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Der Umgang mit Sachtexten im Fachunterricht - Leseforum.ch

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<strong>Der</strong> <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> <strong>Sa<strong>ch</strong>texten</strong> <strong>im</strong> <strong>Fa<strong>ch</strong>unterri<strong>ch</strong>t</strong><br />

Josef Leisen<br />

Lead<br />

Sa<strong>ch</strong>texte <strong>im</strong> Unterri<strong>ch</strong>t haben zwei Funktionen:<br />

Online-­‐Plattform für Literalität<br />

1. Sie dienen dem Fa<strong>ch</strong>lernen, d.h. sie sind Lernmaterial und Wissensquelle zum Lernen <strong>im</strong> Fa<strong>ch</strong> und zur<br />

Entwicklung der Fa<strong>ch</strong>kompetenz.<br />

2. Sie selbst sind Lerngegenstand, d.h. sie sind Anlass und Gegenstand zum Spra<strong>ch</strong>lernen von und zur<br />

Entwicklung von Lesekompetenzen und Literalität.<br />

Die Entwicklung von Lesekompetenzen und der Sa<strong>ch</strong>fa<strong>ch</strong>literalität erfordert einen spezifis<strong>ch</strong>en <strong>Umgang</strong><br />

<strong>mit</strong> <strong>Sa<strong>ch</strong>texten</strong> <strong>im</strong> <strong>Fa<strong>ch</strong>unterri<strong>ch</strong>t</strong>. So müssen Lerner Lesestile und Lesestrategien kennenlernen, um pas-­‐<br />

send <strong>mit</strong> dem Text umzugehen. Was gelernt wurde muss au<strong>ch</strong> <strong>mit</strong> Leseübungen geübt werden, um die<br />

Lesekompetenz na<strong>ch</strong>haltig zu fördern.<br />

Aus der Si<strong>ch</strong>t der Lehrkraft, muss diese ents<strong>ch</strong>eiden, wel<strong>ch</strong>e Textsorte genutzt werden soll und in wel<strong>ch</strong>en<br />

Lesesituationen die Lerner gebra<strong>ch</strong>t werden. Vor allem muss die Lehrkraft <strong>mit</strong> der Vorstellungen vom Lese-­‐<br />

Lernen und Lese-­‐Lehren die Sa<strong>ch</strong>texte <strong>im</strong> Unterri<strong>ch</strong>t einsetzen da<strong>mit</strong> die Lernzeit gut genutzt wird. Die<br />

Lesefors<strong>ch</strong>ung und die Lerntheorien geben hier über abgesi<strong>ch</strong>erte Prinzipien Auskunft.<br />

S<strong>ch</strong>lüsselwörter<br />

Lesesituationen, Lesestrategien, <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> <strong>Sa<strong>ch</strong>texten</strong> <strong>im</strong> Unterri<strong>ch</strong>t, Textvereinfa<strong>ch</strong>ungen, Textopti-­‐<br />

mierungen.<br />

⇒ Titre, <strong>ch</strong>apeau et mots-­‐clés en français à la fin de l’article<br />

Autor<br />

Prof. Josef Leisen, Staatli<strong>ch</strong>es Studienseminar, Emil-­‐S<strong>ch</strong>üller-­‐Straße 12, 56068 Koblenz<br />

leisen@studienseminar-­‐koblenz.de<br />

www.leseforum.<strong>ch</strong> | www.forumlecture.<strong>ch</strong> – 3/2012 1


<strong>Der</strong> <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> <strong>Sa<strong>ch</strong>texten</strong> <strong>im</strong> <strong>Fa<strong>ch</strong>unterri<strong>ch</strong>t</strong><br />

Josef Leisen<br />

1. Sa<strong>ch</strong>texte, Lesesituationen und Lesestile <strong>im</strong> <strong>Fa<strong>ch</strong>unterri<strong>ch</strong>t</strong><br />

Das Angebot an <strong>Sa<strong>ch</strong>texten</strong> ist umfangrei<strong>ch</strong> und umfasst:<br />

− Authentis<strong>ch</strong>e Texte (Anleitungen, Anzeigen, Gebrau<strong>ch</strong>stexte, Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten, Kataloge, … ),<br />

− Sa<strong>ch</strong>-­‐ und Fa<strong>ch</strong>magazine,<br />

− Wissensbü<strong>ch</strong>er, Na<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>lagewerke und Lexika,<br />

− populärwissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Veröffentli<strong>ch</strong>ungen,<br />

− Biographien und Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten,<br />

− Wissens<strong>ch</strong>aftsromane,<br />

− Online-­‐Artikel und Forumsbeiträge,<br />

− Sa<strong>ch</strong>texte in Lehrbü<strong>ch</strong>ern.<br />

Sa<strong>ch</strong>texte in S<strong>ch</strong>ulbü<strong>ch</strong>ern ma<strong>ch</strong>en nur ein kleines Segment der Sa<strong>ch</strong>texte aus. Da sie jedo<strong>ch</strong> für das orga-­‐<br />

nisierte Lernen <strong>im</strong> Fa<strong>ch</strong> konzipiert und gestaltet sind kommt ihnen <strong>im</strong> <strong>Fa<strong>ch</strong>unterri<strong>ch</strong>t</strong> eine Vorzugsrolle zu.<br />

Die Didaktik des Einbezugs der anderen Sa<strong>ch</strong>texte ist no<strong>ch</strong> kaum entwickelt und könnte dur<strong>ch</strong>aus no<strong>ch</strong><br />

S<strong>ch</strong>ätze bergen.<br />

Lesesituationen <strong>im</strong> Unterri<strong>ch</strong>t sind sol<strong>ch</strong>e, in denen Sa<strong>ch</strong>texte <strong>mit</strong> einer spezifis<strong>ch</strong>en Absi<strong>ch</strong>t eingesetzt<br />

werden. Folgende Lesesituationen treten häufig <strong>im</strong> Unterri<strong>ch</strong>t auf:<br />

− Informationssu<strong>ch</strong>e dur<strong>ch</strong> selektives Lesen, z. B.: S<strong>ch</strong>üler su<strong>ch</strong>en gezielt Informationen aus einem Ab-­‐<br />

s<strong>ch</strong>nitt <strong>im</strong> Lehrbu<strong>ch</strong> heraus, die sie in der na<strong>ch</strong>folgenden Unterri<strong>ch</strong>tsphase nutzen.<br />

− Inhaltsverstehen dur<strong>ch</strong> intensives Lesen, z. B.: Die Lernenden erhalten einen Text <strong>mit</strong> Arbeitsaufträgen;<br />

die Ergebnisse werden <strong>im</strong> Plenum vorgestellt und diskutiert.<br />

− thematis<strong>ch</strong>e Erarbeitung dur<strong>ch</strong> intensives Lesen, z. B.: In arbeitsteiliger Gruppenarbeit ers<strong>ch</strong>ließen si<strong>ch</strong><br />

die Lerner anhand von Texten selbstständig neue Inhalte; diese notieren sie sti<strong>ch</strong>punktartig auf einer<br />

Folie und präsentieren sie ans<strong>ch</strong>ließend <strong>im</strong> Plenum.<br />

− Textbearbeitung dur<strong>ch</strong> selektives Lesen, z. B.: Als Hausaufgabe lesen die S<strong>ch</strong>üler einen Abs<strong>ch</strong>nitt <strong>im</strong><br />

Lehrbu<strong>ch</strong> und beantworten dazu gestellte Fragen.<br />

− Textproduktion dur<strong>ch</strong> intensives und zyklis<strong>ch</strong>es Lesen, z. B.: Als Hausaufgabe müssen die S<strong>ch</strong>üler eine<br />

Zusammenfassung zu einer Doppelseite aus dem Lehrbu<strong>ch</strong> anfertigen.<br />

− Wirkungsgesprä<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> extensives Lesen, z. B.: Na<strong>ch</strong> einem überfliegenden Lesen findet <strong>im</strong> Plenum<br />

eine Ans<strong>ch</strong>lusskommunikation als Wirkungsgesprä<strong>ch</strong> statt.<br />

− thematis<strong>ch</strong>e Erarbeitung dur<strong>ch</strong> orientierendes, extensives und intensives Lesen, z. B.: Zur Vorbereitung<br />

eines Referates erhalten die Lerner Texte, Datenmaterialien und etli<strong>ch</strong>e Internetadressen.<br />

− Texters<strong>ch</strong>ließung dur<strong>ch</strong> orientierendes, selektives, extensives, intensives und zyklis<strong>ch</strong>es Lesen, z. B.: Im<br />

Rahmen eines Lesetrainings der gesamten Jahrgangsstufe bearbeiten die S<strong>ch</strong>üler vers<strong>ch</strong>iedene Texte<br />

<strong>mit</strong> der jeweils passenden Lesestrategie.<br />

<strong>Der</strong> Verwendungszweck des Textes und die Leseabsi<strong>ch</strong>t best<strong>im</strong>men den Lesestil und die Lesete<strong>ch</strong>niken<br />

(Lesearten):<br />

− selektives (su<strong>ch</strong>endes) Lesen (scanning): Gezieltes Heraussu<strong>ch</strong>en gewüns<strong>ch</strong>ter Informationen (Wörter,<br />

Daten, Fakten) dur<strong>ch</strong> Überfliegen, um Aufgaben zu bearbeiten.<br />

− orientierendes Lesen (sk<strong>im</strong>ming): Den Text ausgehend von Übers<strong>ch</strong>riften, grafis<strong>ch</strong>en Hervorhebungen<br />

oder Bildern überfliegen, um ents<strong>ch</strong>eiden zu können, was man si<strong>ch</strong> genauer ans<strong>ch</strong>auen mö<strong>ch</strong>te.<br />

− extensives (kursoris<strong>ch</strong>es) Lesen: Häufiges und s<strong>ch</strong>nelles Draufloslesen umfangrei<strong>ch</strong>er oder vielfältiger<br />

Texte, um mögli<strong>ch</strong>st s<strong>ch</strong>nell ein globales Verständnis zu errei<strong>ch</strong>en.<br />

− intensives (detailliertes, totales) Lesen: <strong>Der</strong> Text wird intensiv <strong>mit</strong> Strategien gelesen, um ihn als Ganzes<br />

<strong>im</strong> Detail zu verstehen und zu bearbeiten.<br />

Josef Leisen 2


− zyklis<strong>ch</strong>es Lesen: Einen Text zunä<strong>ch</strong>st orientierend, dann extensiv und dana<strong>ch</strong> intensiv lesen, man<strong>ch</strong>mal<br />

wiederholt extensiv und intensiv.<br />

<strong>Der</strong> Lesestil orientiert si<strong>ch</strong> an der Leseabsi<strong>ch</strong>t : Will i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> nur kundig ma<strong>ch</strong>en, ob ein Weiterlesen lohnt,<br />

will i<strong>ch</strong> nur eine Information <strong>im</strong> Text su<strong>ch</strong>en, will i<strong>ch</strong> den Text <strong>im</strong> Detail verstehen, weil i<strong>ch</strong> daraus einen<br />

neuen Text erstellen will?<br />

<strong>Der</strong> Leseanlass und/oder der Leseauftrag muss dem Leser <strong>im</strong>plizit oder explizit <strong>mit</strong>teilen, wel<strong>ch</strong>e Leseart zu<br />

wählen ist. „Mal überfliege i<strong>ch</strong> nur, mal lese i<strong>ch</strong> es ganz genau!“ Diese Aussage des S<strong>ch</strong>ülers spiegelt ni<strong>ch</strong>t<br />

Hilflosigkeit wider, sondern Kompetenz in der passenden Wahl der Leseart. Den S<strong>ch</strong>üler in genau dieser<br />

Kompetenz zu s<strong>ch</strong>ulen, ist in allen Fä<strong>ch</strong>ern Aufgabe des Unterri<strong>ch</strong>ts.<br />

2. Leseprinzipien be<strong>im</strong> <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> <strong>Sa<strong>ch</strong>texten</strong> <strong>im</strong> Unterri<strong>ch</strong>t<br />

Dur<strong>ch</strong> Berücksi<strong>ch</strong>tigung fundamentaler Leseprinzipien für Sa<strong>ch</strong>texte kann das Leseverstehen <strong>im</strong> Unterri<strong>ch</strong>t<br />

auf die ri<strong>ch</strong>tige Spur gebra<strong>ch</strong>t und es können grobe Fehler vermieden werden. Die folgenden Prinzipien<br />

sind aus der Modellierung des Leseprozesses und aus den Überlegungen zum Aufbau einer Lesekompetenz<br />

abgeleitet.<br />

Prinzip der eigenständigen Auseinandersetzung<br />

<strong>Der</strong> Leser wird dur<strong>ch</strong> geeignete Lesestrategien und gute Arbeitsaufträge zur eigenständigen Bearbeitung<br />

des Textes angeleitet. Lesen ist keine passive Rezeption dessen, was <strong>im</strong> jeweiligen Text an Information<br />

enthalten ist, also keine bloße Bedeutungsentnahme, sondern aktive (Re-­‐)Konstruktion der Textbedeu-­‐<br />

tung, also Sinnkonstruktion. Aus dieser Modellierung folgt die unterri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Konsequenz, dass si<strong>ch</strong> der<br />

Leser <strong>mit</strong> dem Text angeleitet dur<strong>ch</strong> sinnvolle Arbeitsaufträge mehrfa<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>äftigt und so<strong>mit</strong> in einem<br />

zyklis<strong>ch</strong>en Bearbeitungsprozess Bedeutung konstruiert.<br />

Prinzip der Verstehensinseln<br />

Die Texters<strong>ch</strong>ließung geht von dem aus, was s<strong>ch</strong>on verstanden wird (sog. Verstehensinseln), und fragt<br />

ni<strong>ch</strong>t umgekehrt zuerst na<strong>ch</strong> dem, was no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t verstanden ist. In jedem Sa<strong>ch</strong>text gibt es Inseln des Ver-­‐<br />

stehens. Das sind Textteile, die von den Lesern bereits verstanden werden, aber umgeben sind von Texttei-­‐<br />

len, die ihnen no<strong>ch</strong> unverständli<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>einen. Die Unterstützung des Leseverstehens besteht nun gerade<br />

darin, ausgehend von diesen „Verstehensinseln“ das no<strong>ch</strong> Unverstandene verstehbar zu ma<strong>ch</strong>en. Das ge-­‐<br />

s<strong>ch</strong>ieht dur<strong>ch</strong> beigegebene Lesehilfen, Strategieempfehlungen. Dur<strong>ch</strong> den Blick auf das Verstandene wird<br />

das Könnensbewusstsein gestärkt.<br />

Prinzip der zyklis<strong>ch</strong>en Bearbeitung<br />

<strong>Der</strong> Leser wird <strong>mit</strong> <strong>im</strong>mer anderen Aufträgen in Zyklen zur erfolgrei<strong>ch</strong>en produktiven Bearbeitung des Tex-­‐<br />

tes angeleitet. Die zyklis<strong>ch</strong>e Bearbeitung eines Sa<strong>ch</strong>textes kann unter vers<strong>ch</strong>iedenen Perspektiven erfol-­‐<br />

gen, der fa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>-­‐inhaltli<strong>ch</strong>en, der spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en oder pragmatis<strong>ch</strong>en Perspektive. Eine intensive Auseinan-­‐<br />

dersetzung <strong>mit</strong> dem Text zwingt den Text zunä<strong>ch</strong>st orientierend, dann extensiv und dana<strong>ch</strong> intensiv zu<br />

lesen, man<strong>ch</strong>mal wiederholt extensiv und intensiv zu lesen. Das Textverstehen ist bei komplexen und an-­‐<br />

spru<strong>ch</strong>svollen <strong>Sa<strong>ch</strong>texten</strong> ein langsam aufbauender Prozess, der einer zyklis<strong>ch</strong>en Bearbeitung bedarf.<br />

Prinzip des Leseprodukts<br />

<strong>Der</strong> Leser erzeugt be<strong>im</strong> Lesen ein Leseprodukt, z.B. eine andere Darstellungsform. Sa<strong>ch</strong>texte haben <strong>im</strong><br />

Lernprozess eine S<strong>ch</strong>lüsselrolle, indem si<strong>ch</strong> die Lerner erstens <strong>mit</strong> den Sa<strong>ch</strong>verhalten auseinandersetzen<br />

und zweitens neuen „Input“ erhalten, der ein Weiterlernen eröffnet. Leseaufgaben <strong>mit</strong> eingebundenen<br />

Lesestrategien leiten dazu an und lenken so den Lernprozess. Anhand des Leseproduktes kann die Lehr-­‐<br />

kraft auf den Grad des Textverstehens s<strong>ch</strong>ließen. Weil Leseprobleme so individuell sind wie das Lesen<br />

selbst, bedarf es der individuellen Diagnose. Dazu muss der Leseprozess ausgewertet werden können.<br />

Leseprodukte ermögli<strong>ch</strong>en das.<br />

Prinzip der Ans<strong>ch</strong>luss-­‐ und Begleitkommunikation<br />

Unter Ans<strong>ch</strong>luss-­‐ und Begleitkommunikation zu einem Text wird die geplante oder ungeplante, die formelle<br />

oder informelle Kommunikation <strong>im</strong> Zusammenhang <strong>mit</strong> einer Lektüre verstanden. Ein gutes Beispiel für<br />

Begleitkommunikation <strong>im</strong> Kindesalter sind beispielsweise die Gesprä<strong>ch</strong>e zwis<strong>ch</strong>en Eltern und Kindern be<strong>im</strong><br />

Betra<strong>ch</strong>ten oder Vorlesen eines Bilder-­‐ oder Kinderbu<strong>ch</strong>es. Au<strong>ch</strong> der informelle Austaus<strong>ch</strong> von Kindern und<br />

Josef Leisen 3


jugendli<strong>ch</strong>en Lesern über ein Bu<strong>ch</strong> in der Gruppe Glei<strong>ch</strong>altriger ist ein sol<strong>ch</strong>es Beispiel, ebenso wie das for-­‐<br />

melle, von der Lehrkraft geleitete Unterri<strong>ch</strong>tsgesprä<strong>ch</strong> über den Text.<br />

Leider wird häufig zu frühzeitig und vors<strong>ch</strong>nell <strong>im</strong> Plenum über den Sa<strong>ch</strong>text bzw. über dessen Inhalte ge-­‐<br />

spro<strong>ch</strong>en, <strong>mit</strong> der Folge, dass si<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>üler – und hier insbesondere die Spra<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>wa-­‐<br />

<strong>ch</strong>en – no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t hinrei<strong>ch</strong>end selbstständig <strong>mit</strong> dem Sa<strong>ch</strong>text auseinandersetzen konnten (vgl. Prinzip der<br />

eigenständigen Auseinandersetzung). Da<strong>mit</strong> au<strong>ch</strong> diese S<strong>ch</strong>ülerinnen und S<strong>ch</strong>üler am Unterri<strong>ch</strong>tsgesprä<strong>ch</strong><br />

teilnehmen können, sollten sol<strong>ch</strong>e Gesprä<strong>ch</strong>e erst <strong>im</strong> Ans<strong>ch</strong>luss an eine intensive Eigenlektüre und erst<br />

na<strong>ch</strong> einer erfolgrei<strong>ch</strong>en Aufgabenbearbeitung am Sa<strong>ch</strong>text erfolgen. Das erstellte Leseprodukt eignet si<strong>ch</strong><br />

besonders gut für die Ans<strong>ch</strong>lusskommunikation <strong>im</strong> Unterri<strong>ch</strong>t.<br />

<strong>Umgang</strong>sformen <strong>mit</strong> <strong>Sa<strong>ch</strong>texten</strong> <strong>im</strong> Unterri<strong>ch</strong>t<br />

Be<strong>im</strong> Einsatz von <strong>Sa<strong>ch</strong>texten</strong> <strong>im</strong> Unterri<strong>ch</strong>t trifft die Lehrkraft didaktis<strong>ch</strong>e Ents<strong>ch</strong>eidungen die maßgebli<strong>ch</strong><br />

von dem vorliegenden Text oder aber von der <strong>mit</strong> dem Texteinsatz verbundenen (lese)didaktis<strong>ch</strong>en Ab-­‐<br />

si<strong>ch</strong>t best<strong>im</strong>mt sind. Die be<strong>im</strong> Texteinsatz zu treffenden Vorents<strong>ch</strong>eidungen umfassen folgende Fälle:<br />

− Dem Sa<strong>ch</strong>text werden geeignete Arbeitsaufträge beigefügt oder es werden Lesestrategien empfohlen<br />

bzw. <strong>mit</strong>gegeben (Lesestrategien).<br />

− <strong>Der</strong> Sa<strong>ch</strong>text wird <strong>mit</strong> einer vorgegebenen Lesestrategie oder Leseübung zu Trainingszwecken bear-­‐<br />

beitet (Lesetraining).<br />

− <strong>Der</strong> Sa<strong>ch</strong>text ist für eine Eigenbearbeitung in der vorliegenden Form zu lang oder zu s<strong>ch</strong>wer und wird<br />

gekürzt oder er wird an einigen Stellen vereinfa<strong>ch</strong>t und umges<strong>ch</strong>rieben (Textvereinfa<strong>ch</strong>ung).<br />

− <strong>Der</strong> Text erweist si<strong>ch</strong> als ungeeignet oder viel zu s<strong>ch</strong>wer, wird deshalb verworfen und die Lehrkraft<br />

verfasst einen neuen eigenen Text (Textopt<strong>im</strong>ierung).<br />

Insofern gibt es be<strong>im</strong> <strong>Umgang</strong> von <strong>Sa<strong>ch</strong>texten</strong> <strong>im</strong> Unterri<strong>ch</strong>t grundsätzli<strong>ch</strong> zwei Mögli<strong>ch</strong>keiten, einen of-­‐<br />

fensiven und einen defensiven <strong>Umgang</strong>:<br />

− Anpassung des Lesers an den Text: <strong>Der</strong> Leser wird in seiner Lesekompetenz ges<strong>ch</strong>ult, indem ihm Le-­‐<br />

sestrategien ver<strong>mit</strong>telt und diese trainiert werden.<br />

− Anpassung des Textes an den Leser: <strong>Der</strong> Text wird vereinfa<strong>ch</strong>t und an die Fähigkeiten des Lesers ange-­‐<br />

passt.<br />

Abb. 1: <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> <strong>Sa<strong>ch</strong>texten</strong><br />

Wenn man dem Leser langfristig die Kompetenz ver<strong>mit</strong>teln will, si<strong>ch</strong> Texte eigenständig zu ers<strong>ch</strong>ließen,<br />

dann muss ihm der Unterri<strong>ch</strong>t dazu Gelegenheiten bieten und die Texters<strong>ch</strong>ließung muss <strong>im</strong>mer wieder<br />

Josef Leisen 4


trainiert werden. Deshalb ist die Anpassung des Lesers an den Text die vordringli<strong>ch</strong>ste Aufgabe um Lese-­‐<br />

kompetenz aufzubauen und zu entwickeln.<br />

Es gibt Texte, die sind Lesern einfa<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t zumutbar. Dann ist eine Anpassung des Textes an den Leser ge-­‐<br />

boten. Es soll beispielsweise ein fa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es Problem erklärt werden. Die Erklärungen <strong>im</strong> Text sind jedo<strong>ch</strong><br />

derart unverständli<strong>ch</strong>, dass dieses Ziel <strong>mit</strong> diesem Text ni<strong>ch</strong>t errei<strong>ch</strong>t werden kann. Wenn Ers<strong>ch</strong>ließungshil-­‐<br />

fen au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t weiterhelfen, dann muss der Text vereinfa<strong>ch</strong>t oder gar komplett neu verfasst werden.<br />

Sa<strong>ch</strong>texte aus Lehrbü<strong>ch</strong>ern sind s<strong>ch</strong>on oft für mutterspra<strong>ch</strong>ige Lerner sehr s<strong>ch</strong>wer, für s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e Leser<br />

oder für Lernende <strong>mit</strong> Migrationshintergrund sind sie in der Regel spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> überfordernd. Für diese<br />

Lernergruppe müssen die Texte <strong>im</strong> Bedarfsfall an die Leser angepasst werden.<br />

3. Zehn Lesestrategien für das intensive Lesen von <strong>Sa<strong>ch</strong>texten</strong><br />

Eine Lesestrategie ist ein Handlungsplan, der hilft, einen Text gut zu verstehen. Lesestrategien zielen auf<br />

einen eigenständigen <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> Texten. Die Lesehilfen und die Arbeitsaufträge leiten und führen den<br />

Leser unterstützend dur<strong>ch</strong> die Texters<strong>ch</strong>ließung. Lesestrategien haben Werkzeug<strong>ch</strong>arakter: Mit ihrer Hilfe<br />

kann der Leser den Text mögli<strong>ch</strong>st selbstständig ers<strong>ch</strong>ließen. Es gibt eine Vielzahl von Lesestrategien, die<br />

si<strong>ch</strong> in Umfang, Anspru<strong>ch</strong>sniveau und Unterstützungsgrad unters<strong>ch</strong>eiden.<br />

Die folgenden zehn Strategien zur Texters<strong>ch</strong>ließung haben si<strong>ch</strong> bei <strong>Sa<strong>ch</strong>texten</strong> in allen Fä<strong>ch</strong>ern bewährt.<br />

Strategie 1: Fragen zum Text beantworten<br />

Dem Text sind Fragen beigefügt, die den Leser anleiten, si<strong>ch</strong> <strong>mit</strong> dem Text intensiver zu bes<strong>ch</strong>äftigen. Es<br />

handelt si<strong>ch</strong> um eine herkömmli<strong>ch</strong>e und oft eingesetzte Strategie, die bei jedem Text eingesetzt werden<br />

kann.<br />

− Man sollte <strong>mit</strong> lei<strong>ch</strong>ten Fragen beginnen und die s<strong>ch</strong>weren Fragen ans Ende setzen.<br />

− Es können Fragen gestellt werden, die si<strong>ch</strong> auf eine explizit <strong>im</strong> Text angegebene Information beziehen.<br />

Diese Fragen sind in der Regel lei<strong>ch</strong>t zu beantworten<br />

− Es können au<strong>ch</strong> Fragen gestellt werden, die si<strong>ch</strong> auf tiefer eingebettete oder <strong>im</strong>plizit angegebene In-­‐<br />

formationen beziehen. Diese Fragen werden nur no<strong>ch</strong> von einem Teil der Lernenden beantwortet und<br />

eignen si<strong>ch</strong> daher, um zu differenzieren.<br />

− S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> können au<strong>ch</strong> Fragen gestellt werden, die auf einer wesentli<strong>ch</strong> höheren Kompetenzstufe<br />

liegen: Zur Beantwortung muss der Text <strong>im</strong> Detail verstanden sein, wenn beispielsweise etwas selbst-­‐<br />

ständig erklärt werden und dabei spezielles Wissen genutzt werden muss.<br />

Strategie 2: Fragen an den Text stellen<br />

Bei dieser Strategie stellt der Leser ggf. na<strong>ch</strong> einem Vorbild selbst Fragen an den Text und beantwortet sie<br />

au<strong>ch</strong> (zumindest teilweise) selbst.<br />

− Bei der Aufgabenstellung empfiehlt es si<strong>ch</strong> anzugeben, wie viele Fragen gestellt werden sollen, wel-­‐<br />

<strong>ch</strong>es Anspru<strong>ch</strong>sniveau sie haben sollen und wie sie beantwortet werden sollen.<br />

− Mit der Methode kann man das Anspru<strong>ch</strong>sniveau differenzieren, indem man Fragen zu Einzelinformati-­‐<br />

onen verlangt, aber au<strong>ch</strong> Fragen stellen lässt, die auf die Tiefenstruktur des Textes abzielen.<br />

− Bei dieser Strategie muss vorab geklärt werden, wel<strong>ch</strong>e Fragen gestellt werden sollen:<br />

Sollen Fragen gestellt werden, auf die der Text eine Antwort gibt? Dann müssen Frage und Antwort <strong>im</strong><br />

Verstehenshorizont des Lesers liegen und das Anspru<strong>ch</strong>sniveau darf ni<strong>ch</strong>t zu ho<strong>ch</strong> sein.<br />

Sollen Fragen gestellt werden, die der Leser no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t beantworten kann, au<strong>ch</strong> wenn die notwendige<br />

Information <strong>im</strong> Text enthalten sein sollte? Dies ist oftmals der Fall, wenn es si<strong>ch</strong> um tief eingebettete<br />

Information handelt, z. B. wenn unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Textteile <strong>mit</strong>einander vernetzt oder bewertet werden<br />

müssen.<br />

Sollen Fragen gestellt werden, auf die der Text keine Antwort gibt, die den Leser aber interessieren, z.<br />

B. Fragen, die Bezüge zu anderem Wissen herstellen?<br />

− Die Beantwortung der Fragen kann u. a. dur<strong>ch</strong> Partneraustaus<strong>ch</strong> erfolgen. Besonders geeignete Fragen<br />

bzw. Antworten können <strong>im</strong> Plenum aufgegriffen werden. Die Fragen können ggf. kategorisiert und<br />

zum Weiterlernen genutzt werden.<br />

Josef Leisen 5


Strategie 3: Den Text strukturieren<br />

Bei dieser Strategie teilt der Leser den Text in Sinnabs<strong>ch</strong>nitte ein und formuliert Übers<strong>ch</strong>riften.<br />

− Diese Strategie bietet si<strong>ch</strong> bei s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t gestalteten Texten an und bei sol<strong>ch</strong>en, deren Textteile unter-­‐<br />

s<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Kategorien angehören (z. B. Informationen, Phänomene, Bes<strong>ch</strong>reibungen, Erklärungen,<br />

Interpretationen, Bewertungen, Beispiele, Erläuterungen, Kommentare, Zusätze, Exkurse, …), die ge-­‐<br />

stalteris<strong>ch</strong> aber ni<strong>ch</strong>t deutli<strong>ch</strong> voneinander abgehoben sind.<br />

− Die Strategie verlangt vom Leser zu abstrahieren, denn der Lernende muss kategorisieren und Oberbe-­‐<br />

griffe finden.<br />

− Vers<strong>ch</strong>iedene Lösungen können als Anlass zum Austaus<strong>ch</strong> <strong>im</strong> Plenum genommen und zum Weiterler-­‐<br />

nen genutzt werden.<br />

− Die Textstruktur lässt si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> am Rand dur<strong>ch</strong> Randmarken – ggf. unter Verwendung von Kürzeln –<br />

kennzei<strong>ch</strong>nen: Thema, Beoba<strong>ch</strong>tung, Erklärung, Definition, Bedingung, Merkmal, Beispiel, Zusammen-­‐<br />

fassung.<br />

− Eigene Bewertungen des Textes können dur<strong>ch</strong> Symbole am Rand vorgenommen werden: ? (= fragwür-­‐<br />

dig), ! (= wi<strong>ch</strong>tig), � (= Widerspru<strong>ch</strong>), … Fortges<strong>ch</strong>rittene Leser werden eigene Symbole verwenden.<br />

Strategie 4: Den Text <strong>mit</strong> dem Bild lesen<br />

Bei ni<strong>ch</strong>tkontinuierli<strong>ch</strong>en <strong>Sa<strong>ch</strong>texten</strong> <strong>mit</strong> Bildern, Tabellen, Grafiken oder Zei<strong>ch</strong>nungen wird der Leser zur<br />

verglei<strong>ch</strong>enden Text-­‐Bild-­‐Lektüre angeleitet.<br />

− Die Strategie umfasst u. U. au<strong>ch</strong> die Text-­‐Tabelle-­‐ oder Text-­‐Grafik-­‐Lektüre.<br />

− Die Strategie spri<strong>ch</strong>t vers<strong>ch</strong>iedene Wahrnehmungskanäle an und aktiviert das Vorwissen der Leser in<br />

unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Weise. Die we<strong>ch</strong>selseitigen Leerstellen s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong> auszufüllen ist ein guter Arbeitsauf-­‐<br />

trag.<br />

− Man<strong>ch</strong>e Leser beginnen gewohnheitsmäßig grundsätzli<strong>ch</strong> <strong>mit</strong> der Lektüre des Textes und ans<strong>ch</strong>ließend<br />

<strong>mit</strong> der des Bildes; eine andere Lesergruppe geht grundsätzli<strong>ch</strong> umgekehrt vor. Beide Vorgehenswei-­‐<br />

sen begründen si<strong>ch</strong> in der individuellen Wahrnehmung und beide haben ihre Vorzüge.<br />

Strategie 5: Den Text farborientiert markieren<br />

Sa<strong>ch</strong>texte sind gekennzei<strong>ch</strong>net dur<strong>ch</strong> Fa<strong>ch</strong>begriffe, Objekte, Personen, Gegenstände an vers<strong>ch</strong>iedenen<br />

Orten und Zeiten, die in vielfältigen Relationen zueinander stehen. Um Ordnung und Übersi<strong>ch</strong>t zu erhalten,<br />

markiert der Leser Begriffe oder Textteile vers<strong>ch</strong>iedener Kategorien farbli<strong>ch</strong> differenzierend. Dadur<strong>ch</strong> ent-­‐<br />

steht ein übersi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es Beziehungsgefüge <strong>im</strong> Text, das zur weiteren Arbeit einlädt.<br />

− Diese Strategie wirkt zunä<strong>ch</strong>st sehr formal und ohne Bezug zum Inhalt. <strong>Der</strong> Zweck liegt darin, dass sie<br />

auf na<strong>ch</strong>folgende Strategien vorbereitet. Die Fa<strong>ch</strong>begriffe sind oft Anker, für das inhaltli<strong>ch</strong>e Arbeiten<br />

am Text. Diese Strategie darf auf keinen Fall Selbstzweck sein.<br />

− Die Idee dieser Strategie besteht darin, dass si<strong>ch</strong> der Leser <strong>im</strong>mer wieder und mehrfa<strong>ch</strong> <strong>mit</strong> <strong>im</strong>mer<br />

neuen Bearbeitungsaufträgen <strong>mit</strong> dem Text auseinandersetzt (Prinzip der zyklis<strong>ch</strong>en Bearbeitung).<br />

Dur<strong>ch</strong> das s<strong>ch</strong>rittweise und gestufte Vorgehen entwickeln si<strong>ch</strong> allmähli<strong>ch</strong> Textbezüge und Sinnstruktu-­‐<br />

ren. Die der Vorgehensweise zugrunde liegende Idee sollte den Lernenden vorab verdeutli<strong>ch</strong>t werden.<br />

− Von den markierten Begriffen sind viele bekannt und fungieren als Verstehensinseln (Prinzip der Ver-­‐<br />

stehensinseln), von denen die weitere Ers<strong>ch</strong>ließung ausgehen kann.<br />

− Die farbige Markierung von Begriffen oder Textteilen vers<strong>ch</strong>iedener Kategorien knüpft an Strategie 3<br />

(Den Text strukturieren) an und ist eine gute Vorbereitung für Strategie 9 (S<strong>ch</strong>lüsselwörter su<strong>ch</strong>en und<br />

den Text zusammenfassen).<br />

Strategie 6: Den Text in eine andere Darstellungsform übertragen<br />

Die Übertragung in eine andere Darstellungsform ist Prinzip und Strategie glei<strong>ch</strong>ermaßen. Bei dieser sehr<br />

effizienten und oft einsetzbaren Strategie übersetzt der Leser den Text in eine andere Darstellungsform<br />

(Skizze, Bild, Tabelle, Strukturdiagramm, Prozessdiagramm, Mindmap, Graph, ...).<br />

− Dieser Auftrag fördert die aktive eigenständige Auseinandersetzung des Lesers <strong>mit</strong> dem Text und för-­‐<br />

dert die (Re-­‐)Konstruktion des Textverständnisses. Bei der Überführung in andere vorgegebene Dar-­‐<br />

Josef Leisen 6


stellungsformen findet das eigentli<strong>ch</strong>e Textverständnis statt. Das zwingt die Lernenden dazu, von einer<br />

anderen Seite an den Text heranzugehen.<br />

− Be<strong>im</strong> We<strong>ch</strong>seln der Darstellungsform wird der Begriffsapparat mehrfa<strong>ch</strong> umgewälzt.<br />

− Die Übersetzung in eine andere Darstellungsform ist der erste S<strong>ch</strong>ritt, si<strong>ch</strong> vom Ursprungstext zu lösen.<br />

Hierbei ist Kreativität und Abstraktionsvermögen gefordert. Oftmals wird dabei au<strong>ch</strong> das visuelle Ge-­‐<br />

dä<strong>ch</strong>tnis trainiert und veranlasst, dass si<strong>ch</strong> der Leser vom Ursprungstext löst.<br />

− <strong>Der</strong> jeweilige Text best<strong>im</strong>mt, wel<strong>ch</strong>e Darstellungsform angemessen ist. Für Prozesse sind Begriffsnet-­‐<br />

ze, Struktur-­‐ und Flussdiagramme geeignet. Mindmaps bieten si<strong>ch</strong> an, wenn der Vernetzungsgrad ni<strong>ch</strong>t<br />

zu groß ist.<br />

− Anspru<strong>ch</strong>svoll und lernfördernd ist es, wenn die Lernenden eigenständig die Darstellungsform wählen<br />

können. Dadur<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>afft man zusätzli<strong>ch</strong>e Lerngelegenheiten. Es kann aber au<strong>ch</strong> sinnvoll sein, einen<br />

Hinweis auf mögli<strong>ch</strong>e Darstellungsformen zu geben.<br />

− Bei dieser Variante kommen in der Regel vers<strong>ch</strong>iedene Lösungen zustande, die Anlass zur Kommunika-­‐<br />

tion <strong>im</strong> Plenum geben und zum Weiterlernen genutzt werden können. Eine Lehrerlösung bietet si<strong>ch</strong><br />

ggf. als Ergänzung an.<br />

− Es empfiehlt si<strong>ch</strong>, den We<strong>ch</strong>sel der Darstellungsform in Partner-­‐ oder Gruppenarbeit dur<strong>ch</strong>zuführen.<br />

Dadur<strong>ch</strong> wird der Begriffsapparat erneut umgewälzt und kommunikativ verwendet. Erfahrungsgemäß<br />

ist diese Methode dur<strong>ch</strong> eine intensive Kommunikation in den Gruppen gekennzei<strong>ch</strong>net.<br />

Strategie 7: Den Text expandieren<br />

Viele Fa<strong>ch</strong>texte sind derart verdi<strong>ch</strong>tet, dass man sie kaum zusammenfassen kann. Das Expandieren des<br />

Textes dur<strong>ch</strong> Beispiele und Erläuterungen ist in diesen Fällen die angemessene Strategie.<br />

− <strong>Der</strong> Leser expandiert den Text dur<strong>ch</strong> Anrei<strong>ch</strong>erung <strong>mit</strong> Zusätzen, Erläuterungen, Beispielen, Erklärun-­‐<br />

gen, Skizzen oder weiteren Informationen.<br />

− Diese Strategie ist dann geboten, wenn der Text ho<strong>ch</strong> verdi<strong>ch</strong>tet ist und Zusätze die Verständli<strong>ch</strong>keit<br />

erhöhen.<br />

− Meist ist ein Adressatenbezug (z.B. für deinen jüngeren Bruder, für einen Laien) sinnvoll.<br />

− Die Strategie ist sehr anspru<strong>ch</strong>svoll und erfordert hohe Kompetenzen <strong>im</strong> Berei<strong>ch</strong> des Wissens und der<br />

Darstellung. Ggf. sind weitere Hinweise und Hilfen sinnvoll.<br />

Strategie 8: Vers<strong>ch</strong>iedene Texte zum Thema verglei<strong>ch</strong>en<br />

− In Lehrbü<strong>ch</strong>ern der vers<strong>ch</strong>iedenen Verlage finden si<strong>ch</strong> zu den gängigen Unterri<strong>ch</strong>tsthemen Texte, die<br />

si<strong>ch</strong> hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> des Anspru<strong>ch</strong>sniveaus, des Spra<strong>ch</strong>niveaus, des Textumfangs, der Gestaltung, der Text-­‐<br />

verständli<strong>ch</strong>keit und der didaktis<strong>ch</strong>en Absi<strong>ch</strong>t unters<strong>ch</strong>eiden. Die verglei<strong>ch</strong>ende Bearbeitung vers<strong>ch</strong>ie-­‐<br />

dener Texte bringt einen lernfördernden Mehrwert.<br />

− Die verglei<strong>ch</strong>ende Lektüre mehrerer Texte zu demselben Thema erhöht das Verstehen. Verständli<strong>ch</strong>-­‐<br />

keitsmängel des einen Textes werden dur<strong>ch</strong> Qualitäten des anderen Textes u. U. ausgegli<strong>ch</strong>en und um-­‐<br />

gekehrt.<br />

− Dur<strong>ch</strong> den Verglei<strong>ch</strong> von Texten können die Wirkung, der Adressatenbezug und die Textart themati-­‐<br />

siert werden.<br />

− Es bietet si<strong>ch</strong> als weitere Aufgabe eine adressatenorientierte Textproduktion an. S<strong>ch</strong>reibe einen Text<br />

für: deine S<strong>ch</strong>wester <strong>im</strong> x. S<strong>ch</strong>uljahr, deinen Mits<strong>ch</strong>üler, der krank ist und den Stoff na<strong>ch</strong>holen will, für<br />

deinen Opa, der klug ist, aber aus seiner S<strong>ch</strong>ulzeit viel vergessen hat.<br />

− Eine Variante dieser Strategie ist die sogenannte Ko<strong>ch</strong>-­‐Eckstein-­‐Methode: Zunä<strong>ch</strong>st wird den Lesern ein<br />

kurzer anspru<strong>ch</strong>svoller Sa<strong>ch</strong>text zur Lektüre gegeben. Ans<strong>ch</strong>ließend wird ein zweiter Text präsentiert,<br />

den die Leser Satz für Satz dur<strong>ch</strong>gehen und beurteilen, ob die Informationen au<strong>ch</strong> <strong>im</strong> ersten Text ent-­‐<br />

halten sind (a), ni<strong>ch</strong>t enthalten sind (b), <strong>mit</strong> dem Text verträgli<strong>ch</strong>, aber ni<strong>ch</strong>t ausdrückli<strong>ch</strong> enthalten<br />

sind (c). Auf diese Weise lernen die Lerner, den ersten Text sehr genau zu lesen. Besonders effektiv<br />

zeigt si<strong>ch</strong> diese Methode, wenn sie <strong>mit</strong> metakognitiven Fragen begleitet ist, die die Selbstbeoba<strong>ch</strong>tung<br />

fördern, nämli<strong>ch</strong>:<br />

-­‐ die Eins<strong>ch</strong>ätzung des eigenen Textverständnisses,<br />

-­‐ die Einsi<strong>ch</strong>t in die Gründe für die eigenen Defizite be<strong>im</strong> Textverstehen,<br />

-­‐ die Beoba<strong>ch</strong>tung der Veränderung der eigenen Leistungen be<strong>im</strong> Textverstehen.<br />

Josef Leisen 7


Strategie 9: S<strong>ch</strong>lüsselwörter su<strong>ch</strong>en und den Text zusammenfassen<br />

Diese Strategie ist zwar fester Bestandteil <strong>im</strong> Repertoire vieler Lehrkräfte, muss aber <strong>mit</strong> Beda<strong>ch</strong>t einge-­‐<br />

setzt werden: Wenn Fa<strong>ch</strong>texte viele Fa<strong>ch</strong>begriffe enthalten, die alle als S<strong>ch</strong>lüsselwörter markiert werden<br />

könnten, dann ist diese Strategie unergiebig, zumal diese Texte kaum zusammengefasst werden können.<br />

Diese Strategie bietet si<strong>ch</strong> bei breit angelegten und expandierten Texten an.<br />

Dur<strong>ch</strong> Strategie 3 (Den Text strukturieren) und Strategie 5 (Farborientiert markieren) kann gute Vorarbeit<br />

zum erfolgrei<strong>ch</strong>en Einsatz dieser Strategie geleistet werden.<br />

− S<strong>ch</strong>lüsselwörter sollen den Text aufs<strong>ch</strong>ließen. Wie kann der Leser deren S<strong>ch</strong>lüsselbedeutung erkennen,<br />

wenn er den Text ni<strong>ch</strong>t oder nur teilweise versteht? Er kann allenfalls „interessante“ oder „verdä<strong>ch</strong>ti-­‐<br />

ge“ Wörter als vermeintli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>lüsselwörter markieren. Erst wenn man den Inhalt verstanden hat, ist<br />

man fähig, S<strong>ch</strong>lüsselwörter zu entdecken und zu nutzen.<br />

− Eine häufig praktizierte Alternative zu dem Arbeitsauftrag lautet: „Unterstrei<strong>ch</strong>t alle Wörter, die da<strong>mit</strong><br />

oder da<strong>mit</strong> zu tun haben …“ Die Lerner können nun erfolgrei<strong>ch</strong>er am Text arbeiten, allerdings ist das<br />

Ents<strong>ch</strong>eidende vom Lehrer vorgegeben. Die eigentli<strong>ch</strong>e Aufgabe, das eigenständige Su<strong>ch</strong>en der S<strong>ch</strong>lüs-­‐<br />

selwörter, wird ihnen abgenommen.<br />

o Mit folgenden Aufträgen kann die Lehrkraft Hilfestellungen geben:<br />

Drei-­‐Stufen-­‐Verfahren: „Markiere <strong>mit</strong> dem Bleistift erst Wörter, die du als S<strong>ch</strong>üsselwörter ver-­‐<br />

mutest. Verglei<strong>ch</strong>e ans<strong>ch</strong>ließend deine S<strong>ch</strong>lüsselwort-­‐Kandidaten <strong>mit</strong> deinem Na<strong>ch</strong>barn. Zum<br />

S<strong>ch</strong>luss werden sie gemeinsam in der Klasse verhandelt.“<br />

o Vors<strong>ch</strong>läge sammeln und gemeinsam kategorisieren: „Ma<strong>ch</strong>t Vors<strong>ch</strong>läge. Wel<strong>ch</strong>e Wörter sollen<br />

wir unterstrei<strong>ch</strong>en?“<br />

Anzahl der S<strong>ch</strong>lüsselwörter eingrenzen: „Unterstrei<strong>ch</strong>e <strong>im</strong> Text max<strong>im</strong>al x S<strong>ch</strong>lüsselwörter.“<br />

o Merkzettel entwickeln: „Stelle dir zu dem Text einen Merkzettel her, der max<strong>im</strong>al 10 Wörter<br />

enthalten darf.“<br />

− Die Lerner können au<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>rittweise angeleitet werden, die S<strong>ch</strong>lüsselwörter zu identifizieren: In einem<br />

ersten überfliegenden Lesen wird ein Globalverständnis angestrebt, das no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t auf ein detailliertes<br />

fa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es Verstehen ausgeri<strong>ch</strong>tet ist. Den Lernern sollte Mut gema<strong>ch</strong>t werden, si<strong>ch</strong> folgende Fragen zu<br />

stellen:<br />

-­‐ Worum geht es überhaupt?<br />

-­‐ Wie wirkt der Text auf mi<strong>ch</strong>?<br />

-­‐ Wo<strong>mit</strong> bringe i<strong>ch</strong> den Text in Verbindung? Woran erinnert er mi<strong>ch</strong>?<br />

-­‐ Was könnte wi<strong>ch</strong>tig sein?<br />

− <strong>Der</strong> natürli<strong>ch</strong>e Leseprozess geht von dem Verstandenen aus, um das Ni<strong>ch</strong>tverstandene zu ers<strong>ch</strong>ließen,<br />

und geht ni<strong>ch</strong>t umgekehrt vor. Dieses Vorgehen wird dur<strong>ch</strong> die Theorie des Textverstehens gestützt<br />

(konstruktivistis<strong>ch</strong>es Verständnis).<br />

− Lehrbu<strong>ch</strong>texte sind in der Regel ho<strong>ch</strong> verdi<strong>ch</strong>tet und können ni<strong>ch</strong>t weiter kompr<strong>im</strong>iert werden. „Lest<br />

den Text und fasst ihn in Kernaussagen zusammen.“ Ein sol<strong>ch</strong>er Arbeitsauftrag überfordert den Lerner<br />

und sogar man<strong>ch</strong>en Experten.<br />

− Eine Textproduktion in Form einer Zusammenfassung ist bekanntermaßen eine besonders anspru<strong>ch</strong>s-­‐<br />

volle Aufgabenstellung und ohne begleitende bzw. vorbereitende Unterstützung eine Überforderung.<br />

Strategie 10: Das Fünf-­‐Phasen-­‐S<strong>ch</strong>ema anwenden<br />

Das Fünf-­‐Phasen-­‐S<strong>ch</strong>ema ist ein bewährtes Texters<strong>ch</strong>ließungsverfahren und nutzt viele der vorangehenden<br />

Strategien als Teilstrategien. Es ist ein umfangrei<strong>ch</strong>es Ers<strong>ch</strong>ließungsverfahren, das komplett auf eigenstän-­‐<br />

dige Erarbeitung abzielt. Dazu werden den Lernenden Lesehilfen in Form einer Anleitung bereitgestellt.<br />

Das Fünf-­‐Phasen-­‐S<strong>ch</strong>ema beginnt <strong>mit</strong> einer vorbereitenden Orientierung (orientierendes Lesen – sk<strong>im</strong>-­‐<br />

ming), gefolgt vom Aufsu<strong>ch</strong>en von Verstehensinseln (extensives Lesen und selektives Lesen). Im zentralen<br />

dritten S<strong>ch</strong>ritt werden inhaltli<strong>ch</strong>e Details ers<strong>ch</strong>lossen (intensives Lesen). Im vierten S<strong>ch</strong>ritt wird der Text<br />

reflektiert und in das Wissensnetz eingebunden. Im fünften und letzten S<strong>ch</strong>ritt wird das Verstandene über-­‐<br />

prüft. Das Fünf-­‐Phasen-­‐S<strong>ch</strong>ema ist so<strong>mit</strong> die Standardform des zyklis<strong>ch</strong>en Lesens.<br />

− Dem Fünf-­‐Phasen-­‐S<strong>ch</strong>ema liegen folgende Prinzipien zu Grunde:<br />

o Das verstehende Lesen wird dur<strong>ch</strong> ein orientierendes Lesen vorbereitet (vom orientierenden<br />

zum verstehenden Lesen).<br />

Josef Leisen 8


o <strong>Der</strong> Lerner wird zum mehrfa<strong>ch</strong>en, zyklis<strong>ch</strong>en Bearbeiten des Textes unter <strong>im</strong>mer neuen und<br />

anderen Gesi<strong>ch</strong>tspunkten geführt und verführt (Prinzip der zyklis<strong>ch</strong>en Bearbeitung).<br />

o Es wird niemals gefragt „Was verstehst du ni<strong>ch</strong>t?“ Stattdessen wird <strong>im</strong>mer von dem ausge-­‐<br />

gangen, was der Lerner s<strong>ch</strong>on versteht (Verstehensinseln su<strong>ch</strong>en und davon ausgehen).<br />

o <strong>Der</strong> Lerner übersetzt den Text in eine andere Darstellungsform (We<strong>ch</strong>sel der Darstellungs-­‐<br />

form).<br />

o <strong>Der</strong> Lerner reflektiert den Text und su<strong>ch</strong>t den roten Faden (Textreflexion).<br />

− <strong>Der</strong> Lerner sollte am Ende eine Gliederung, ein Strukturdiagramm, eine Tabelle, ein Flussdiagramm,<br />

eine kommentierte Bildfolge oder eine andere Darstellungsformen an der Hand haben, wo<strong>mit</strong> er losge-­‐<br />

löst vom Ursprungstext eine eigene Textproduktion erstellen kann. Die Textproduktion gehört zum<br />

Anspru<strong>ch</strong>svollsten des <strong>Fa<strong>ch</strong>unterri<strong>ch</strong>t</strong>s und ist ohne Zwis<strong>ch</strong>enstufe selten erfolgrei<strong>ch</strong>.<br />

− Bei der Erstellung der Leseanleitung na<strong>ch</strong> dem Fünf-­‐Phasen-­‐S<strong>ch</strong>ema muss zunä<strong>ch</strong>st der dritte S<strong>ch</strong>ritt<br />

festgelegt werden: Mit wel<strong>ch</strong>er Strategie kann der Text detailliert gelesen werden? Diese Strategie<br />

muss in den ersten beiden S<strong>ch</strong>ritten vorbereitet und in den letzten beiden S<strong>ch</strong>ritten fortgeführt wer-­‐<br />

den. Andernfalls behindern si<strong>ch</strong> die Strategien unter Umständen gegenseitig.<br />

4. Zwanzig Leseübungen für das intensive Lesen von <strong>Sa<strong>ch</strong>texten</strong><br />

Na<strong>ch</strong> Abb. 1 sind die Leseübungen der zweite Teil des offensiven <strong>Umgang</strong>s <strong>mit</strong> Texten. Leseübungen sollen<br />

den Lernern in erster Linie Erfolgserlebnisse <strong>im</strong> <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> Texten ermögli<strong>ch</strong>en. Dieses Ziel kann au<strong>ch</strong><br />

dur<strong>ch</strong> Leseübungen errei<strong>ch</strong>t werden, sofern die Übungen na<strong>ch</strong> dem Prinzip der kalkulierten Überforderung<br />

das „passende“ Anspru<strong>ch</strong>sniveau haben.<br />

Eine Leseübung ist eine Übung, bei der Texters<strong>ch</strong>ließung, also das Verstehen des jeweiligen Textes <strong>im</strong> Vor-­‐<br />

dergrund steht. Dabei wird das Leseverstehen dur<strong>ch</strong> die Anwendung unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>er Lesestrategien oder<br />

Lesekompetenzen <strong>im</strong> Sinne eines Methoden-­‐ oder Kompetenztrainings geübt und fördert. Denn ebenso,<br />

wie in einem Fa<strong>ch</strong> Inhalte und Methoden geübt werden müssen, müssen au<strong>ch</strong> Lesestrategien und Lese-­‐<br />

kompetenzen geübt werden. <strong>Der</strong>artige Übungen dienen oft der Vorentlastung des Lesetextes. Wann aber<br />

ist eine Übung „nur“ eine Leseübung (zur Verbesserung des Textverstehens) und wann übt sie eine Le-­‐<br />

sestrategie (verbessert also die Kompetenz zur Texters<strong>ch</strong>ließung)? Beispiele für Leseübungen sind:<br />

− Lückentexte (s<strong>ch</strong>ulen das selektive Lesen/Scanning);<br />

− zers<strong>ch</strong>nittene Texte (fördern das Erkennen der Kohärenz);<br />

− das Zuordnen von Bildern (fördert die Text-­‐Bild-­‐Lektüre).<br />

Wenn hingegen Lesestrategien geübt werden, ist die Strategie und ni<strong>ch</strong>t das Verstehen des vorliegenden<br />

Textes der eigentli<strong>ch</strong>e Lerngegenstand. Mit Leseübungen können zudem Lesestrategien so geübt oder<br />

angelegt werden, dass spezifis<strong>ch</strong>e Lesekompetenzen trainiert werden. Dabei können si<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e Übungen<br />

beispielsweise gezielt den spezifis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>wierigkeiten widmen, die bei Lernern <strong>mit</strong> Migrationshintergrund<br />

häufig auftreten.<br />

Lerner <strong>mit</strong> Migrationshintergrund können „normale“ – also für mutterspra<strong>ch</strong>ig deuts<strong>ch</strong>e Lerner dur<strong>ch</strong>aus<br />

geeignete – Lesehilfen und Lesestrategien oft ni<strong>ch</strong>t <strong>im</strong> gewüns<strong>ch</strong>ten Maße nutzen, weil sie bereits vorher<br />

stolpern. Für sie sind Vorentlastungen und einfa<strong>ch</strong>e Leseübungen besonders wi<strong>ch</strong>tig, da diese gezielt Hilfen<br />

zur Bewältigung der Verstehensprobleme be<strong>im</strong> Lesen bieten.<br />

Zehn einfa<strong>ch</strong>e Leseübungen<br />

1. Wörter su<strong>ch</strong>en: Die Wörter einer vorgegebenen Wortliste <strong>im</strong> Text wieder finden und unterstrei<strong>ch</strong>en<br />

2. Textlücken ausfüllen: Die <strong>im</strong> Text vorgegebenen Lücken ausfüllen<br />

3. Textänderungen verglei<strong>ch</strong>en: Zwei fast wortglei<strong>ch</strong>e Texte <strong>mit</strong>einander verglei<strong>ch</strong>en und Unters<strong>ch</strong>iede<br />

erkennen<br />

4. Zei<strong>ch</strong>nungen und Bilder bes<strong>ch</strong>riften: Zei<strong>ch</strong>nungen und Bilder <strong>mit</strong> den Begriffen aus dem Text bes<strong>ch</strong>riften<br />

und ergänzen<br />

5. Textpuzzle bearbeiten: Verwürfelte Sätze <strong>im</strong> Text wieder finden und unterstrei<strong>ch</strong>en oder den Text wie-­‐<br />

der herstellen<br />

Josef Leisen 9


6. Informationen su<strong>ch</strong>en: Explizite <strong>im</strong> Text angegebene Informationen su<strong>ch</strong>en und herauss<strong>ch</strong>reiben<br />

7. Satzhälften zusammenfügen: Vorgegebene Satzhälften zusammenfügen<br />

8. Ri<strong>ch</strong>tigkeit überprüfen: Aussagen oder vorgegebene Informationen <strong>mit</strong> Hilfe des Textes auf Ri<strong>ch</strong>tigkeit<br />

überprüfen<br />

9. Sätze aussu<strong>ch</strong>en: Aus einer Auswahl von Sätzen einen inhaltli<strong>ch</strong> passenden heraussu<strong>ch</strong>en und einfügen<br />

10. Übers<strong>ch</strong>riften zuordnen: Vorgegebene Zwis<strong>ch</strong>enübers<strong>ch</strong>riften Textpassagen zuordnen.<br />

Diese einfa<strong>ch</strong>en Leseübungen sind an fast allen Texten dur<strong>ch</strong>führbar. Sie dienen in erster Linie dazu, das<br />

Detail-­‐ und Spra<strong>ch</strong>verstehen zu üben. In allen Übungen geht in erster Linie darum, S<strong>ch</strong>ülern <strong>im</strong> <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong><br />

Texten Erfolgserlebnisse zu ermögli<strong>ch</strong>en. Dazu sind Leseübungen geeignet, vorausgesetzt sie treffen das<br />

passende Anspru<strong>ch</strong>sniveau. Die Übungen sind für S<strong>ch</strong>üler <strong>mit</strong> s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en Deuts<strong>ch</strong>kenntnissen – z.B. S<strong>ch</strong>ü-­‐<br />

ler <strong>mit</strong> Migrationshintergrund -­‐ geeignet.<br />

Zehn anspru<strong>ch</strong>svolle Leseübungen<br />

Die folgenden Leseübungen sind anspru<strong>ch</strong>svoll und sind ni<strong>ch</strong>t an allen Texten dur<strong>ch</strong>führbar. Die Übungen<br />

11 -­‐ 15 trainieren das textbezogene Interpretieren. Die Übungen 16 – 20 trainieren das Reflektieren und Be-­‐<br />

werten. Ni<strong>ch</strong>t alle Übungen sind für s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e Leser und für S<strong>ch</strong>üler <strong>mit</strong> Migrationshintergrund geeignet.<br />

11. Bildübers<strong>ch</strong>riften formulieren: Zu selbst erstellten oder vorgegebenen Bildern Übers<strong>ch</strong>riften formulie-­‐<br />

ren<br />

12. Darstellungsformen ausfüllen: Vorgegebene Darstellungsformen (Tabelle, Diagramm, Grafik, Bild etc.)<br />

<strong>mit</strong> Textinformationen füllen<br />

13. Fragen beantworten: Fragen zu Informationen <strong>im</strong> Text beantworten<br />

14. Fragen stellen: Selbst Fragen zu Informationen <strong>im</strong> Text stellen<br />

15. Sätze beri<strong>ch</strong>tigen: Lei<strong>ch</strong>t veränderte Sätze Text basiert beri<strong>ch</strong>tigen<br />

16. Vers<strong>ch</strong>iedene Texte verglei<strong>ch</strong>en: Informationen <strong>im</strong> Text Satz für Satz <strong>mit</strong> denen in einem anderen Text<br />

verglei<strong>ch</strong>en<br />

17. Text-­‐Bild-­‐Informationen verglei<strong>ch</strong>en: Informationen <strong>im</strong> Text und in den Bildern verglei<strong>ch</strong>en und markie-­‐<br />

ren<br />

18. Begriffe zuordnen: Vorgegebene synonyme oder ergänzende Begriffe, die ni<strong>ch</strong>t <strong>im</strong> Text enthalten sind,<br />

den Textteilen zuordnen<br />

19. S<strong>ch</strong>lüsse ziehen: Aus einer Tabelle, Grafik, Bild etc. Informationen entnehmen und eine S<strong>ch</strong>lussfolgerung<br />

formulieren<br />

20. Situationsbezogen interpretieren: Vorgegebene Situationen <strong>mit</strong> Textaussagen reflektieren und zuord-­‐<br />

nen.<br />

5. Vereinfa<strong>ch</strong>ung und Opt<strong>im</strong>ierung von <strong>Sa<strong>ch</strong>texten</strong><br />

Na<strong>ch</strong> Abb. 1 sind die Vereinfa<strong>ch</strong>ung und Opt<strong>im</strong>ierung Teil des defensiven <strong>Umgang</strong>s <strong>mit</strong> Texten. Wieso kann<br />

dur<strong>ch</strong> die Vereinfa<strong>ch</strong>ung und Opt<strong>im</strong>ierung eines Sa<strong>ch</strong>textes das Lesen gefördert werden? Ist eine generelle<br />

und ungezielte Vereinfa<strong>ch</strong>ung von <strong>Sa<strong>ch</strong>texten</strong> ni<strong>ch</strong>t grundsätzli<strong>ch</strong> abzulehnen und stattdessen die Bedeu-­‐<br />

tung einer mögli<strong>ch</strong>st selbstständigen, dur<strong>ch</strong> Lesehilfen und Lesestrategien unterstützten Textbearbeitung<br />

als vordringli<strong>ch</strong>es Ziel der Leseförderung hervorzuheben? Diese Feststellung ist ri<strong>ch</strong>tig. Aber man<strong>ch</strong>e Texte<br />

sind für Lerner so s<strong>ch</strong>wer, dass sie selbst <strong>mit</strong> Lesestrategien und beigefügten Hilfen ni<strong>ch</strong>t zu bewältigen<br />

sind. Die Lehrkraft muss sol<strong>ch</strong>e Texte dann dem Könnensniveau der Lerner anpassen und sie ggf. vereinfa-­‐<br />

<strong>ch</strong>en oder einen ganz neuen Text s<strong>ch</strong>reiben. Andernfalls besteht die Gefahr, dass Lerner Misserfolgserleb-­‐<br />

nissen ausgesetzt werden, die si<strong>ch</strong> <strong>im</strong>mer fatal auf das Könnensbewusstsein auswirken. Misserfolge kön-­‐<br />

nen Leser sogar in eine Negativspirale bringen, <strong>mit</strong> der Folge, dass si<strong>ch</strong> gerade spra<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e Lerner<br />

<strong>Sa<strong>ch</strong>texten</strong> gegenüber gänzli<strong>ch</strong> verweigern.<br />

Ob eine Textvereinfa<strong>ch</strong>ung vorgenommen werden muss oder ni<strong>ch</strong>t, hängt ents<strong>ch</strong>eidend von der didakti-­‐<br />

s<strong>ch</strong>en Zielsetzung der Lehrkraft ab. Den vereinfa<strong>ch</strong>ten Text an si<strong>ch</strong>, ohne Bezug auf den Leser und ohne<br />

Bezug auf die didaktis<strong>ch</strong>e Absi<strong>ch</strong>t, gibt es so<strong>mit</strong> ni<strong>ch</strong>t. So kann es dur<strong>ch</strong>aus Bestandteil der Aufgabenstel-­‐<br />

lung sein, dass si<strong>ch</strong> Lerner dur<strong>ch</strong> einen ni<strong>ch</strong>t vereinfa<strong>ch</strong>ten Text „dur<strong>ch</strong>beißen“ müssen – sofern beispiels-­‐<br />

weise die Ers<strong>ch</strong>ließung authentis<strong>ch</strong>er Texte das Lernziel ist. Hingegen muss eine Textvereinfa<strong>ch</strong>ung vorge-­‐<br />

nommen werden, wenn die Lektüre eines erklärenden Sa<strong>ch</strong>textes fa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es Verstehen bewirken soll, die-­‐<br />

Josef Leisen 10


ses Ziel aber ohne Vereinfa<strong>ch</strong>ung an den aus dem Text resultierenden S<strong>ch</strong>wierigkeiten s<strong>ch</strong>eitern würde.<br />

Problematis<strong>ch</strong> sind Textvereinfa<strong>ch</strong>ungen aber allemal. Denn zumeist entfernt man si<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong> von der<br />

Fa<strong>ch</strong>spra<strong>ch</strong>e <strong>im</strong> engeren Sinne und baut u.U. neue Texts<strong>ch</strong>wierigkeiten ein; in jedem Fall erhöht man den<br />

Spra<strong>ch</strong>-­‐ und den Textumfang. Wel<strong>ch</strong>e Form der Vereinfa<strong>ch</strong>ung sinnvoll ist, muss die Lehrkraft <strong>im</strong>mer <strong>im</strong><br />

Einzelfall und <strong>im</strong>mer <strong>im</strong> Hinblick auf die Zielsetzung, die didaktis<strong>ch</strong>e Absi<strong>ch</strong>t und den methodis<strong>ch</strong>en Auf-­‐<br />

wand ents<strong>ch</strong>eiden.<br />

Wel<strong>ch</strong>en Anforderungen müssen Texte genügen, da<strong>mit</strong> sie au<strong>ch</strong> bei spra<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en Lernern <strong>im</strong> Fa<strong>ch</strong>un-­‐<br />

terri<strong>ch</strong>t einsetzbar sind?<br />

− Die Texte sollten „anspre<strong>ch</strong>end“ sein, also die Lernenden als „Dialogpartner“ ernst nehmen;<br />

− Die Texte sollten ni<strong>ch</strong>t abs<strong>ch</strong>recken, sondern dur<strong>ch</strong> ihr spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es und inhaltli<strong>ch</strong>es Niveau angemessen<br />

herausfordern und beeindrucken;<br />

− Die Texte sollten ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> Länge und Detailrei<strong>ch</strong>tum verwirren und entmutigen;<br />

− Die Texte sollten ni<strong>ch</strong>t „exaltiert“ sein, also dur<strong>ch</strong> ihren Spra<strong>ch</strong>stil künstli<strong>ch</strong> und abstoßend wirken.<br />

Ni<strong>ch</strong>t jeder Lehrbu<strong>ch</strong>text ist für den Einsatz <strong>im</strong> Unterri<strong>ch</strong>t geeignet. Die Lehrkraft kann sol<strong>ch</strong>e „ungeeigne-­‐<br />

ten“ Texte aber denno<strong>ch</strong> einsetzen; sie muss diese dann nur vereinfa<strong>ch</strong>en oder den Zugang zu ihnen<br />

dadur<strong>ch</strong> erlei<strong>ch</strong>tern, indem sie die Texte auf das Spra<strong>ch</strong>vermögen der Leser zus<strong>ch</strong>neidet. Einen sol<strong>ch</strong>en<br />

„Zus<strong>ch</strong>nitt auf das Spra<strong>ch</strong>vermögen der Leser“ verdeutli<strong>ch</strong>t beispielhaft die Bearbeitung des na<strong>ch</strong>folgen-­‐<br />

den Textes zum Otto-­‐Motor. Dabei zeigen die eingestreuten Spre<strong>ch</strong>blasen, an wel<strong>ch</strong>en wi<strong>ch</strong>tigen Stellen<br />

und wie eine Vereinfa<strong>ch</strong>ung erfolgen kann:<br />

− den Leser un<strong>mit</strong>telbar anspre<strong>ch</strong>en und eine Fragehaltung erzeugen;<br />

− eine „Programmvors<strong>ch</strong>au“ geben;<br />

− Erklärungen eins<strong>ch</strong>ieben, <strong>mit</strong> „d.h.“ oder „z.B.“;<br />

− kurze Sätze bilden;<br />

− Ausdrucksformen, die der gespro<strong>ch</strong>enen Spra<strong>ch</strong>e nahe kommen (sogenannte Verbale) einsetzen;<br />

− bei denselben Begriffen bleiben und einen unnötigen Ausdruckswe<strong>ch</strong>sel vermeiden;<br />

− s<strong>ch</strong>wierige Wörter, Gedankengänge und Aussagen in den na<strong>ch</strong>folgenden Sätzen wiederholen;<br />

− Beispiele aus dem Erfahrungsberei<strong>ch</strong> des Lesers einbringen;<br />

− ergänzende Details an den S<strong>ch</strong>luss stellen;<br />

− ans<strong>ch</strong>auli<strong>ch</strong> argumentieren dur<strong>ch</strong> Anbindung an bekannte Gegenstände, Vorgänge, Ereignisse …;<br />

− dur<strong>ch</strong> Bilder unterstützen;<br />

− rhetoris<strong>ch</strong>e Fragen zum Mitdenken stellen;<br />

− den Text klar gliedern und zur Ausgangsfrage zurückkehren.<br />

Josef Leisen 11


Josef Leisen 12


Einer Lehrkraft bieten si<strong>ch</strong> vielfältige Mögli<strong>ch</strong>keiten, das Textverständnis der Lerner zu erlei<strong>ch</strong>tern. Dies<br />

erfolgt, indem sie in einen Text eingreift; z.B. dur<strong>ch</strong><br />

− Lesehinweise<br />

− Ergänzungen<br />

− oder gar die adressaten-­‐orientierte Neufassung des Textes.<br />

Alle diese Eingriffe sind aber ni<strong>ch</strong>t Selbstzweck, sondern dienen einzig und allein dazu, den Lese-­‐ und Lern-­‐<br />

prozess be<strong>im</strong> Lesenden zu opt<strong>im</strong>ieren. Deshalb sei erwähnt, dass einfa<strong>ch</strong>e Texte ni<strong>ch</strong>t zwingend au<strong>ch</strong> gute<br />

Texte sind. Denn Einfa<strong>ch</strong>heit ist ein Merkmal, aber kein Qualitätsurteil. Je na<strong>ch</strong> Lesesituation und Lesekom-­‐<br />

petenz des Lesers kann ein komplizierter Text sogar eine wertvolle Lerngelegenheit darstellen. Dies ist<br />

aber <strong>im</strong> Einzelfall zu prüfen. Denn ebenso, wie kompetente Leser an spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> wie inhaltli<strong>ch</strong> anspru<strong>ch</strong>svol-­‐<br />

len Texten wa<strong>ch</strong>sen, werden Leser <strong>mit</strong> unzurei<strong>ch</strong>ender Kompetenz daran verzweifeln. Vordringli<strong>ch</strong>es Ziel<br />

der Lehrkraft sollte es deshalb sein, Leser zu einer mögli<strong>ch</strong>st hohen Lesekompetenz <strong>im</strong> eigenständigen<br />

<strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> ni<strong>ch</strong>t vereinfa<strong>ch</strong>ten Texten zu bringen, so unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong> am Ende die dann individuell ent-­‐<br />

standene Lesekompetenz au<strong>ch</strong> sein mag.<br />

Wel<strong>ch</strong>e Konsequenzen müssen daraus für das Leseverstehen gezogen werden? Hierzu sollte si<strong>ch</strong> die Lehr-­‐<br />

kraft zunä<strong>ch</strong>st vor Augen halten, dass es si<strong>ch</strong> bei der Textvereinfa<strong>ch</strong>ung um eine defensive Strategie han-­‐<br />

delt. Da es den vereinfa<strong>ch</strong>ten Text an si<strong>ch</strong> – also ohne Bezug auf den Leser und die didaktis<strong>ch</strong>e Absi<strong>ch</strong>t –<br />

ni<strong>ch</strong>t gibt, wird jede Textvereinfa<strong>ch</strong>ung <strong>mit</strong> didaktis<strong>ch</strong>en Na<strong>ch</strong>teilen erkauft. <strong>Der</strong> Einsatz vereinfa<strong>ch</strong>ter Tex-­‐<br />

te anstelle eines Originaltextes bedarf deshalb <strong>im</strong> Einzelfall <strong>im</strong>mer abwägender Überlegungen. Es kann<br />

ni<strong>ch</strong>t Aufgabe einer Lehrkraft sein, Texte für die Lerner um-­‐ oder gar neu zu s<strong>ch</strong>reiben; dies muss die Aus-­‐<br />

nahme sein und bleiben. Ziel sollte vielmehr sein, die Lerner <strong>im</strong> <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> Texten so zu trainieren, dass<br />

diese in die Lage versetzt werden, au<strong>ch</strong> <strong>mit</strong> spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> und inhaltli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>wierigeren Texten „fertigzuwer-­‐<br />

den“.<br />

Das aber kann nur gelingen, wenn ihnen au<strong>ch</strong> spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> und fa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> anspru<strong>ch</strong>svolle Texte „zugemutet“<br />

werden. Allerdings müssen die Lerner dann au<strong>ch</strong> – wie an dem obigen Beispiel detailliert erläutert – dur<strong>ch</strong><br />

entspre<strong>ch</strong>ende Strategien und Übungen in ihrer Kompetenz ges<strong>ch</strong>ult und gefördert werden, si<strong>ch</strong> diese<br />

s<strong>ch</strong>wereren Texte zu ers<strong>ch</strong>ließen. Lehrbu<strong>ch</strong>texte werden heute leider no<strong>ch</strong> viel zu selten <strong>im</strong> Unterri<strong>ch</strong>t<br />

eingesetzt, obwohl sie dur<strong>ch</strong>aus geeignet sind, das Leseverständnis zu fördern. Dies gilt selbst dann, wenn<br />

die Lesekompetenz der Lerner ni<strong>ch</strong>t dazu ausrei<strong>ch</strong>t, den Text auf Anhieb zu verstehen. Denn Verstehens-­‐<br />

probleme sind au<strong>ch</strong> Lerngelegenheiten, die die Lerner herausfordern. Lehrkräfte sollten sie nutzen, um die<br />

Lerner anzuregen, si<strong>ch</strong> <strong>mit</strong> den Inhalten auseinanderzusetzen. Dazu ist erforderli<strong>ch</strong>, dass die Lehrkraft ins-­‐<br />

besondere spra<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en Lernern hilft, diesen also Verstehenshilfen bereitstellt. Ganz nebenbei werden<br />

die Lerner auf diese Weise zuglei<strong>ch</strong> <strong>mit</strong> der Fa<strong>ch</strong>spra<strong>ch</strong>e vertraut und benutzen sie zunehmend au<strong>ch</strong> selbst.<br />

Eine zusätzli<strong>ch</strong>e Unterstützung kann darstellen, dass der Text <strong>im</strong> Lehrbu<strong>ch</strong> eine Struktur hat, das Wissen<br />

geordnet darbietet und jederzeit zugängli<strong>ch</strong> ist. Diese Überlegungen gelten natürli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t für Texte, die<br />

derart ungeeignet sind, dass weder eine Texters<strong>ch</strong>ließung no<strong>ch</strong> eine Textvereinfa<strong>ch</strong>ung angebra<strong>ch</strong>t ist. In<br />

diesen Fällen wird die Lehrkraft einen geeigneten Text entwerfen müssen, also einen, der auf die jeweilige<br />

Lesergruppe passt. Dabei sollte sie darauf a<strong>ch</strong>ten, den ursprüngli<strong>ch</strong>en Text ni<strong>ch</strong>t zu „vers<strong>ch</strong>l<strong>im</strong>mbessern“.<br />

Passende Lehrbu<strong>ch</strong>texte <strong>mit</strong> entspre<strong>ch</strong>enden Leseaufgaben steuern unterri<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Lernprozesse. Lehr-­‐<br />

kräfte in Deuts<strong>ch</strong>land nehmen aber den Unterri<strong>ch</strong>t leider <strong>im</strong>mer no<strong>ch</strong> lieber selbst (frontal) in die Hand,<br />

statt ihn dem Lehrbu<strong>ch</strong> zu überlassen. Sie sind häufig überzeugt, dass die Lerner <strong>mit</strong> dem Text ni<strong>ch</strong>t klar-­‐<br />

kommen werden. Zudem gehen sie davon aus, dass es zum Wohle der Klasse sei, wenn sie als Lehrkraft den<br />

Lernern das Wissen selbst ver<strong>mit</strong>teln. Außerdem müsse man den Lernern am S<strong>ch</strong>luss ja do<strong>ch</strong> wieder alles<br />

erklären – dann könne es die Lehrkraft au<strong>ch</strong> glei<strong>ch</strong> selbst vortragen. Bei dieser Form des Unterri<strong>ch</strong>ts jedo<strong>ch</strong><br />

können Lerner kein Vertrauen in ihre Fähigkeit entwickeln, si<strong>ch</strong> Sa<strong>ch</strong>texte eigenständig zu ers<strong>ch</strong>ließen. Und<br />

wie sollen sie die selbstständige Ers<strong>ch</strong>ließung von <strong>Sa<strong>ch</strong>texten</strong> lernen, wenn ihnen die Gelegenheiten dazu<br />

vorenthalten werden?<br />

Josef Leisen 13


6. Einfa<strong>ch</strong>e Sa<strong>ch</strong>texte und alternative Texte<br />

Warum s<strong>ch</strong>wierige Sa<strong>ch</strong>texte lesen, wenn es au<strong>ch</strong> einfa<strong>ch</strong>e gibt? Die Frage kann nur <strong>mit</strong> der „Passung“<br />

beantwortet werden. Leser und Text müssen zusammenpassen. Sa<strong>ch</strong>texte, die inhaltli<strong>ch</strong> und spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />

überfordern, sind genau so ungeeignet, wie sol<strong>ch</strong>e, die unterfordern. Wenn Leser und Text zusammenpas-­‐<br />

sen, bewältigt der Leser die <strong>mit</strong> dem Text verbundenen S<strong>ch</strong>wierigkeiten, nutzt den Text, um Informationen<br />

zu entnehmen, Sinn zu konstruieren und um mentale S<strong>ch</strong>emata <strong>im</strong> (fa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en) Begriffsgefüge auszubauen.<br />

Wenn der Leseerfolg infrage gestellt ist, sollte ein passender einfa<strong>ch</strong>er Sa<strong>ch</strong>text genutzt werden. Die<br />

Textvereinfa<strong>ch</strong>ung kann für die Lehrkraft dur<strong>ch</strong>aus aufwändig sein.<br />

Die Integration alternativer Texte, z.B. authentis<strong>ch</strong>e Texte (Anleitungen, Anzeigen, Gebrau<strong>ch</strong>stexte, Na<strong>ch</strong>-­‐<br />

ri<strong>ch</strong>ten, Kataloge), Sa<strong>ch</strong>-­‐ und Fa<strong>ch</strong>magazine, Wissensbü<strong>ch</strong>er, Na<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>lagewerke und Lexika, populärwis-­‐<br />

sens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Veröffentli<strong>ch</strong>ungen, Biographien und Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten, Wissens<strong>ch</strong>aftsromane, Online-­‐Artikel und<br />

Forumsbeiträge, u.ä. in den naturwissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Unterri<strong>ch</strong>t hat keine Tradition. Authentis<strong>ch</strong>e Texte<br />

werden gelegentli<strong>ch</strong> in Arbeitsblätter <strong>mit</strong> Arbeitsaufträgen integriert. Na<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>lagewerke werden für Refe-­‐<br />

ratvorbereitungen genutzt; zunehmend und fast nur no<strong>ch</strong> online (Wikipedia). Ganzs<strong>ch</strong>riften haben <strong>im</strong> na-­‐<br />

turwissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Unterri<strong>ch</strong>t keine Tradition und bleiben der privaten Lektüre überlassen. Eine Didaktik<br />

naturwissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er Ganzs<strong>ch</strong>riften ist ein Desiderat.<br />

Literatur<br />

Berts<strong>ch</strong>i-­‐Kaufmann (Hrsg.): Lesekompetenz – Leseleistung – Leseförderung. Grundlagen, Modelle und Materialien. Seelze-­‐<br />

Velber: Kallmeyer 2007<br />

Leisen, Josef: Muss i<strong>ch</strong> jetzt au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> Spra<strong>ch</strong>e unterri<strong>ch</strong>ten? Spra<strong>ch</strong>e und Physikunterri<strong>ch</strong>t. Naturwissens<strong>ch</strong>aften <strong>im</strong> Unter-­‐<br />

ri<strong>ch</strong>t – Physik 3 (2005), S. 4–9<br />

Leisen, Josef: Lesen und Verstehen lernen. Strategien und Prinzipien zur Arbeit <strong>mit</strong> <strong>Sa<strong>ch</strong>texten</strong> <strong>im</strong> Unterri<strong>ch</strong>t. PÄDAGOGIK 6<br />

(2007), S. 11–15<br />

Leisen, Josef (2010): Leseverstehen und Leseförderung in den Naturwissens<strong>ch</strong>aften. In: Spra<strong>ch</strong>e, Mathematik und Naturwis-­‐<br />

sens<strong>ch</strong>aften. Hrsg. von G. Fenkart, A. Lembens u. E. Erla<strong>ch</strong>er-­‐Zeitlinger. Innsbruck, Wien, Bozen: Studienverlag, S. 212-­‐231<br />

Leisen, Josef: Handbu<strong>ch</strong> Spra<strong>ch</strong>förderung <strong>im</strong> Fa<strong>ch</strong> -­‐ Spra<strong>ch</strong>sensibler <strong>Fa<strong>ch</strong>unterri<strong>ch</strong>t</strong> in der Praxis. Bonn: Varus 2010<br />

Leisen, Josef (Hrsg.): Physiktexte lesen und verstehen. Naturwissens<strong>ch</strong>aften <strong>im</strong> Unterri<strong>ch</strong>t – Physik 5 (2006)<br />

Studienseminar Koblenz (Hrsg.): Sa<strong>ch</strong>texte lesen <strong>im</strong> <strong>Fa<strong>ch</strong>unterri<strong>ch</strong>t</strong> der Sekundarstufe. Seelze-­‐Velber: Kallmeyer–Klett 2009<br />

Autor<br />

Prof. Josef Leisen, Leiter des Studienseminar Gymnasien in Koblenz und Professor für Didaktik der Physik<br />

an der Universität Mainz<br />

Ans<strong>ch</strong>rift: Staatli<strong>ch</strong>es Studienseminar, Emil-­‐S<strong>ch</strong>üller-­‐Straße 12, 56068 Koblenz<br />

Mail: leisen@studienseminar-­‐koblenz.de<br />

Josef Leisen 14


Le contact avec les textes factuels dans l'enseignement disciplinaire<br />

Josef Leisen<br />

Chapeau<br />

Les textes factuels ont deux fonctions dans l’enseignement:<br />

1. Ils servent à l’enseignement de la matière dont ils traitent, donc ils constituent un matériau didac-­‐<br />

tique et une source de savoir pour l’apprentissage de cette matière et le développement d’une<br />

compétence spécifique.<br />

2. Ils constituent en eux-­‐mêmes un objet d’apprentissage, dans le sens qu’ils fournissent l’occasion et<br />

l’objet d’une séquence d’apprentissage linguistique et contribuent au développement des<br />

compétences en lecture et de la littératie.<br />

Le développement des compétences en lecture et de la littératie spécialisée exige une appro<strong>ch</strong>e spécifique<br />

des textes factuels dans l’enseignement des matières. Les apprenants doivent ainsi se familiariser avec des<br />

styles et des stratégies de lecture afin de pouvoir aborder le texte de manière satisfaisante. Il faut égale-­‐<br />

ment exercer l’acquis par des exercices de lecture afin de soutenir durablement la compétence en lecture.<br />

L’enseignant doit en outre décider quelle sorte de textes utiliser et dans quelle situation de lecture les<br />

proposer aux apprenants. Il doit avant tout tenir compte des représentations de l’apprentissage et de<br />

l’enseignement de la lecture afin de bien mettre à profit le temps d’apprentissage. La re<strong>ch</strong>er<strong>ch</strong>e en matière<br />

de lecture et les théories de l’apprentissage mettent ici en lumière des principes bien établis.<br />

Mots-­‐clés<br />

situations de lecture, stratégies de lecture, appro<strong>ch</strong>e des textes factuels dans l’enseignement, s<strong>im</strong>plificati-­‐<br />

on de textes, opt<strong>im</strong>isation de textes<br />

Dieser Beitrag wurde in der Nummer 3/2012 von leseforum.<strong>ch</strong> veröffentli<strong>ch</strong>t.<br />

Josef Leisen 15

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