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Mut und Liebe 422022 Wurzeln

"...In unseren Schuhen tragen wir unsere Heimat mit uns, unsere Wurzeln, auch unbewusst als spürbares Erbe." (Petra Maria Mühl aka Mia Pelenco). Erinnerung, Wurzeln und Heimat/Heimatlosigkeit sind Themen der Offenbacher Künstlerin Petra Maria Mühl. Das Foto ihrer Installation „kein ort. weiter weg“ auf unserem Titel zeigt Tanzschuhe der 1920er, mit Einlagen aus Landkarten von Böhmen und auf der umgebenden Folie die Handschrift ihrer Großmutter.

"...In unseren Schuhen tragen wir unsere Heimat mit uns, unsere Wurzeln, auch unbewusst als spürbares Erbe." (Petra Maria Mühl aka Mia Pelenco).
Erinnerung, Wurzeln und Heimat/Heimatlosigkeit sind Themen der Offenbacher Künstlerin Petra Maria Mühl. Das Foto ihrer Installation „kein ort.
weiter weg“ auf unserem Titel zeigt Tanzschuhe der 1920er, mit Einlagen aus
Landkarten von Böhmen und auf der umgebenden Folie die Handschrift
ihrer Großmutter.

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MUT&LIEBE / THEMA /<br />

mia pelenco Bildende Kunst // Grafik //<br />

Text // Atelier Kunstkaiser<br />

Rheinland, Schweiz, 1988–2006 Offenbach-<br />

City, Spanien, seit 2011 Offenbach-Dorf<br />

... angekommen!<br />

Meine Großmutter empfand sich selbst zeitlebens<br />

als österreichisch-ungarisch, <strong>und</strong> sie vermisste an<br />

diesem Ort noch jahrzehntelang ihre Berge aus dem<br />

Riesengebirge. „So viel Wasser <strong>und</strong> so flach.“ Dabei<br />

nennt sich diese Gegend Holsteinische Schweiz,<br />

wegen der Hügel. Die gingen bei ihr aber als solche<br />

nicht durch.<br />

Ich stellte ihr viele Fragen über unser „wirkliches“ Zuhause,<br />

von dem meine Eltern immer sprachen. Für<br />

sie blieb der Begriff „Heimat“ bloß Sehnsuchtsort.<br />

Unwiederbringlich.<br />

Den Geschichten „von damals“ meiner Großmutter<br />

hörte ich gebannt zu, die nichts verklärten, sondern<br />

ein lebhaftes Bild in meinem Kopf erschufen, in dem<br />

meine Verwandten <strong>und</strong> Vorfahren zu Hauptdarstellern<br />

wurden. So entstand während dieser Erzählungen<br />

in meiner Phantasie „mein eigenes Dorf“ <strong>und</strong><br />

eine Vorstellung davon, woher ich komme.<br />

Die dazugehörige böhmische Küche wurde für mich<br />

zu einem köstlichen Stück Realität dieser erzählten<br />

Welt. Meine Großmutter war eine grandiose Köchin.<br />

Sie beherrschte die Kunst des Apfelstrudelbackens,<br />

wo der Teig so lange freihändig in der Luft gezogen<br />

werden muss, bis man hindurchsehen kann. Außerdem<br />

riesige böhmische Semmelknödel, in Scheiben<br />

geschnitten <strong>und</strong> in dicken Soßen schwimmend,<br />

Buchteln mit Vanillesoße, Suppen, die ab dem Vormittag<br />

schon köchelten <strong>und</strong> ihre Aromen im Haus<br />

verströmten, Pflaumenknödel auf Pflaumenröster,<br />

Streuselkuchen mit Mohn, Vanillekipferl, Powidltascherln,<br />

Panierte Wiener Schnitzel mit einem Holzgerät<br />

vorher millimeterdünn gedrückt, Grüner Salat<br />

mit süß-saurer Vinaigrette, Sacher Torte nach dem<br />

Rezept ihrer Cousine, die im Wiener Hotel Sacher<br />

backte.<br />

MÄRZ / APRIL / MAI 2022<br />

Es wurde üppig aufgefahren, wenn sich im Sommer<br />

ihre Kinder mit Familien bei ihr trafen. Da wurde geschlemmt,<br />

geraucht <strong>und</strong> getrunken, hitzige Debatten<br />

geführt, es war laut <strong>und</strong> es klang anders als anderswo.<br />

Mein Vater <strong>und</strong> seine Geschwister sprechen<br />

eine böhmische M<strong>und</strong>art mit tschechischen, österreichischen<br />

<strong>und</strong> jiddischen Einsprengseln – egal ob<br />

man schimpft oder lobt, es klingt immer weich <strong>und</strong><br />

fre<strong>und</strong>lich! Eine weitere Sprache, die ich verstehe,<br />

aber leider nicht spreche. Bald wird sie niemand<br />

mehr aus der großen Familie können. Ein großer<br />

Teil schnackt nun Plattdütsch – noch ein Dialekt, der<br />

mich mit einer Landschaft verbindet, hier mit den<br />

Seen, den Knicks <strong>und</strong> unendlichen Wolkenhimmeln<br />

der Ostsee.<br />

In meinen Schuhen trage ich böhmische, rheinländische<br />

<strong>und</strong> holsteinische Landkarten. Eine Kindheit<br />

zwischen Rübezahl <strong>und</strong> Reibekuchen. Direkt nach<br />

der Schulzeit machte ich mich auf meinen eigenen<br />

Weg, um einen Ort zu finden, den ich mein Zuhause<br />

nennen könnte. Nach tausenden von Kilometern<br />

war es wohl diese Mischung aus mir Vertrautem, was<br />

mich alles wiederfinden ließ, an einem Fleck in Offenbach,<br />

in einem Dorf, von dem aus ich euch jetzt<br />

berichte. Mein „Zu-Haus“, das ich mit meiner Handschrift<br />

immer mehr beschreibe, steht am Fluss, dort<br />

wo die Fähre übersetzt <strong>und</strong> mich die großen Binnenschiffe<br />

zurück in meine Kindheit tuckern. Das mit<br />

dem Hessisch babbele klappt auch schon ganz gut.<br />

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