfluss so nutzen, dass es den Menschen und<br />

den ökologischen Systemen, von denen wir alle abhängen,<br />

möglichst gutgeht.<br />

Diejenigen, die bedürftig sind oder die diskriminiert<br />

werden, dürfen laut und selbstbewusst fordern. Wer wiederum<br />

bevorteilt ist und sich de-privilegiert, dem öffnen sich neue,<br />

tiefgreifende Erfahrungen von Freiheit und Gemeinschaft.<br />

Wann sind Sie zuletzt getrampt?<br />

Foto: Daniela Camilla Raimund<br />

DIE AUTORIN: Sina Dotzert lebt seit 2020 in Wuppertal und arbeitet als freischaffende<br />

Dramaturgin. Zuvor war sie u. a. fest an der Oper Wuppertal und an der Komischen Oper<br />

Berlin engagiert. Die ehemalige Lehramtsstudentin wirkte zudem im Schuldienst und entwickelte<br />

Theaterstücke mit jungen Laien. Sina Dotzert engagiert sich im ensemble-netzwerk, das sich für<br />

die Rechte von Theaterschaffenden einsetzt.<br />

Seite 9


DER SAND MITTENDRIN<br />

<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

Seite 10


<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

MITTENDRIN<br />

DER SAND<br />

Die Freiheit im Kiosk.<br />

Und ihr Preis<br />

Ein Rundgang durch die Welt der Büdchen in Oberbarmen und Wichlinghausen<br />

Text: Hans-Dieter Westhoff · Fotos: Max Höllwarth<br />

Kioske gibt es überall in Wuppertal, aber<br />

Endlose Öffnungszeiten als Geschäfts-<br />

mehr Shisha-Tabake gibt es beim Berliner<br />

Marktführer. Bei M & E, McEck oder dem<br />

wahrscheinlich nirgendwo so viele wie in<br />

modell<br />

Kiosk auf der Talachse. Überregional aktive<br />

Kiosk Fröhlich gibt es lose Bonbons. Bei<br />

Wichlinghausen und Oberbarmen. Es gibt<br />

Unterstützt von sechs bis sieben Familien-<br />

Spezialisten sind die Uzuns vom Bartho-Eck.<br />

Bozan, Sural oder dem Bartho-Eck werden<br />

sie an der Wichlinghauser und der Wittener<br />

mitgliedern hält Erhan Sag diesen Kiosk rund<br />

Hier gibt’s eine ganz Wand voller Clipper-Feu­<br />

Spielzeuge vom Modell-Rennwagen bis zur<br />

Straße, der Schwarzbach und der Westkotter<br />

130 Stunden pro Woche geöffnet, 365 Tage<br />

erzeuge – hunderte von Designs für Sammler<br />

rosa Prinzessin Lillifee angeboten, und ein be­<br />

Straße, aber auch mitten drin in den Wohn­<br />

im Jahr, morgens ab sieben und mindestens<br />

aus Nah und Fern. Kann man bei ihnen auch<br />

sonderer Hit ist das Wasser-Eis bei Sural für<br />

quartieren. Mindestens dreißig gibt es hier,<br />

bis Mitternacht, am Wochenende auch länger.<br />

im Internet bestellen.<br />

10 Cent pro Portion. Fast ein Kinder-Spezial­<br />

wahrscheinlich noch ein paar mehr.<br />

Überhaupt sind die Öffnungszeiten ein wich­<br />

Viele Kioske sind Paketshops, McEck<br />

kiosk ist der von Frau Gülüm an der Wittener<br />

Kösk oder Küsk ist der türkische oder<br />

tiger Faktor für die Beliebtheit der Büdchen<br />

und die Jungs von der Wichlinghauser Str.<br />

Str. 16. Hier gibt es nicht nur lose Bonbons<br />

persische Begriff für kleines Häuschen, und<br />

im Quartier. Bei Saliha Sural in der Wichling­<br />

6 für Hermes, Bartho-Eck für DHL oder der<br />

und Spielsachen, sondern auch Schulartikel<br />

nach diesem Vorbild nannte man hier vor 200<br />

hauser Straße 54 ist die Tür zum Beispiel von<br />

Kult-Kiosk von Shakan Asit an der Liegnitzer<br />

und viele Kinderzeitschriften.<br />

Jahren zuerst die vornehmen kleine Garten­<br />

6 bis 22 Uhr offen, beim Berliner Kiosk an der<br />

Str. 75 für GLS. Für Menschen mit Verwandt­<br />

pavillons Kioske. Dass heute fast alle Kioske<br />

Berliner Straße von 9 bis 3, am Wochenende<br />

schaft im Ausland bieten Kioske Telefonkarten<br />

Freiheit als selbstständige Kioskbetrei-<br />

im Wuppertaler Osten von Migranten und<br />

bis 4 Uhr, und bei Salih Bozan an der Breslauer<br />

internationaler Betreiber an, zum Beispiel<br />

ber:innen<br />

ihren Kindern betrieben werden, hat gewiss<br />

Straße 1 von 6 bis 23 Uhr.<br />

der Berliner Kiosk oder Bozan an der Ecke<br />

Für die Betreiber-Familien ist das ein zwei­<br />

nichts mit dem südöstlichen Ursprung die­<br />

Solche Zeiten kann nur bieten, wer eine<br />

Breslauer/Wichlinghauser Straße. Außerdem<br />

schneidiges Schwert. Mit den Geschäften –<br />

ses Wortes zu tun. Aber bestimmt mit dem<br />

Menge Helfer hat, fast immer aus der Familie.<br />

werden bei Treffpunkt Lotto oder McEck<br />

vom 2020er Lockdown abgesehen – sind die<br />

Wunsch nach Selbstständigkeit und Freiheit.<br />

Onkel, Schwager, Ehefrau und Kinder – alle<br />

Geld transfer-Services angeboten. Damit kann<br />

meisten eigentlich nicht unzufrieden. Aber der<br />

helfen mit, damit die Kiosktür auch zu den<br />

man Geld in die Ferne an Leute schicken, die<br />

Preis für die kleine Selbstständigkeit ist hoch.<br />

Aus der Fabrik in die Selbstständigkeit:<br />

irrsten Zeiten offenbleiben kann. Danqi vom<br />

kein Bankkonto haben.<br />

Kioskbetrieb ist ein gefährliches Geschäft.<br />

die kleine Freiheit?<br />

Wichlinghauser Markt hat seine mithelfenden<br />

Beim Kiosk-Sortiment kommt es auf die<br />

Die nächtlichen Öffnungszeiten und das leicht<br />

Saliha Sural hat es erst mit einem Döner­<br />

Söhne Mento und Emil sogar im Kiosk-Namen<br />

Lage an. Es gibt Hauptstraßen-Kioske, am bes­<br />

weiterverkaufbare Sortiment von Zigaret­<br />

laden probiert, bis er vor 13 Jahren den Kiosk<br />

M & E verewigt. Dabei gibt es auch Überra­<br />

ten an Bushaltestellen oder Kreuzungen, zum<br />

ten und Spirituosen machen die Büdchen zu<br />

an der Ecke Breslauer/Wichlinghauser Straße<br />

schungen: An der Schimmelsburg 36 betreibt<br />

Beispiel der Berliner Kiosk oder der von den<br />

Opfern von Beschaffungskriminellen. Die<br />

in einem leeren Ladenlokal direkt unter dem<br />

das Ehepaar Ahilan Kamenthiram und Soru­<br />

Sags an der unteren Wichlinghauser Straße.<br />

Mehrzahl der Kioske ist in den letzten Jahren<br />

Nordbahntrassen-Viadukt eröffnete. Oktay<br />

poluxmy Ratnasingam den Kiosk McEck. Bis­<br />

Hier dominieren die Laufkunden, die eben<br />

Opfer von Überfällen und Einbrüchen ge­<br />

Urzun war Metall-Facharbeiter, als er vor<br />

her konnten sie die Öffnungszeiten von 8.00<br />

ein Päckchen Tabak oder einen Schokoriegel<br />

worden. Erhan Sag erzählt von maskierten<br />

zwei Jahren in den Eckladen seines Bruders<br />

bis 24.00 Uhr gemeinsam stemmen, aber jetzt<br />

brauchen. Im Wohnquartier-Büdchen domi­<br />

Räubern, Saliha Sural von gezogenen Waffen,<br />

Engin an der Bartholomäusstr. 91 einstieg.<br />

hat Frau Sorupoluxmy Vierlinge bekommen.<br />

niert der Stammkunde, der sich dort seine<br />

Danqui von erfolgreicher Verteidigung ge­<br />

Da war immer schon in Geschäft: erst eine<br />

Jetzt muss Ahilan die neuen Öffnungszeiten<br />

zwei Flaschen Feierabend-Bier holt. Man duzt<br />

gen Einbruchsversuche, während er noch im<br />

Metzgerei, dann ein Lebensmittelladen und<br />

von 10.00 bis 21.00 Uhr allein absitzen, wo­<br />

sich, und die richtige Zigarettenmarke liegt<br />

Hinterzimmer Ware ordnete. Shakan Asit vom<br />

jetzt der Kiosk Bartho-Eck. Herr Akbal hatte<br />

bei die stolze Mutter gewiss noch mehr und<br />

schon auf dem Tresen, bevor die Stammkun­<br />

Kult-Kiosk in der Liegnitzer Straße hat nach<br />

einen Imbiss in Hilden, bis er in den Wupper­<br />

länger zu tun hat.<br />

din oder der Stammkunde den Mund aufge­<br />

vier Attacken – zwei Einbrüche und zwei<br />

taler Osten einstieg, wo er jetzt mit Söhnen<br />

macht haben. Quartiers-Kioske führen auch<br />

Überfälle – jetzt die Nase voll. Schon bald wird<br />

und Verwandten den Treffpunkt Lotto auf<br />

Die bunte Welt des Kiosk-Sortiments<br />

ein kleines Lebensmittel-Sortiment: H-Milch,<br />

er den Baseballschläger hinter dem Tresen<br />

der Wichlinghauser Straße und den Kiosk 49<br />

Auf den ersten Blick gibt es in allen<br />

Toastbrot, abgepackten Aufschnitt, Kaffee –<br />

mitnehmen und hinter sich die Ladentür für<br />

auf der Schwarzbach hat. Herr Danqui vom<br />

Kiosken das gleiche zu kaufen: Zigaretten,<br />

für den Haushalts-Notfall halt. In Zeiten des<br />

immer zumachen.<br />

Kiosk M & E am Wichlinghauser Markt wech­<br />

Getränke, Süßigkeiten und Snacks halt. Auf<br />

Pandemie-Lockdowns haben die Kioske dieses<br />

Denn da sind auch immer wieder die<br />

selte vom Zustellfahrer für Großhändler und<br />

den zweiten Blick hat jedes Lädchen seine<br />

Sortiment sogar aufgestockt, zum Beispiel bei<br />

endlosen Öffnungszeiten, von denen die<br />

Restaurants in die Selbstständigkeit, und Senli<br />

Spezialitäten, die für das Geschäft immer<br />

McEck oder bei M & E. Dort oder bei Sural<br />

Lebens kraft ganzer Familien verschlungen<br />

vom Kiosk Fröhlich an der Schwarzbach 183<br />

wichtiger werden, denn die Umsätze mit Tabak<br />

gibt’s morgens auch Brötchen.<br />

wird. Frau Gülüm vom „Kinder-Kiosk“ an der<br />

war Offsetdrucker. Erhan Sag verlor vor sechs<br />

und Schnaps nehmen seit Jahren ab; außer­<br />

Wittener Straße ist sich da eigentlich sicher:<br />

Jahren seinen Job bei Brose in Ronsdorf. Dann<br />

dem sind die Tankstellen arge Konkurrenten.<br />

Ohne Kinder geht es nicht<br />

„Kiosk-Selbstständigkeit ist keine Freiheit,<br />

beschloss er, sich selbstständig zu machen, ließ<br />

Deshalb haben einige unserer Lädchen beim<br />

Büdchen sind nicht nur für Raucher,<br />

sondern ein selbst gewähltes Gefängnis.“<br />

sich seinen Arbeitslosengeld-Anspruch beim<br />

Thema Rauchen und Zubehör mächtig aufge­<br />

Migranten und Getränkefreunde da, sondern<br />

Arbeitsamt auszahlen und übernahm mit die­<br />

rüstet. Bei Sural an der Wichlinghauser 54 gibt<br />

ganz besonders für Kinder. Wahrscheinlich<br />

sem Startgeld den Kiosk an der Wichlinghauser<br />

es eine Menge Shishas, beim Treffpunkt Lotto<br />

sind Kiosk-Betreiber im Wohnviertel beim<br />

Mehr Büdchen und ihre Besitzer:innen findest du<br />

Straße 6, direkt an der Bushaltestelle.<br />

ein großes Tabak-Sortiment dafür, und noch<br />

Umsetzen von Taschengeld in Kinderglück<br />

hier: www.die-wueste-lebt.org/der-sand<br />

Die TABAKBÖRSE<br />

Legendär und umstritten: <strong>Der</strong> Kiosk auf dem Berliner Platz war über viele Jahre<br />

Stein des Anstoßes für die einen und beliebter Treffpunkt für die anderen.<br />

An der Tabakbörse gab es Bier, Drogen und ab und zu eine Prügelei. Viele<br />

Anwohner:innen und Passant:innen fühlten sich gestört von den Kiosk-<br />

Besucher:innen, nannten sie „Trinker“, „Junkies“ oder „Penner“. Oft kam<br />

die Polizei. Die Menschen, die sich hier trafen, sollten weg.<br />

Im September 2021 schuf die Stadt Fakten und ließ den Kiosk abreißen.<br />

Jetzt erinnern nur noch die Spuren der Steine an ihn.<br />

„Mich haben die Menschen nicht gestört“, sagt Isabell Hanisch, die<br />

Inhaberin des Eis-Cafés Barocco schräg gegenüber. „Aber aus gastronomischer<br />

Sicht und für den Platz ist es jetzt besser so. Es gab immer wieder<br />

Leute, die der Anblick abgeschreckt hat, und manche hatten auch Angst.“<br />

Alle Probleme gelöst? Bea kommt seit 12 Jahren auf den Platz; gemeinsam<br />

mit ihren Freund:innen saß sie immer gerne auf dem Mäuerchen<br />

vor der Tabakbörse. Bis zuletzt kämpfte sie für den Erhalt des Kiosks;<br />

sie sammelte über 1000 Unterschriften und schickte sie an die Stadt.<br />

Vergeblich.<br />

Bea hat einen wichtigen Ort verloren: „Ich fände es besser, wenn es<br />

mehr Toleranz für uns gäbe“, sagt sie: „Wir sind nicht nur Leute mit einer<br />

Alkohol- oder Drogenproblematik, sondern Menschen wie du und ich.<br />

Oberbarmer. Jetzt treffen wir uns halt woanders“.<br />

„Woanders“ liegt nur ca. 100 Meter entfernt, auf der anderen Seite des<br />

Platzes. „Sie werden uns nicht wegkriegen“, beharrt Bea, „wir gehören<br />

auch dazu.“ Die Getränke holt man sich nun vom Point Pedro.<br />

Die Redaktion<br />

Seite 11


DER SAND MIKROKOSMOS<br />

<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

Wir müssen reden!<br />

<strong>Der</strong> alltägliche Straßenkampf –<br />

Lärm, Parkplätze, Müll und Hundekacke<br />

Von Rainer Lucas<br />

Nun bin ich nach 40 Jahren Wuppertal in<br />

Wichlinghausen­Süd gelandet, aus dem betulichen<br />

Unterbarmen in einer Spielstraße,<br />

die ums Eck geht. Hier stehen gepflegte altbergische<br />

Fachwerkhäuser der dort lebenden<br />

Eigentümer neben heruntergekommenen<br />

Mietshäusern mit BewohnerInnen, die wenig<br />

Geld haben. Die sozialen und kulturellen<br />

Unterschiede führen im Straßenleben zu einer<br />

bunten Mischung von Menschen unterschiedlicher<br />

Herkunft.<br />

Hier geht es lebendiger zu als in Unterbarmen,<br />

und vieles spielt sich direkt auf der<br />

Straße ab. Die Sitzbänke laden zum Verweilen<br />

ein, die Alten reden über ihre Wehwehchen,<br />

die Frauen übers Einkaufen, die Männer<br />

über ihre Autos, und die Kinder bilden Rudel,<br />

fahren Rad oder spielen Ball. Dieses soziale<br />

Leben gefällt mir, und ich lerne viel über andere<br />

Kulturen und Sitten. Es hat sich inzwischen<br />

herumgesprochen, dass meine kleine Werkstatt<br />

gut bestückt ist: Werkzeuge für kleine<br />

Fahrradreparaturen, Wagenheber, Ballluftpumpe<br />

– es gibt immer was zu tun. Aber dieses<br />

Miteinander wird im Alltag auch auf die Probe<br />

gestellt, insbesondere dann, wenn sich jemand<br />

Freiheiten nimmt, ohne Rücksicht zu nehmen<br />

auf die Bedürfnisse der Nachbarn oder das allgemeine<br />

Wohlergehen. Ein paar Beispiele:<br />

Zwischen Weltmusik, WDR 4<br />

und den Rolling Stones<br />

Es ist Sonntag, die Kirchenglocken läuten, aber<br />

nicht mehr so oft wie früher. Neue Töne dringen<br />

an mein Ohr. Gegenüber hören die arabischen<br />

Mädchen ihre Hitparade, im Hinter hof<br />

dudelt WDR 4. Soll ich nun auch noch einen<br />

kulturellen Beitrag leisten? Ich lege die Stones<br />

auf, laut, damit jeder die Botschaft mitkriegt:<br />

„I‘m free to do what I want<br />

any old time (…) But I‘m free,<br />

any old time, to get what<br />

I want.“<br />

Jederzeit kann ich machen was ich will? Wohl<br />

doch nicht, denn es klopft von oben. Offensichtlich<br />

fühlt sich da mein Nachbar gestört.<br />

Ist es nur die Lautstärke oder auch der ungewohnte<br />

Sound? Für Beschwerden in dieser<br />

Angelegenheit ist bei der Stadt Wuppertal eine<br />

Dienststelle für Gefahrenabwehr zuständig.<br />

Anzeigen sind aber selten von Erfolg gekrönt,<br />

da der Sachverhalt „laute Musik“ in der Regel<br />

bestritten wird. Vielleicht gibt es ja noch andere<br />

Möglichkeiten, das zu klären?<br />

Ballspielen und Gassi gehen<br />

Ich spiele auf der Spielstraße mit meinem Enkel<br />

Fußball. Da geht ein Fenster auf und eine<br />

Frau ruft: „Hier wird nur mit Softball gespielt,<br />

Lederbälle sind nicht erlaubt!“ Rückfrage<br />

meinerseits: „Wieso?“ Antwort: „Die parkenden<br />

Autos könnten beschädigt werden“. Also habe<br />

ich einen kleinen Plastikball angeschafft, der<br />

bei meinem Enkel aber wenig Anklang findet.<br />

An dieser Stelle muss ich doch einmal<br />

grundsätzlicher werden. Was ist das für eine<br />

merkwürdige Spielstraße, in der auf 200<br />

Meter Länge 32 Stellplätze für Pkws eingerichtet<br />

sind (plus „wilden Parkern“ komme ich<br />

ab 20 Uhr auf 40 Autos). Das sind mehr Autos<br />

als Kinder; schätzungsweise spielen 20 bis 30<br />

Kinder bei schönem Wetter auf der Straße.<br />

Einmal im Monat kommt eine Politesse vorbei,<br />

die schaut, dass alle wie vorgesehen parken<br />

und verteilt das ein oder andere „Knöllchen“.<br />

Aber nach den Kindern schaut keiner.<br />

Diese Spielstraße ist inzwischen auch ein<br />

Hundepfad. Die vielen Bäume und die schönen<br />

Beete werden morgens früh und nachmittags<br />

stark von Hunden für ihr Geschäft genutzt.<br />

Natürlich in Begleitung ihrer Besitzer. Das<br />

stinkt irgendwie zum Himmel, ganz real, aber<br />

auch grundsätzlich. Da nützen auch die vielen<br />

Verbotsschilder nicht. Hat Wuppertal nicht<br />

ein Hundeverbot auf Spielplätzen, und wieso<br />

gilt das nicht für eine Spielstraße? Ein solches<br />

Problem kann nicht dadurch gelöst werden,<br />

dass die Nachbarn sich darüber verständigen,<br />

ob Kinder oder Hunde wichtiger sind.<br />

Müllpalmenaktion mit Nachbarskindern Foto: Rainer Lucas<br />

Das schnelle, süße Frühstück<br />

auf der Straße<br />

Ein Frühstück am Küchentisch ist anscheinend<br />

nicht mehr üblich. Viele Schulkinder verspeisen<br />

noch schnell einen Snack auf dem Weg<br />

zur Schule, und die bunten Verpackungen<br />

landen dann auf der Straße. Da ist alles dabei:<br />

Milchschnitte, Schokolade, Kakao, Limo. Und<br />

neuerdings auch zahlreiche Schutzmasken.<br />

Soweit es meinen Straßenabschnitt betrifft,<br />

sammele ich das jeden Tag ein. Für die ganze<br />

Straße ist die Kehrmaschine der ESW zuständig,<br />

die aber nur einmal pro Woche<br />

kommt. Betroffen von dieser Müllflut sind<br />

auch die schönen Blumenbeete, die einige<br />

Nachbarsfrauen angelegt haben. Soll ich jetzt<br />

den Müllwart spielen und die Kinder ermahnen?<br />

Ist wohl nicht so zielführend. Außerdem<br />

müsste ich dann früher aufstehen.<br />

Freiheit und die Palme als<br />

Müllbotschafterin<br />

Wie die Beispiele zeigen, ist „Freisein“ in<br />

Wichlinghausen nicht so einfach. Wie können<br />

die damit verbundenen Konflikte gelöst<br />

werden? Die „Bullen“ rufen, Überwachungskameras<br />

anbringen, den Blockwart spielen?<br />

Autoritäre Maßnahmen sind nicht so mein<br />

Ding. Sie lösen auch meistens nicht das<br />

Problem, sondern verschieben es nur auf<br />

eine andere Ebene: Macht! Das Recht des<br />

Stärkeren, der große Bruder, der alles regelt.<br />

Nein, danke!<br />

Ich muss dann wohl selbst aktiv werden, sonst<br />

krieg ich schlechte Laune. Denn insbesondere<br />

der Müll und die Hundescheiße bringen mich<br />

an manchen Tagen auf die Palme.<br />

Beim Anblick meiner drei Meter hohen<br />

Palme, die ich seit 40 Jahren pflege, kommt<br />

mir dann doch noch eine Idee. Und mitten im<br />

Nachdenken darüber, wie und wann ich was<br />

mache, klingeln 3 Nachbarskinder und fragen,<br />

ob die Automatten, die auf der Straße liegen,<br />

mir gehören. Natürlich nicht. Aber wir kommen<br />

ins Gespräch und ich erzähle von meiner<br />

Idee, die Palme als Müllbotschafterin auf die<br />

Straße zu stellen. Gesagt, getan! Ich stelle gemeinsam<br />

mit den Kindern Palme samt Hocker<br />

als Untersatz vor das Haus. Dann sammle ich<br />

mit den Kindern den Frühstücksmüll von der<br />

Straße und wir hängen die Fundstücke mit<br />

Wäscheklammern an die Palme. Die Kinder<br />

bemalen ein Schild, auf dem steht: „Wo gehört<br />

der Müll hin?“ (Siehe Foto). <strong>Der</strong> ungewöhnliche<br />

Aufbau weckt gleich die Neugier<br />

der Nachbarn, die gerade vorbeikommen.<br />

Yusuf von gegenüber hält mit seinem Lieferwagen<br />

an und fragt: „Warum?“, und ich sage:<br />

„Anstoß zum Nachdenken, Müll gehört nicht<br />

auf die Straße.“ – „Gut so“, sagt er und fährt<br />

weiter. Auch die Fahrrad­Jungs melden sich<br />

zu Wort: „Sowas machen wir nicht!“<br />

Die Wirkung meiner Aktion ist begrenzt<br />

auf mein unmittelbares Umfeld. Ob das auch<br />

anderswo funktioniert, weiß ich nicht. Aber es<br />

wäre schön, wenn es in Wichlinghausen mehr<br />

solcher Aktionen gäbe. Mit oder ohne Palme,<br />

Hauptsache man spricht miteinander. Und<br />

damit die Gespräche etwas länger dauern<br />

können, stelle ich noch drei Stühle raus, vielleicht<br />

gibt es ja noch mehr Gesprächsbedarf,<br />

nicht nur über Müll, sondern auch über die<br />

schönen Seiten des Lebens. Ich werde mich<br />

diese Woche nochmal auf einen der Stühle<br />

setzen und mal gucken, was passiert. Wie ich<br />

das mit der Hundekacke ansprechen soll, weiß<br />

ich noch nicht. Die kann ich ja nicht an die<br />

Palme hängen.<br />

Herzlichen Dank für die Hilfe und den spontanen<br />

Mülleinsatz an Emily, Miri und Leonie!<br />

Teile Deine Erfahrungen /<br />

Deine Meinung unter:<br />

info@die-wueste-lebt.org<br />

Seite 12


<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

WIDERSTAND<br />

DER SAND<br />

Das<br />

falsche<br />

Kreuz<br />

Bernhard Letterhaus –<br />

ein freier frommer Barmer<br />

Von Hans-Dieter Westhoff<br />

Ernst Gerd Jentges: Porträt Bernhard Letterhaus<br />

Die Hauptschule auf dem Rott ist nach<br />

ihm benannt und ebenso die kleine<br />

Straße auf der Westseite des Alten<br />

Markts, zwischen Wirkerstraße und<br />

Wupper. Bernhard Letterhaus gehört<br />

also zu den städtischen Prominenten,<br />

die es posthum auf Schul- und Straßenschilder<br />

geschafft haben. Aber er war<br />

kein Bürgermeister, Maler oder Dichter,<br />

sondern ein Bandwirker und Gewerkschafter<br />

vom Rott, gleichzeitig frommer<br />

Katholik, später Politiker und Widerstandskämpfer<br />

im Dritten Reich. 1944<br />

wurde er von den Nazis gehängt.<br />

Strammer Katholik unter Pietisten<br />

<strong>Der</strong> 1894 in Barmen geborene Bernhard<br />

Letterhaus wächst, mitten im pietistischevangelischen<br />

Wuppertal, in einer streng<br />

katholischen Familie auf. Natürlich will er<br />

Priester werden, aber nach acht Jahren Volksschule<br />

geht er als Lehrling in die Bandwirkerei,<br />

dann an die Textilfachschule in der Gewerbeschulstraße<br />

und anschließend als Soldat in die<br />

Schützengräben des 1. Weltkriegs. 1918 hat<br />

er mit der Misere der Industriearbeiter und<br />

der Hölle des Stellungskriegs genug Elend<br />

kennengelernt. Er wird Gewerkschafter im<br />

Katho lischen Arbeiterbund (KAB) – Spitzname:<br />

Stichflamme – und wenig später auch<br />

Politiker in der Zentrumspartei.<br />

Diese ist im Kaiserreich und in der Weimarer<br />

Republik die katholische Volkspartei<br />

mit, ähnlich wie später die CDU, unternehmerfreundlichen<br />

und gewerkschaftlich orientierten<br />

Flügeln. Bis zur Machtübernahme der<br />

Nazis ist das Zentrum ziemlich einflussreich.<br />

In fast jeder Regierung von 1919 bis 1933<br />

sitzen Zentrums-Minister; auch der letzte<br />

Kanzler vor Hitler, Franz von Papen, ist ein<br />

Zentrums-Mann, allerdings einer von der monarchistischen<br />

Rechten. Dieser tritt 1932/33<br />

aktiv für eine Aufnahme der NSDAP in die<br />

Regierung ein, um diese in der gemeinsamen<br />

Koalition zu „zähmen“. Was kommt, ist bekanntlich<br />

keine Zähmung der Nazis, sondern<br />

die Machtergreifung Hitlers.<br />

Bernhard Letterhaus gehört als Gewerkschaftsmann<br />

zum linken Zentrums-Flügel und<br />

steht von Anfang an in scharfer Gegnerschaft<br />

zu den Nationalsozialisten. Ihm geht es um<br />

die Emanzipation der Arbeiter, zum Beispiel<br />

bei der Gründung der katholischen Arbeiter-Internationalen<br />

1928 in Köln: „Eine katho­<br />

lische Arbeiterbewegung, die die Freiheit und<br />

Gleichberechtigung der Lohnarbeiterschicht<br />

will, deren Ziel es ist, die Stand werdung der<br />

Arbeiterschaft zu erreichen, muss danach<br />

streben, der ganzen Wirtschaft wieder einen<br />

Sinn zu geben, in ihr die Dienstidee am Menschen<br />

durchzusetzen.“<br />

Das falsche Kreuz<br />

Als Mitglied im Preußischen Landtag nennt<br />

er 1929 Hitler, Göring, Göbbels und Freisler<br />

„Größenwahnsinnige, Volksbetrüger, Hohlköpfe<br />

und Abenteurer, die das Volk ins Unglück<br />

stürzen werden“. 1930 spricht er auf<br />

dem Katholikentag in Münster vom Hakenkreuz<br />

als dem „falschem Kreuz“, mit dem die<br />

Nazis „die Herzen des leidenden Volkes verwüsten“.<br />

Weil er – im Gegensatz zur Mehrheit<br />

der Zentrums-Fraktion im Reichstag – das Ermächtigungsgesetz<br />

ablehnt, bleibt er im März<br />

1933 der Abstimmung im Landtag fern, und er<br />

wirbt auch nach 1933 in katholischen Kreisen<br />

für den Widerstand gegen das NS-Regime.<br />

Bei Kriegsbeginn 1939 wird er eingezogen;<br />

ab 1942 ist er in der Presseabteilung der<br />

Wehrmacht aktiv. Hier trifft er Menschen<br />

wie Ludwig Beck und Carl Goerdeler, die am<br />

20. Juli 1944 den Putsch gegen Hitler versuchen<br />

werden. Auch mit seinen katholischen<br />

Freunden berät er sich im „Kölner Kreis“ und<br />

gehört schließlich zum führenden Kern der<br />

Widerstandskämpfer, der bereit ist, nach dem<br />

Umsturz das Amt des politischen Beauftragten<br />

im Münsterland zu übernehmen und als<br />

Aufbauminister der neuen Regierung tätig zu<br />

werden. Am 25. Juli 1944 wird er verhaftet,<br />

am 13. November 1944 zum Tode verurteilt<br />

und am folgenden Tag in Plötzensee erhängt.<br />

Die Stichflamme brennt nicht mehr.<br />

Seite 13


DER SAND IM FOKUS<br />

<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

FREIHEIT<br />

Eine Recherche der Mobilen Oase<br />

mit Pop-Up-Foto-Studio an der B 7<br />

Interviews: Roland Brus<br />

Fotos: Mirela Hadžic<br />

Casting: Daniela Camilla Raimund<br />

Mehr zum Making-Off der Aktion fi ndest du unter: www.die-wueste-lebt.org/der-sand<br />

Samia<br />

Freiheit muss man sich verdienen. Für mich gibt es nur<br />

ein Gesetz: Energie kommt zurück, egal ob gute oder<br />

schlechte. Ich glaube, wenn ich andere leben lasse, darf<br />

ich leben. Wenn ich andere frei lasse, darf ich frei sein.<br />

Ich bin seit 12 Jahren Veganerin. Weil ich mich immer<br />

philosophisch gefragt habe, was ist der Sinn des Lebens<br />

und was mache ich falsch? Warum ist das alles hier so<br />

düster und schmerzhaft? Ich sehe dieses Gesetz, da wo<br />

man die Tiere frei lässt, wo man ihnen nicht wehtut, da<br />

kann man auch inneren Frieden haben. Das merke ich,<br />

am eigenen Leib. Auch die Träume änderten sich, mein<br />

Denken. Man ist einfach friedlicher und wird sozusagen<br />

mit Freiheit belohnt.<br />

Peter<br />

Ich bin Holzspielzeug-Schreiner. Ich spiele<br />

seit ein paar Jahren Theater, bei der Gruppe<br />

Bamboo, wie Antje. Das bedeutet mir sehr viel.<br />

Da gibt es viel Freiheit. Da sind wir auch spon-<br />

tan. Im Stück sind auch immer Sachen dabei,<br />

die nicht geprobt sind. Die einfach so raus<br />

kommen und das wird dann halt gemacht. Da<br />

kommen noch ganz andere Sachen raus, auch<br />

Gefühle.<br />

Wenn ich demnächst in Rente gehe, ist gut,<br />

dass man nicht einfach so dasteht. Dann hat<br />

man noch was, das Schauspiel. Dann darf ich<br />

nur noch Theater machen. Ja, das ist Freiheit,<br />

wenn ich mich dann nur doch auf diese eine<br />

Sache konzentrieren kann, sonst auf nichts.<br />

Desiree<br />

Freiheit ist vor allen Dingen Freizeit zwischen<br />

Arbeit und Privatleben. Ich bin LKW- und<br />

Busfahrerin, wir haben echt eine 60-Stundenwoche<br />

plus Heimfahrt. Ist nichts mit Sightseeing<br />

oder sowas, wie das früher mal war. Weil die<br />

LKW-Fahrer komplett überwacht werden. Die<br />

Firmen haben Fleetboard und wissen genau,<br />

wo ich gerade bin. Uhrzeit, alles. Urlaub hat<br />

man auch kaum oder kannst du nicht machen,<br />

weil man eh so wenig Geld verdient. Dann<br />

sagen sie, ja komm, dann zahlen wir euren<br />

Urlaub aus. Das ist nicht die Freiheit der<br />

Straße, eher Sklaverei.<br />

Diallo<br />

Ich komme aus Guinea. Ich bin 19 Jahre alt. Ich bin seit zwei Jahren alleine in Deutschland. Unsere Kultur ist sehr<br />

kompliziert. Meine Eltern hatten mich mit 12 Jahren beschneiden lassen. Ich wurde mit 13 verheiratet. Das war sehr<br />

schwer. Deswegen bin ich weggelaufen. Wegen der Heirat bin ich ein bisschen traumatisiert. Mein Kopf ist blockiert.<br />

Meine kleine Schwester ist wegen mir behindert. Ich habe sechs Monate geblutet. Sie hat das gesehen. Sie kann<br />

jetzt nicht sprechen. In Guinea haben die Männer Freiheit und die Frau darf nichts. Hier in Wuppertal bin ich frei.<br />

Hier kannst du zur Schule gehen, kannst du gut essen. Hier gibt es Unterstützung für Kinder. Die Menschen sind<br />

nett. Alles ist gut. Deswegen sag ich, Freiheit ist sehr wichtig für mich. Viele, auch deutsche Mädchen, wissen davon<br />

gar nichts, aber es ist wichtig.<br />

Seite 14


<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

IM FOKUS<br />

DER SAND<br />

Antje<br />

Freiheit ist ja, dass Menschen so leben können und<br />

dürfen, wie sie möchten und nicht von oben Däumchen<br />

drauf. Ich bin geistig behindert, von Geburt an.<br />

Merkt man nicht, aber bei manchen Sachen schon. Beim<br />

Sagen, Handarbeiten, Kochen. Vor allen Dingen mit<br />

Geld. Mathematik ist nicht so meins, da brauche ich<br />

schon Unterstützung. Und wenn ich einkaufen gehe und<br />

bezahlen muss, dass da einer hinter mir steht, der da<br />

drüber guckt. Ich bin in der Kerzenwerkstatt am Dönberg.<br />

Ich habe jetzt vier mal in der Woche Betreuung.<br />

Ich bin sehr freiheitsliebend. Mit der Umwelt ist es<br />

jetzt kurz vor zwölf. Die ganze Politik, die verdrängt das.<br />

Die schieben das von da nach da hinten. Das muss<br />

aufhören, dass die den Regenwald abholzen, und da<br />

in Afghanistan, der Krieg. Wir haben doch nur diese<br />

eine Erde, die von oben aussieht wie ‘ne schöne blaue<br />

Murmel. Die Politiker sollten da mal rauf und von oben<br />

gucken, was auf der Erde los ist, was in uns Menschen<br />

ist und was uns in unser aller Herzen bewegt. Ich möchte<br />

Riesenarme haben und wie ein Engel meine Arme um<br />

die Erde legen und zu allen sagen, die chaotisch sind:<br />

Haut ab! Lasst unsere schöne Erde in Frieden.<br />

Günther<br />

Das ist ein schönes Wort, Anarchie. Man sagt Anarchisten sind Chaoten.<br />

Anarchie kommt vom anarchia, aus dem Griechischen, das bedeutet: ohne Gewalt, ohne Zwang, durch Vernunft.<br />

Man macht ein Schimpfwort aus etwas, was an sich positiv ist. Die Menschen sind blöde, und ich bin nicht<br />

besser, wenn ich zum Aldi gehe, einkaufen, da gibt es Freilauf-Hühner und besondere Hühner, und ich kauf die<br />

preiswerteren. Damit unterstütze ich das System doch auch, weil mir das Hemd mehr wert ist als der Rock. So sind<br />

die Menschen.<br />

Als Kind, vielleicht so vierte, fünfte, sechste Klasse in der Volkschule in Berlin, da war ein Lehrer, wo der herkam,<br />

weiß ich nicht. Von dem hab ich ein Gedicht gelernt: „Freiheit, die ich meine, die mein Herz erfüllt, komm mit<br />

hellem Scheine, süßes Engelsbild. Magst du nie dich zeigen der bedrängten Welt? Führest deinen Reigen nur am<br />

Sternenzelt?“<br />

Ist ein ganz schönes Gedicht. Aber was hat‘s genützt?<br />

Georg<br />

Ich schlag mich durch, schon seit 30 Jahren.<br />

Gibt keine Freiheit mehr. Ich bin auf der Straße.<br />

Kommt nichts mehr rein. Die Leute haben einfach Angst.<br />

Ich krieg keine Münzen mehr, antworten tun sie auch<br />

nicht mehr, also sprechen können sie auch nicht mehr.<br />

Die haben Angst vor dem scheiß Corona-Mist. Wenn<br />

das so weitergeht, haben wir es bald hier wie in China.<br />

Keiner redet mehr, keiner hat ’ne eigene Meinung. Das<br />

läuft hier.<br />

Die Freiheit für mich ist, meine Meinung offen zu sagen.<br />

Aber das darf man ja auch nicht mehr, wenn wir jetzt zum<br />

Beispiel die Impfung anzweifeln.<br />

Dazu kam die Überfremdung, da dürfen wir auch<br />

nichts gegen sagen, dann kam die Währung, da wurden<br />

wir auch nicht gefragt, ja, und jetzt ist scheiße. Da steht<br />

doch keiner auf und sagt, wir machen nicht mehr mit.<br />

Einfach wäre, einfach die Masken weglassen, einfach<br />

weiterleben wie sonst, aber nein, geht nicht, wir werden<br />

erpresst. Impfpfl icht durch die Hintertür.<br />

Und die Maskendeals, die gelaufen sind! Die haben<br />

sich alle die Taschen vollgemacht, und was haben wir?<br />

Wir haben nichts! Wir müssen nach Münzen fragen,<br />

kriegen nichts, werden noch dumm angeguckt.<br />

Haji<br />

Ich komme aus dem Irak mit meiner Familie. Ich bin verheiratet<br />

und habe vier Kinder. Wir sind seit fünf Jahren<br />

hier. Uns geht es gut in Deutschland. Ich bin Jeside.<br />

Im Irak werden wir verfolgt, Jesiden und auch Christen.<br />

Das ist sehr schwer, sehr gefährlich, wir haben viel Krieg<br />

im Irak.<br />

Hier ist es gut, das Leben, die Kinder gehen in die<br />

Schule und haben eine Ausbildung und alles. Hier hast<br />

du viele Möglichkeiten. Aber im Irak keine. Und keine<br />

Freiheit. Alles Krieg, keiner fragt, keine Schule, manchmal<br />

gibt es eine Pause, dann wieder Krieg. Es ist alles<br />

schwer und gefährlich. Es gibt dort keine Perspektive.<br />

Hier hast du Perspektive. Viel Zeit, viele Chancen, viel<br />

Arbeit, viele Firmen. Ich hab Arbeit. Oberbarmen, alles<br />

ist schön.<br />

Ramona<br />

Jetzt haben wir auch wieder ein bisschen Freiheit, wo wir in die Stadt gehen können. In den Wald könnte man auch<br />

gehen, das wäre auch Freiheit, aber wenn ich jetzt nur in den Wald gehe, dann werde ich bekloppt. Deswegen muss<br />

ich unter Menschen sein.<br />

Freiheit heißt für mich, dass Geld keine Rolle spielt. Sodass wir einfach unser Leben leben, wie wir Lust haben.<br />

Aber es war schon immer so, dass Geld eine Rolle spielt. Es ist nicht so, dass wir wenig haben. Ich meine jetzt nicht<br />

dieses Einkaufen oder so. Ich meine jetzt wirklich so spontan irgendwo nach Spanien oder Türkei gehen ohne Geldprobleme,<br />

sowas halt.<br />

Seite 15


DER SAND HAUTNAH<br />

<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

<br />

<br />

<br />

Ein Gespräch über Freiheit und Behinderung:<br />

Besuch bei Sascha Bückemeyer<br />

Von Wilma Schrader<br />

Sascha und sein Projektassistent Markus Breuer Foto: Oskar Siebers<br />

Seite 16


<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

HAUTNAH<br />

DER SAND<br />

<strong>Der</strong> Herbst meldet sich. <strong>Der</strong> Morgen ist<br />

damit die mir nicht wegkippen – was unge­<br />

sind; der Landesverband Rheinland, der das<br />

die vorübergehend bei mir eingezogen sind.“<br />

nebelig, der Ahorn vor meinem Fenster<br />

heure Schmerzen verursacht. So hilfreich das<br />

persönliche Budget auszahlt.“<br />

Sascha Bückemeyer gibt nicht auf. Trotz<br />

leuchtet rot. Heute bin ich mit Sascha<br />

Medikament auch ist, ich bin dankbar dafür,<br />

Heidi von Schledorn, seine Pflegeassis­<br />

aller Behinderungen, trotz allen Leidens hat er<br />

Bückemeyer verabredet. Seit seiner<br />

aber durch die Nebenwirkungen bezahle ich<br />

tenz, mischt sich ein: „Es gibt keine Lobby<br />

sein Selbstbewusstsein bewahrt: Er hat durch­<br />

Kindheit leidet er an Rheuma. Mit ihm<br />

einen hohen Preis“, beschreibt Bückemeyer<br />

für Behinderte. Sie sind nicht wichtig. Sie<br />

gesetzt, dass er das „persönliche Budget“ er­<br />

will ich über Behinderung und Freiheit<br />

seinen Zustand. Von seiner Rheumaklinik<br />

werden kaserniert, behandelt und müssen<br />

hält, eine Hilfeleistung die 2001 eingeführt<br />

reden. Es ist feucht, es ist kalt. Ob es<br />

im bayrischen Oberammergau, in der er sich<br />

sich Regeln fügen, die sie nicht wollen, zum<br />

wurde. Seitdem kann er seine Pflege assistenz<br />

ihm wohl gut geht?<br />

einmal pro Jahr aufhält, ist er gut eingestellt.<br />

Beispiel täglich 20 unterschiedliche Pfleger<br />

selbst managen. Mit 30 Jahren hat er den<br />

Ich stehe in einer ruhigen Seitenstraße in<br />

Inzwischen kommt er mit 2 mg des künstlich<br />

aushalten, Menschen, die sie oftmals nicht<br />

Führer schein bestanden. Gegen zu wenig aus­<br />

Nächstebreck. Gegenüber ein verlassen wir­<br />

hergestellten Hormons pro Tag aus. Damit<br />

kennen. Immerhin sind die Dienstleistungen<br />

gezahlte Gelder wehrt sich Bückemeyer auch<br />

kendes Gebäude, vielleicht eine Schule, ansonsten<br />

bürgerlich. Bückemeyer lebt in einem<br />

schmucklosen Sechziger-Jahre-Mehrfamilienhaus.<br />

Im Hausflur eine Rampe: Hier wohnt<br />

jemand, der auf einen Rollstuhl angewiesen<br />

ist. Die Wohnungstür öffnet sich. Ein Mops-<br />

Mischling begrüßt mich schnaufend und mit<br />

wedelndem Schwanz. Eine Frau versucht,<br />

den Kleinen zurückzupfeifen. Ich betrete den<br />

schmalen Flur. Sascha Bückemeyer kommt<br />

mir in seinem Rollstuhl entgegen.<br />

Er ist kleiner und zarter als erwartet;<br />

zwei strahlend blaue Augen mustern mich<br />

aufmerksam. Er wirkt etwas distanziert und<br />

neugierig; er trägt einen roten Bart und eine<br />

Kappe mit dem gestickten Logo seines Vereins<br />

„Helfen durch Handeln“. Cool irgendwie.<br />

Er führt mich in die Küche, bietet mir einen<br />

Kaffee oder Tee an. Die Frau – offensichtlich<br />

seine Assistenz – folgt, nachdem sie ihren<br />

kleinen Hund beruhigt hat. Ich erkläre, was es<br />

mit uns auf sich hat: dass wir eine hyperlokale<br />

Zeitung herausgeben, dieses Mal zum Thema<br />

Freiheit. Sascha Bückemeyer kennt uns: „Alle<br />

<strong>Ausgabe</strong>n im Netz gefunden.“ Ich: „Und?“ –<br />

„Alles super, ich freue mich, dass Sie da sind.<br />

Außerdem braucht mein Verein ja immer<br />

wieder Aufmerksamkeit!“ Er grinst.<br />

—————————————————<br />

»Ich finde diese<br />

ständigen verbalen<br />

Fettnäpfchen nervig.«<br />

—————————————————<br />

kann er das Leben führen, das er sich vorstellt.<br />

—————————————————<br />

»Es gibt keine Lobby<br />

für Behinderte.<br />

Sie sind nicht wichtig.«<br />

—————————————————<br />

„Wie hält man es in einem solchen Körper<br />

aus?“, will ich wissen, „besonders in der Jugend?<br />

Sind die gesunden Kinder mit Ihnen gut<br />

umgegangen?“ – „Damit hatte ich nie Probleme“,<br />

sagt er. „Schon im Kindergarten habe ich<br />

mir unbewusst ein Netzwerk geschaffen, war<br />

schon immer ein Rebell, wenn es um meine<br />

Behandlung ging. Die Krankheit hat meine<br />

Freunde nie beeindruckt. Im Gegenteil, sie haben<br />

mich überallhin mitgenommen, und heute<br />

sind sie es, die mir helfen, wenn die Pflegedienste<br />

an ihre Kapazitätsgrenzen kommen.“<br />

Das Netzwerk ist so stabil, dass ihn Freunde<br />

aus Kindergartenzeiten bis heute begleiten.<br />

Die Eltern Bückemeyer waren Inhaber<br />

einer mittelständischen Druckerei. Selbstständig<br />

zu sein scheint zu Bückemeyers DNA<br />

zu gehören. Mit 15 Jahren kündigte er seinen<br />

Eltern an, später in der eigenen Wohnung<br />

leben zu wollen. „Manchmal wünschte ich mir,<br />

zehn Jahre später geboren zu sein. Da war,<br />

dank Internet, die Informationsbeschaffung<br />

schon einfacher. Ich bin sicher, vieles wäre<br />

anders gelaufen.“.<br />

2004 wagte er den ersten Schritt und zog<br />

aus. Das Wohnheim für behinderte Menschen<br />

der „Evangelischen Stiftung Volmarstein“ bot<br />

dicht am Körper und intim.“ Bückemeyer<br />

weiter: „Behinderte werden über einen Kamm<br />

geschoren. Das Pflegesystem in Deutschland<br />

zwingt Menschen in völlig absurde Situationen.<br />

Meine Betreuungsassistenz darf mir fünf<br />

Mal täglich auf das Klo helfen. Beim sechsten<br />

Mal muss ich fragen und bin dann auf das<br />

Wohlwollen meines Assistenten angewiesen.<br />

Ich habe auch schon gehört: ‚Mach‘ in deine<br />

Hose, dann darf ich dir wieder eine große Waschung<br />

anbieten‘“, erzählt Bückemeyer ruhig,<br />

legt den Kopf schief und schaut mich an, um<br />

herauszufinden, wie ich auf seine drastische<br />

Geschichte reagiere.<br />

—————————————————<br />

»Schneller,<br />

höher, weiter<br />

ist nicht mein Ding.«<br />

—————————————————<br />

Kranken Menschen, die auf Hilfe angewiesen<br />

sind, haftet das Stigma des Scheiterns an, und<br />

das in einer Gesellschaft, die Leid ignoriert<br />

und grenzenlose Freiheit aus eigener Kraft<br />

nahezu kultisch verehrt. Heidi von Schledorn:<br />

„Es gibt eine Parallelwelt, von der gesunde<br />

Menschen nichts mitbekommen. Behinderte<br />

kämpfen für sich allein. Sie organisieren sich<br />

nicht, ihnen fehlen die Kraft und das Selbstbewusstsein.<br />

Und wir, die Pflegenden, halten<br />

die staatlich diktierten Kataloge kaum aus.<br />

Mental nicht, und weil es eine körperlich<br />

schwere Arbeit ist, auch physisch nicht. Wir<br />

werden krank, wir werden schlecht bezahlt,<br />

schon mal gerichtlich. Einen zwei Jahre andauernden<br />

Prozess hat er soeben gewonnen.<br />

—————————————————<br />

»Ich würde gerne dort<br />

leben, wo es warm<br />

und trocken ist!«<br />

—————————————————<br />

Eine Mission gibt ihm Kraft: Er will sein<br />

Wissen, seine gesammelten Erfahrungen<br />

an die weitergeben, die sich allein gelassen<br />

fühlen. Die in einer Welt leben, die sie in ein<br />

unwürdiges Kontroll-System zwingt und behinderten<br />

Menschen von vorneherein die<br />

Fähigkeit zu selbstbestimmtem und freiem<br />

Handeln abspricht: „Es spricht doch Bände,<br />

dass ein volljähriger Mensch mit einer rechtlichen<br />

Betreuung in diesem Jahr das erste Mal<br />

wählen durfte. Das waren 85.000 neue Wähler.“.<br />

Im Frühjahr 2019 gründete er gemeinsam<br />

mit seinen Pflegeassistenzen und Freunden<br />

‚Helfen durch Handeln e.V.‘. Mit seinem<br />

Verein sorgt Bückemeyer für Aufmerksamkeit<br />

und veranstaltet karitative Events. Anfang<br />

2020 gründete er gemeinsam mit seinen<br />

Freunden die HdH-Betreuung, mit der er behinderten<br />

Menschen konkrete Hilfe für mehr<br />

Teilhabe anbietet. Mehr Entfaltungsmöglichkeiten<br />

und Freiheit gehören zu den Unternehmenszielen,<br />

auch für Pflegeassistenzen. Jeder<br />

Mensch soll in die Lage versetzt werden, einen<br />

gesellschaftlich wertvollen Beitrag leisten zu<br />

können, egal ob behindert oder nicht. Er selbst<br />

jedenfalls ist auf dem besten Weg dorthin.<br />

„Handicap oder Behinderung? Will ein<br />

ihm Unterschlupf. Zwei lange Jahre harrte er<br />

wir werden nicht gesehen. Das ist zermürbend.<br />

Wann sein Unternehmen wirtschaftlich arbei-<br />

Mensch, der unter körperlichen Beeinträch­<br />

dort aus, fühlte sich aber als Behinderter un­<br />

Wir beugen uns einem System, das wir völlig<br />

ten wird, lässt sich noch nicht sagen: „Das alles<br />

tigungen leidet, als Mensch mit Behinderung<br />

ter Behinderten deplatziert, wollte ein selbst­<br />

falsch finden, können uns aber nicht wehren,<br />

muss Spaß machen und darf nicht in Stress<br />

angesprochen werden?“, möchte ich zunächst<br />

bestimmtes, kein betreutes Leben führen. <strong>Der</strong><br />

weil auch uns die Kraft fehlt. Wir wollen<br />

ausarten. Schneller, höher, weiter ist nicht<br />

wissen. „Ja gut, ‚du bist behindert‘ ist meist als<br />

Zufall kam ihm zur Hilfe. Im Radio hörte seine<br />

helfen, nicht kämpfen und Steine in den Weg<br />

mein Ding. Wir nehmen uns die Zeit, die wir<br />

Beschimpfung gemeint, aber es gibt so viele<br />

Mutter von der Kokobe, einer Organisation,<br />

gelegt bekommen.“ Und Bückemeyer weiter:<br />

brauchen.“<br />

Dinge, die wir heute falsch sagen können. Ich<br />

die Jugendlichen mit Behinderung dabei hilft,<br />

„Weshalb muss ich jedes zweite Jahr den so<br />

Und welche Träume hat er für seine Zu­<br />

habe eine Behinderung und damit basta. Ich<br />

ein in ihrem Rahmen eigenständiges Leben zu<br />

genannten Hilfeplan erneuern lassen? Bei mir<br />

kunft? „Ich würde gerne dort leben, wo es<br />

kann einfach nicht alles, was andere können.<br />

führen. Die Mutter nahm Kontakt auf, und es<br />

ist doch klar, dass ich weder in 5 noch in 10<br />

warm und trocken ist! <strong>Der</strong> Winter ist für mich<br />

Ich finde diese ständigen verbalen Fettnäpf­<br />

gelang. Die Kokobe verhalf Bückemeyer zur<br />

Jahren laufen kann! Gut, es könnte schlechter<br />

die schlimmste Jahreszeit, feucht und kalt, und<br />

chen nervig“, seufzt Bückemeyer. Das wäre<br />

ersten eigenen Wohnung: „Damals konnte ich<br />

geworden sein! Ich sitze alle zwei Jahre in Ge­<br />

führt zu Rheumaschüben. Manchmal sind die<br />

also schon mal geklärt.<br />

mit der Hilfe der Mitarbeiter nach und nach<br />

genwart von mehreren Beisitzern und muss<br />

so schlimm, dass ich mich selbst nicht berüh­<br />

Sascha Bückemeyer ist 37 Jahre alt und<br />

alle mir zur Verfügung stehenden Leistungen<br />

Listen abarbeiten, in der jede menschliche<br />

ren kann, weil alles so weh tut. Ein Traum von<br />

etwa so groß wie ein sechsjähriger Junge.<br />

so zusammenstellen, dass ich ein selbststän­<br />

Verrichtung mit einem Zeitkontingent verse­<br />

mir wäre, einen Ort zu schaffen, wo Pflege­<br />

Seine Hände, klein und verformt, haben nur<br />

diges Leben in der eigenen Wohnung führen<br />

hen wird: Wie oft und wie lange gehe ich auf<br />

kräfte, alte Menschen, junge Menschen, be­<br />

wenig mit der Anatomie einer erwachsenen,<br />

konnte. Ich wollte keinesfalls mehr von meinen<br />

die Toilette, jeweils 10 Minuten? Wie viel Zeit<br />

hinderte und gesunde zusammenleben und<br />

gesunden Hand zu tun. Sie lassen ahnen, was<br />

Eltern versorgt werden. Sie haben sich keine<br />

brauche ich für das Zähneputzen, wie viel für<br />

alle Aufgaben gemeinsam bewältigen. Und ich<br />

die Krankheit mit den Knochen seines Kör­<br />

Hilfe geholt, sind wahrscheinlich nicht mal<br />

das Anziehen, das Essen. Am Ende steht dann<br />

wünsche mir, dass mein Verein wächst und<br />

pers angestellt hat. Er sitzt im Rollstuhl, kann<br />

auf die Idee gekommen. Heute möchte ich<br />

eine Stundenzahl, sagen wir mal 13. Dann<br />

ich das alles noch erlebe.“<br />

nicht gehen, wird es nie können, und er ist in<br />

nicht mehr von meiner Mutter auf die Toilet­<br />

kommt eine Beisitzerin und behauptet, dass<br />

allen seinen Bewegungen auf ein Minimum<br />

te gehoben werden. Ich möchte die Freiheit<br />

ich nur 11 Stunden benötigen würde, weil sie<br />

eingeschränkt. Seit seiner Geburt leidet er unter<br />

haben, selbst zu entscheiden, wer mich pflegt,<br />

selbst eine behinderte Tochter habe und be­<br />

Rheuma, hat Schmerzen und Entzündungen;<br />

wer menschlich zu mir passt“, sagt Bücke­<br />

urteilen könne, wieviel Zeit für die täglichen<br />

seit seinem ersten Lebensjahr bekommt er<br />

meyer. „Und selbst heute ist die Informations­<br />

Verrichtungen notwendig sei. Also bekomme<br />

Kortison. Das Medikament hat seine Knochen<br />

beschaffung noch schwierig. Die öffentlichen<br />

ich nur für 11 Stunden eine persönliche Assis­<br />

porös gemacht. Drei Rückenwirbel sind inzwi­<br />

Stellen sehen alle nur den eigenen Bereich und<br />

tenz genehmigt.“ Ich bin entsetzt: „Und was<br />

schen gebrochen: „Ich habe mehrere Titan-<br />

verwalten: die Krankenkassen, die die Gelder<br />

geschieht, wenn es mal schlecht läuft?“ Bücke­<br />

Schrauben in meiner Wirbelsäule, zwei künst­<br />

der Pflegeversicherung auszahlen; die Kom­<br />

meyer sagt trocken: „Das war im vergangenen<br />

liche Kniegelenke und versteifte Fußgelenke,<br />

munen, die für die Grundsicherung zuständig<br />

Jahr so. Aber da hatte ich ein paar Freunde,<br />

Seite 17


DER SAND FUTUR 3<br />

<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

„Freiheit ist, dass ein Mensch tragen kann, was er will, und seine Meinung<br />

sagen kann, egal ob das gut ist oder nicht; dass ein Mensch ohne Einschränkungen<br />

lebt. Freiheit ist ein dem Menschen bekanntes Wort.<br />

Ein Mensch wird frei geboren, lebt frei und stirbt frei, auch wenn seine<br />

Freiheit behindert, geraubt und eingeschränkt wird. Ohne Freiheit hat das<br />

Leben keinen Sinn, denn Freiheit ist Leben. Freiheit bedeutet, dass man<br />

rausgeht, ohne Angst zu haben.“<br />

Freiheit<br />

Freiheit heißt, all das zu machen,<br />

was man einfach machen will,<br />

unabhängig zu bestimmen ohne<br />

Zwang und ohne Drill.<br />

„Wenn kein Zwang ist, herrscht Freiheit.<br />

Wenn man selbst bestimmen kann, was man tut, ist<br />

man frei. Freiheit gehört zu den Grund- und Menschenrechten<br />

und zu jeder modernen Demokratie.“<br />

„Liebe ist Freiheit – wenn man das<br />

Geschlecht lieben kann, das man<br />

lieben will, oder auch das Geschlecht<br />

sein kann, das man sein will. Wenn<br />

ich mich in jemanden vom gleichen<br />

Geschlecht verliebe? Das ist nicht<br />

leicht, aber ich wäre stolz, Bruder!“<br />

Freiheit heißt auch, zu bestimmen,<br />

was man selbst für richtig hält,<br />

welcher Religion man huldigt, heißt,sich nicht<br />

nur mit Pfl ichten zu quälen.<br />

Freiheit heißt zu kritisieren<br />

ganz egal, zu welcher Zeit:<br />

sich das Wort nicht nehmen lassen<br />

wegen Untergebenheit.<br />

Alles ist möglich<br />

oder<br />

kann gelassen<br />

unterlassen werden.<br />

Nichts erwarten.<br />

Nichts befürchten.<br />

Frei sein<br />

bedeutet<br />

Ganz sein.<br />

„Wo ich herkomme, muss<br />

immer ein Mann dabei sein,<br />

wenn du als Mädchen oder<br />

Frau das Haus verlassen<br />

willst.<br />

Als ich sechs Jahre alt war,<br />

war ich krank. Meine Mutter<br />

dufte nicht mit mir zum Arzt<br />

gehen, wir mussten warten,<br />

bis mein Onkel kommt, dass<br />

er uns begleitet. Da bin ich<br />

fast gestorben.“<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

„Freiheit hat nicht jeder. Wir Menschen können<br />

ohne Freiheit schwer leben.<br />

Freiheit ist ein Wort, das nur versteht, wer sie<br />

verliert. Ich bin eine Person, die dieses Gefühl<br />

erlebt und ihre Freiheit verloren hat, als sie<br />

jung war, aber ich bin zurückgekommen, um mir<br />

meine Freiheit zu nehmen, weil mein Leben<br />

ohne Freiheit keinen Sinn hat.“<br />

Was wir möchten:<br />

kein Rassismus<br />

kein Mobbing<br />

Liebe<br />

Fotos: Oskarv Siebers<br />

Seite 18


<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

FUTUR 3<br />

DER SAND<br />

„Freiheit ist auch wenn man ein Zuhause hat und das Glück hat, in einem Land zu leben wo es keinen Krieg gibt.“<br />

„Freiheit hat viele Bedeutungen.<br />

Freiheit bedeutet, dass ein Mensch<br />

in Frieden lebt und tut, was er will.<br />

Freiheit ist, dass du dein Leben<br />

selbst zeichnest.<br />

Niemand sagt dir, was du tun sollst<br />

und was nicht.<br />

Wir müssen viel nachdenken, bevor<br />

wir eine Entscheidung treffen.“<br />

In meiner Heimat<br />

konnte ich nicht<br />

anziehen‚<br />

was ich wollte ̇<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Zeichne<br />

dein Leben!<br />

Moheeb, Talal, Miray, Enisa, Homan, Rem zeigen ihre Sicht auf Freiheit<br />

Schüler:innen der Hauptschule Wichlinghausen haben diese Doppelseite gemeinsam mit den Schulsozialarbeiterinnen<br />

Katharina Jungheim und Sarah Badi mit der SAND-Redaktion entwickelt. Mehr fi ndest du unter: www.die-wueste-lebt.org/der-sand<br />

Seite 19


DER SAND DIE WÜSTE LEBT<br />

<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

Die FSJ’lerinnen des<br />

BOB Campus<br />

Stadtteilservice in der<br />

Schwarzbach<br />

Foto: Oskar Siebers<br />

Theresia und Halima, machen ihr Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) beim<br />

BOB Campus. Sie unterstützen das Team, sind mit Projektpartnern in<br />

Oberbarmen und Wichlinghausen aktiv, wie der Max-Planck-Realschule,<br />

der Grundschule Wichlinghauser Straße, der Stadtteilbibliothek Wichlinghausen<br />

und der Färberei.<br />

Auf der Instagram-Seite des BOB Campus können ihnen die Follower<br />

bei ihrem „Video-Diary“ begleiten. Im Januar haben sie den „Activism Club“<br />

gestartet, eine Art AG, die sich einmal in der Woche trifft. Dort wird über<br />

wichtige Themen wie Rassismus, Sexismus, Queerphobia, Krisengebiete,<br />

Foto: Simon Veith, © BOB CAMPUS<br />

Umwelt usw. gesprochen. „Das hört sich jetzt total ernst an – es sind ja<br />

auch ernste Themen – aber wir möchten eine Art „comfort zone“ schaffen,<br />

in der man offen über Dinge reden kann, die einen beschäftigen und die<br />

einen auch selber betreffen.“ Die Themen wählt die Gruppe gemeinsam aus.<br />

Interesse dem Activism Club beizutreten und im Alter von 14 – 25 Jahren?<br />

Kontakt über: h.omer@bob-campus.de<br />

BOB Campus Projektbüro, Wichlinghauser Straße 31, 42277 Wuppertal<br />

Tel.: 0202 25 45 88 07, www.bob-campus.de<br />

<strong>Der</strong> Stadtteilservice Oberbarmen/Heckinghausen ist einer von sieben in<br />

Wuppertal. Hier bieten langzeitarbeitslose Menschen ihre Hände, Füße,<br />

Ohren und ihre Zeit an: Sie unterstützen bedürftige Bürger im Stadtteil<br />

bei ihren täglichen Erledigungen wie dem Einkaufen oder dem Gang zum<br />

Arzt, sie besuchen Menschen zu Hause oder in Senioren-Einrichtungen<br />

und verbringen Zeit mit ihnen, bei einem Spaziergang oder einer Runde<br />

Mensch ärger Dich nicht.<br />

Diese Dienstleistung ist in jedem Fall kostenfrei. Ob jung oder alt,<br />

Privatperson oder Verein: Jeder kann das Angebot in Anspruch nehmen,<br />

wenn eine Bedürftigkeit vorliegt. Wer Unterstützung benötigt, meldet sich<br />

telefonisch beim:<br />

Stadtteilservice Oberbarmen/Heckinghausen<br />

(Wichernhaus Wuppertal gGmbH) Schwarzbach 44, 42277 Wuppertal<br />

Mo — Do: 08:00 — 16:00 Uhr, Telefon 0202 89 77 164<br />

„Zuhause in Wuppertal“ ein Projekt stellt sich vor<br />

Foto: Oskar Siebers<br />

Die Mitarbeiter:innen vom Projekt „Zuhause in Wuppertal“ haben den<br />

Wunsch, dass sich neuzugewanderte Menschen aus der EU in Wuppertal<br />

zu Hause fühlen können. Sie möchten dabei unterstützen, schwierige<br />

Lebenssituationen zu verbessern und Integration zu erleichtern. Das Vorhaben<br />

schließt sich an das langjährige Projekt „Zuhause in Oberbarmen“<br />

an, sodass auch weiterhin die Anlaufstelle auf der Berliner Str. 165 dazu<br />

genutzt werden kann, Fragen und Probleme unkompliziert und ohne Termin zu<br />

klären. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, eine persönliche Beratung<br />

zu allen wichtigen Themen, wie z.B. Arbeit, Sprache und Gesundheit zu bekommen.<br />

Weil einige Teammitglieder selbst nach Deutschland zugewandert<br />

sind und mehrere Sprachen sprechen, kann Beratung in zehn verschiedenen<br />

europäischen Sprachen angeboten werden.<br />

In dem Projekt „Zuhause in Wuppertal“ arbeiten verschiedene Partner<br />

aus ganz Wuppertal zusammen. Das Ressort Zuwanderung und Integration<br />

der Stadt ist der Projektträger, Kooperationspartner sind der Caritasverband<br />

Wuppertal/ Solingen, die Diakonie Wuppertal, das Jobcenter Wuppertal<br />

AöR, der Internationale Bund, der Verein Sozialtherapeutischer Kinder- und<br />

Jugendarbeit und das Nachbarschaftsheim Alte Feuerwache.<br />

Kontakt:<br />

Berliner Straße 165, 42277 Wuppertal, Tel.: 0202 70 51 67 77<br />

Mo. — Do. 11:00 — 16:00 Uhr, Fr. 11:00 — 13:30 Uhr<br />

Teamleitung: Dana von der Mühlen, Tel.: 0202 563 4736<br />

E-Mail: dana.vondermuehlen@stadt.wuppertal.de<br />

Seite 20


<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

DIE WÜSTE LEBT<br />

DER SAND<br />

Die Fahrradmeisterei<br />

an der Nordbahntrasse<br />

Klimacontainer in Wichlinghausen:<br />

Zentrum für Nachhaltigkeit<br />

Die Nordbahntrasse begeistert seit Jahren die (Wuppertaler) Bürger:innen<br />

und lädt zum Radfahren zwischen Oberbarmen und Vohwinkel ein. Ein<br />

neues Angebot im Osten Wuppertals möchte sie dabei unterstützen:<br />

Die Fahrradmeisterei Wuppertal bietet in einer Werkstatt mit einem<br />

Ladenlokal in der Breslauer Straße 65 diverse Reparatur- und Serviceleistungen<br />

rund um das Zweirad sowie Gebrauchträder zu erschwinglichen<br />

Preisen an. Hinzu kommt eine Servicestation direkt am Wichlinghauser<br />

Bahnhof vor der Skatehalle Wicked Woods, an der „Erste Hilfe“ geleistet<br />

wird und Fahrradspenden entgegengenommen werden. Im kommenden<br />

Jahr soll das Angebot der Fahrradmeisterei zudem durch geführte Fahrradtouren<br />

und Fahrtrainings erweitert werden.<br />

Foto: Container-Gemeinschaft<br />

Passant*innen auf der Nordbahntrasse ist er bestimmt schon aufgefallen:<br />

Ein umgebauter alter See-Container direkt neben dem Bahnhof Wichlinghausen.<br />

„Die Leute halten hier oft an und fragen, was wir machen“, berichtet<br />

Andreas Röhrig vom Quartiersbüro Vierzwozwo. Tatsächlich hat sich<br />

hier seit kurzem ein kleines Zentrum für Begegnung und Nachhaltigkeit<br />

etabliert - mit steigender Strahlkraft ins Quartier.<br />

Zusammen mit der Container-Gemeinschaft werden Ideen und Veranstaltungen<br />

für eine nachhaltige Zukunft entwickelt – wie z.B. der monatliche<br />

„WirGarten“: Dort können sich die Nachbar*innen bei Getränken<br />

und Snacks austauschen und mit Vertreter*innen aus Politik und Stadtverwaltung<br />

ins Gespräch kommen.<br />

Für diese Zukunftsgespräche in gemütlicher Atmosphäre werden immer<br />

wieder andere Gäste eingeladen. „Auch sollen die Veranstaltungen<br />

Jugendliche ansprechen, die die Nordbahntrasse frequentieren“, so Projektleiterin<br />

Liesbeth Bakker vom Verein BOB Kulturwerk e.V.<br />

Informationen und aktuelle Termine:<br />

www.klimaschutz-wuppertal.de<br />

www.facebook.com/bobkulturwerk<br />

www.instagram.com/klimacontainer_wuppertal<br />

Foto: Oskar Siebers<br />

Fahrradmeisterei Wuppertal (Wichernhaus Wuppertal gGmbH)<br />

Tel.: 0202 574 98 115<br />

Werkstatt: Breslauer Str. 65 | Mo-Fr: 9:00 — 18:30 Uhr, Sa: 10:00 — 18:00 Uhr<br />

Annahme- und Servicestation: Langobardenstr. 65 | bitte nach aktuellen Öffnungszeiten<br />

auf der Website erkundigen<br />

Mehr Informationen: www.tinyurl.com/yckur4rh<br />

Willst Du Deine Initiative vorstellen?<br />

Schreib uns unter: info@die-wueste-lebt.org<br />

Gewalt – das alltägliche Grauen in Familien<br />

Die Darstellungen, wie wir sie aus Krimis kennen, sind abstoßend. Es trifft<br />

nicht unsere Freundinnen, unsere Verwandten, unsere Bekannten, unsere<br />

Nachbarn; es sind die anderen, die wir nicht kennen. Aber Gewalt in<br />

Familien gibt es auch in unserer Nachbarschaft; wer hilft dann? Zum Beispiel<br />

der Verein „Refugio – Selbsthilfe häusliche Gewalt“, ein von migrantischen<br />

Frauen gegründeter Verein für Frauen in Notlagen.<br />

Wieso Selbsthilfe? Kommt bei Gewalt nicht die Polizei?<br />

Nein, es kommt nicht immer die Polizei. Dafür werden Nachbarn zu selten<br />

aktiv, wenn es nebenan laut wird. Ein typisches Beispiel: Morgens ruft<br />

eine Frau beim Verein an. Sie sei wiederholt von ihrem Mann geschlagen<br />

worden und habe jetzt endgültig genug; sie wisse aber nicht, wie sie sich<br />

trennen soll, denn ihr Mann würde es sofort erfahren. Die Vereinsvorsitzende<br />

fährt zu ihr, holt sie erst einmal aus der Wohnung und bietet ihr in<br />

den Räumen des Vereins vorübergehend Schutz. Sie bespricht mit ihr ihre<br />

Lage und auch die Hilfsmöglichkeiten.<br />

Warum eine migrantische Organisation?<br />

„Du kennst unsere Kultur, Du verstehst mich“, hören die Vereinsmitglieder<br />

häufig. Zudem sprechen die betroffenen Frauen oftmals in Notlagen<br />

lieber ihre Herkunftssprache; sie müssen ohnehin schon nach Worten<br />

suchen, aber nicht der Sprache wegen!<br />

Was kann der Verein bieten?<br />

Außer der Hilfe in Akutsituationen auch die Stärkung durch Gesprächsgruppen,<br />

das gegenseitige Stützen, Netzwerke von Frauen für Gespräche<br />

und Freizeit. Dabei erfahren sie, dass auch andere in ähnlichen Situationen<br />

waren, ihr Leben nun anders in die Hand genommen haben.<br />

Warum bietet Refugio auch Kinder- und Jugendfreizeit an?<br />

In Familien sind nicht nur Frauen von Gewalt betroffen. Auch die Kinder<br />

leiden enorm unter den Spannungen, den Ausreden und Lügen zu Verletzungen.<br />

Einmal mit Mutter und anderen einen Ausflug zu machen, einen<br />

stressfreien Tag zu erleben, nicht immer im Familienterror lavieren zu müssen,<br />

befreit und bietet Möglichkeiten für entspannte Gespräche.<br />

Mal- und Kochkurse sowie Tanzprojekte stehen ebenfalls allen offen;<br />

in ihnen können die Betroffenen Selbstwirksamkeit erleben, lachend etwas<br />

miteinander unternehmen, sich erholen.<br />

Refugio – Selbsthilfe häusliche Gewalt e.V.<br />

Wichlinghauser Str. 38, 42277 Wuppertal (Etage Verein(t) in Wuppertal)<br />

Ansprechpartnerin: Georgina Manfredi: 0178 717 69 83<br />

Foto: Oskar Siebers<br />

<strong>Der</strong> Verein „Refugio – Selbsthilfe häusliche Gewalt“<br />

Seite 21


DER SAND SOZIALE PLASTIK<br />

<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

Schütze<br />

die Flamme!<br />

Ein Fackellauf durch Wuppertal<br />

Von Hans Neubauer · Fotos: Max Höllwarth<br />

Wuppertal – „Stadt der Performanz“<br />

Beim Performance Festival „Die Unendlichkeit des Augenblicks“ im Juni 2021 drehte sich<br />

alles um Joseph Beuys und seine Kunst. Im ehemaligen Blumenladen am Ev. Friedhof Hugostraße<br />

in Wichlinghausen eröffneten Olaf Reitz und Andy Dino Iussa ihre HEILKÜNSTLEREI<br />

mit „ICH BIN ALLE“, einem von Beuys’ Arbeit „Zeige deine Wunde“ inspirierten Projekt.<br />

Online-Version: www.heilkuenstlerei.art<br />

In Utopiastadt haben die Utopisten David Becher und Supaknut Heimann und ihr Team<br />

ihre „Registrierungs stelle für handhabbare Freiheit“ eingerichtet. Was sich dahinter verbirgt,<br />

steht online im <strong>Sand</strong>kasten: www.die-wueste-lebt.org/category/dersand<br />

Weitere Infos zu dem von Bettina Paust, Barbara Gronau, Timo Skandries und Katharina<br />

Weisheit kuratierten Beuys-Performance-Festival gibt es hier: www.wuppertal.de/beuysperformancefestival<br />

Die große Fotogalerie zum Festival: www.picdrop.com/wppt/beuys<br />

Sie steht im Grundgesetz, die Freiheit der Kunst: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und<br />

Lehre sind frei.“ Ja, so soll es sein, und diese Freiheit ist viel wert. Wieviel? Zum einen geht es<br />

auch um Zahlen: Ausgleichsgelder für von Corona betroffene Künstler, Rentenbescheide von<br />

der Künstlersozialkasse, Tarifverträge an den Stadttheatern – und natürlich die phantastischen<br />

Summen, die Jeff Koons oder Gerhard Richter für ihre Werke erzielen.<br />

Ist die Freiheit der Kunst wirklich mehr als die Projektion der sozialen Marktwirtschaft<br />

auf die Sphäre der Kreativen? „Die schöpferischen und gestaltenden Menschen sind die Basis<br />

der Kultur- und Kreativwirtschaft“, informiert das Bundesministerium für Wirtschaft und<br />

Klimaschutz auf seiner Homepage: Sie „schaffen künstlerische Qualität, kulturelle Vielfalt,<br />

kreative Erneuerung und stehen zugleich für die wirtschaftliche Dynamik einer auf Wissen<br />

und Innovation basierenden Ökonomie.“ Kunst ist allemal ein Wirtschaftsfaktor, soviel ist klar.<br />

„Was würde wohl Joseph Beuys dazu sagen?“, fragten wir uns vor einem Jahr. Warum<br />

Beuys? Zum einen, weil Beuys gerade im Fokus der „Kultur- und Kreativwirtschaft“ war: 2021<br />

feierte die Kunstwelt den 100. Geburtstag des 1986 verstorbenen Künstlers. Das sollte nicht<br />

ohne Oberbarmen und Wichlinghausen passieren, sagten wir uns und bewarben uns um einen<br />

Platz im Beuys-Veranstaltungskalender. Wir tauchten ein in Beuys‘ Welt der Eichen, Hirsche,<br />

Schlitten und Batterien. Für „I like America and America likes Me“ flog Beuys 1974 nach New<br />

York, ließ sich, eingewickelt in Filzdecken, in die Galerie René Block fahren, um dort einige Tage<br />

mit einem Kojoten in einem Raum zu leben. Eine Aktion als Rätsel, als mystische Provokation.<br />

In seiner letzten Rede erzählte Beuys, wie er als junger Mann das Foto einer Skulptur<br />

Wilhelm Lehmbrucks betrachtete: „Und in dem Bild sah ich eine Fackel, sah ich eine Flamme,<br />

und ich hörte ‚Schütze die Flamme!‘“ Dieses Erlebnis wurde für ihn zum alles entscheidenden<br />

Impuls, seine „soziale Plastik“ zu entwickeln – „zur Umgestaltung des sozialen Ganzen“.<br />

Wir von der Mobilen OASE nahmen ihn beim Wort, den toten Jubilar. Und setzten, im Olympiajahr<br />

und unter pandemischen Bedingungen, unseren besonderen Fackellauf von Wuppertal in<br />

Gang: „Politische Demonstration/ Motto: Schütze die Flamme – Für Freiheit, Frieden und die<br />

Umgestaltung des sozialen Ganzen“, trugen wir ein in das Polizei-Formular zur „Anmeldung<br />

einer Versammlung unter freiem Himmel“. Kunst-Veranstaltungen waren untersagt, also<br />

wurde es eine Manifestation. Abdulrahman Alasaad, ein Geflüchteter aus Syrien, ließ sich,<br />

eingehüllt in Filz, auf den Rasen des leeren Wuppertaler Stadions tragen. Dort nahm er die<br />

Fackel, reichte sie weiter und startete damit unseren Fackellauf. Zwanzig Läuferinnen und<br />

Läufer schützten und trugen die Flamme zehn Kilometer weit durch die Talachse bis zum<br />

Berliner Platz – Geflüchtete, Einheimische und Migranten, Junge und Alte aus Oberbarmen,<br />

Menschen mit und ohne Behinderung, mit und ohne Prominenz; die einen liefen schnell, die<br />

anderen spazierten langsam, jeder, wie er konnte, jede, wie sie wollte. Oberbürgermeister Uwe<br />

Schneidewind, Operndirektor Berthold Schneider und andere Führungskräfte aus Kultur,<br />

Politik und Wissenschaft reihten sich ein und demonstrierten mit für die „Umgestaltung<br />

des sozialen Ganzen“. Begleitet wurden sie von Velotaxis, zahlreichen Zuschauerinnen und<br />

Zuschauern, vielen Neugierigen und einer wachsamen Polizei-Eskorte.<br />

Wer dabei war, weiß, wie viel hier erzählt, gelacht und diskutiert wurde, wie schön es sein<br />

kann, Kunst einmal nicht als Werk und Wert, sondern als Ereignis zu sehen, als eine manchmal<br />

irritierende, immer wieder inspirierende gemeinsame Erfahrung. Am Ende bestand sie darin,<br />

Menschen aus den unterschiedlichsten Welten zusammenzubringen. Mit ihrem Lachen und<br />

ihren Gesprächen, ihrer Freundlichkeit und ihrer guten Laune erinnerten sie an den Auftrag,<br />

den Beuys für sich aus dem Werk des Wilhelm Lehmbruck ableitete: Schütze die Flamme, damit<br />

die Welt einmal eine bessere werde. Dafür kann sich niemand was kaufen? Eben!<br />

Seite 22


<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

FLUGSCHREIBER<br />

DER SAND<br />

Flugschreiber Oberbarmen / Wichlinghausen<br />

Stimmen zum Thema Freiheit, gesammelt bei Aktionen und Stadtspaziergängen<br />

des Stadtschreibers Roland Brus und des Mobile Oase-Teams<br />

Nicht verheiratet sein! Frei sein!<br />

Frei von Männern! Ich hab lange<br />

gebraucht, bis ich kapiert hab: „Du<br />

brauchst das gar nicht!“ Männer<br />

haben meine Freiheit eingeschränkt,<br />

nicht nur in der Sexualität. Ich konnte<br />

nicht Nein sagen.<br />

Versuch mal den Tag so zu gestalten,<br />

wie du ihn willst. Du kannst<br />

nicht einfach sagen, ich stehe jetzt<br />

auf und mache dies oder das. Zeit<br />

ist die wichtigste Währung, die wir<br />

haben. Zeit generiert Freiheit.<br />

Freiheit für mich ist: Die ganze Welt<br />

muss glücklich sein und alle Leute<br />

Frieden haben. Bei mir ist das so.<br />

Um mich frei zu fühlen, gehe ich in<br />

den Wald und schlafe da. Ich grille<br />

Steaks, beobachte das Feuer, das<br />

macht die Seele frei.<br />

Ich nehm mein Fahrrad, das ist<br />

meine Freiheit.<br />

Du musst Maske tragen, du musst<br />

aufpassen, dass du dich nicht ansteckst.<br />

Für mich ist das Freiheitsberaubung.<br />

Wenn deine Mülltonne stinkt, mach<br />

sie zu. Schmeiß das Zeug nicht auf<br />

den Boden. Ich kann nicht immer<br />

alleine den Hof und die Einfahrt<br />

sauber machen. Aber wenn wir zusammen<br />

reinigen, sauber, geht alles<br />

flott.<br />

Aber dann gibt es auch Menschen<br />

wie mich, die nicht gut sind. Glaubst<br />

du, die lassen sich vorschreiben, was<br />

zu tun und zu lassen ist? Je mehr<br />

ich ein Raubtier reize, umso gefährlicher<br />

wird das.<br />

Araber, Araber, Araber, Araber.<br />

Das tut weh. Ich bin auch Araber,<br />

seit 32 Jahren hier. Wir brauchen<br />

mehr Mischung, mehr Läden, gute<br />

Wohnungen. Ich möchte, dass die<br />

Deutschen wieder zurückkommen.<br />

Kommt bitte.<br />

Wenn mir jemand ein E-Auto aufzwingen<br />

will, das nicht mal Motorsound<br />

hat, hört es bei mir auf. Da<br />

müssen sie sich was einfallen lassen.<br />

Foto: Max Höllwarth<br />

Seite 23


DER SAND FATAMORGANA<br />

<strong>Ausgabe</strong> 3<br />

FREI<br />

HEIT<br />

AUS<br />

HAL<br />

TEN?<br />

Seite 24

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